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Eine Gruppe pensionierter Krimiliebhaberinnen trifft sich in einer kleinen Küstenstadt in Massachusetts wöchentlich zum Buchclub. Nebenbei sind die Rentnerinnen echten Mordfällen auf der Spur, bei welchen nicht nur natürliche Machenschaften zugange sind. Ein schräges, schrulliges und humorvolles Pen-and-Paper-Regelwerk von Jason Cordova.

Brindlewood Bay begleitet die Abenteuer einer Gruppe pensionierter Damen, deren Ehemänner längst gestorben und Kinder ausgezogen sind, und die nun ihren Lebensabend in einer pittoresken Kleinstadt in Massachusetts genießen. Jeden Samstag treffen sich die Seniorinnen zu ihrem liebsten Hobby: Krimis lesen. Namentlich die über ihre liebste Romanheldin Amanda Delacourt. In deren Fußstapfen treten sie auch immer wieder, indem sie echte Mordfälle lösen. Doch mit der Zeit wird klar, dass es kein Zufall ist, dass so viele Menschen um Bindlewood Bay ums Leben kommen und düsterere Mächte ihre Finger im Spiel haben.

Das Regelwerk vereint so Elemente von klassischem Murder Mystery, Vorabendserien und eldritch Horror.

Triggerwarnungen

Horror, Okkultismus, Tod, Mord

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Die Spielwelt

Die Spielwelt und -stimmung sind inspiriert von der Fernsehserie Mord ist ihr Hobby und ähnlichen US-amerikanischen Krimis und Serien aus den 70ern, 80ern und 90ern. Eine düsterere Note verleiht dem Ganzen der Lovecraft’sche Horror, der über den Lauf des Spiels immer mehr zum Vorschein kommt.

Die titelgebende Kleinstadt Brindlewood Bay ist der Schauplatz von unterschiedlichen Kriminalfällen. Die ehemalige Walfängerstadt liegt an der amerikanischen Ostküste und ist mittlerweile zu einem Touristenhotspot geworden.

In einer nicht genauer definierten Zeit (das Regelwerk deutet auf die Jetztzeit hin, durch die inspirationsgebenden Serien landete die Testrunde jedoch schnell in den ungefähren 90ern) treffen sich die Krimikennerinnen hier jeden Samstag, um sich über die neusten Abenteuer der Superdetektivin Amanda Delacourt auszutauschen.

Brindlewood Bay

Nicht nur zur Freude der örtlichen Polizei ist diese öfters auf die Hilfe der Omas angewiesen. Mit umso mehr Freude gehen die Damen an die Lösung der Mordfälle. Je länger sie jedoch forschen, desto mehr stolpern sie über übernatürliche Machenschaften, welche die Fälle verbinden. Langsam kommen sie auf die Spuren eines Kultes, der dem düsteren Aspekt der Göttin Persephone huldigt …

Die Spielwelt erwacht in wenigen Sätzen zum Leben. Nur schon bei dem Bild eines verschlafenen Küstenstädtchen geht die Fantasie schnell los. Die Spielwelt bedient sich und lebt von allen Serienklischees, die einem einfallen. Sie ist im Regelwerk zwar nur knapp und prägnant beschrieben, wächst jedoch im Lauf einer Spielrunde von allein mit, da eigentlich alle – entweder aus Medien oder dem eigenen Leben – einen Bezug zu den bespielten Themen haben.

Die Stimmung ist zum größten Teil – und besonders in den ersten paar Sessions – leicht und humorvoll, der unterliegende Abgrund kommt erst allmählich zum Vorschein. Durch den großen Kontrast wirkt er dafür umso düsterer.

Die Regeln

Die Regeln sind relativ übersichtlich und basieren auf dem Powered by the Apocalypse-System. Die Würfel beschränken sich auf W6. In den meisten Fällen werden 2W6 gewürfelt und mit dem Wert eines passenden Attributs addiert. Im Falle eines Vor- oder Nachteils werden von 3W6 entweder die beiden besseren oder schlechteren zusammengezählt. Resultate unter einer 7 scheitern, darüber wird der Wurf je nach Höhe mit oder ohne Komplikationen bestanden oder ist sogar so gut, dass die Spielenden einen extra Vorteil bekommen – oder etwas tiefer in den Abgrund schauen, als sie eigentlich wollten.

Als Spezialmechaniken können sogenannte Kronen aufgesetzt werden. Zum Beispiel kann mit der Krone der Königin eine Rückblende aus dem früheren Leben der Kennerin erzählt werden, um damit den Wurf zu verbessern.

Im Verlaufe einer Session – beziehungsweise eines Falles – werden so Hinweise gesammelt, um dann am Ende darauf zu würfeln, ob die aufgestellte Theorie stimmt und der oder die Schuldige überführt werden kann. Die Anzahl der gesammelten Hinweise verbessert hierbei den Wurf. Eine Eigenheit des Spiels: Die Lösung des Falles ergibt sich erst mit diesem finalen Wurf und ist nicht im Vorfeld festgelegt.

Alles in allem sind die Regeln sehr narrativ und belohnen kreative Spielideen oder den Mut, eine Szene zu erfinden. Sämtliche Spezialmechaniken sind auf einem Übersichtsblatt oder dem Charakterbogen zusammengefasst und können so einfach zu Rate gezogen werden.

Charaktererschaffung

Der Charakterbogen ist ziemlich übersichtlich und schnell ausgefüllt. Für Namen und Stil sind schon Ideen vorgegeben, es können jedoch auch eigene ausgesucht werden. So entsteht in kurzer Zeit die Hippie-Oma Giorgina oder die wind- und wetterfeste Doris.

Die einzigen Zahlenwerte auf dem Charakterbogen sind die Attribute, bei welchen auf Vitalität, Gemütsruhe, Verstand, Ausstrahlung und Gespür zu Beginn jeweils ein Wert von 0, 1 oder 2 zugeteilt wird. Diese werden zum Wurfresultat hinzugezählt.

Es gibt relativ viele Kennerinnenspielzüge, welche auf einer separaten Liste auszuwählen sind und jeweils von einer bestehenden Serie inspiriert sind. Hier zum Beispiel Michael Knight:

Michael Knight

Knight Rider (1982–1986)

Du hast ein zuverlässiges Transportmittel – einen übergroßen Sedan,

ein Motorrad, einen alten Truck – das Dich schon aus mehr als bloß

einer brenzligen Lage gerettet hat. Gib ihm einen Namen und füge es zu

Deinem Gemütlichen Zuhause hinzu. Wenn Du es benutzt, um einen

Vorteil zu erhalten, lasse es unangekreuzt.

Sobald diese jedoch einmal ausgewählt sind, ist kein großes Blättern mehr nötig. Auch alle Spezialfähigkeiten beziehungsweise Kronen-Spielzüge sind übersichtlich in den Charakterbogen integriert.

Das Regelwerk bindet die Charaktererschaffung in einer Schritt-für-Schritt-Anleitung schon so in die Spielrunde ein, um eine gemeinsame Stimmung zu schaffen. So hat zum Beispiel jede Kennerin ein Gemütliches Zuhause, eine Inventarliste mit Gegenständen, die pro Session zum einmaligen Gebrauch für einen Vorteil stehen. Dieses Zuhause wird von allen Mitspieler*innen füreinander aufgefüllt, anstatt alle nur für sich. Das bringt die Gruppe schon vor dem eigentlichen Beginn des Spieles zusammen.

Das Gemütliche Zuhause hilft in der Ermittlung.

Spielbarkeit aus Spielleitungssicht

Das Regelwerk nimmt auch die Spielleitung Schritt für Schritt an die Hand. Stimmungsvoll und übersichtlich wird beschrieben, wie ein Abenteuer aufgebaut ist und wie mit den vorgefertigten Fällen – von welchen einige im Buch inkludiert sind – umgegangen werden soll.

Ein spannender Ansatz ist hierbei, dass die Lösung der Fälle nicht vorgegeben ist. Es gibt einen Ort, einen kleinen Introtext und eine Frage zu dem Fall. Für den weiteren Verlauf der Session sind jedoch nur weitere Locations und eine Liste an Hinweisen vorgegeben.

Das löst das Problem, dass Spielende ohnehin nie das machen, was vorbereitet ist. Niemand muss in eine Richtung gerailroadet werden – Hinweise tauchen ganz einfach dort auf, wo die Spieler*innen hingehen, egal ob geplant oder nicht.

Je länger die Fälle gehen, desto komplizierter droht es jedoch auch für die Spielleitung zu werden. Auch wenn der Ausgang des Falles offen ist, so besteht dennoch die Schwierigkeit, dass sich NSCs in ihren eigenen Aussagen zum Beispiel nicht wiederholen und ihre Motivationen Sinn ergeben. Da vieles davon durch die offene Form im Moment entsteht, kann das auch nur bedingt vorbereitet werden. Hier lässt einen das Regelwerk etwas allein.

Ansonsten macht es Spaß, sich aller Krimitropes zu bedienen, die reiche Witwe extra arrogant zu zeigen und den Ortsdetektiv genervt, überfordert und doof. Auch die Mechaniken zum Abgrund und der okkulten Verschwörung funktionieren sehr gut und tauchen durch die Spielmechaniken (zum Beispiel ein „zu“ hoher Erfolg) ganz organisch auf. Aus einem heiteren Herumschnüffeln und lustigem Omaspiel auf einmal die düstere Musik zücken zu können und über die plötzlich modernden Fische oder die Stimmen aus der Tiefe zu erzählen, ist eine große Freude für die Spielleitung. 

Beispiel für eine Hinweisliste.

 

Spielbarkeit aus Spieler*innensicht

Durch das wenige Würfeln, ist auch von den Spieler*innen viel Kreativität verlangt. Die Charaktere sind durch das Regelwerk sehr spezifisch, man muss sich also auf das schrullige Omaleben einlassen, anstatt zu versuchen, einen Charakter zu erschaffen, der die Grenzen des Regelwerks auslotet. Durch die vielen Beispiele und Ideen findet man jedoch schnell in die Stimmung. Es macht Spaß, sich gemeinsam auf die Welt einzulassen und sowohl den Humor als auch den sich im Hintergrund öffnenden Abgrund mitzuspielen.

Durch den Stil, der auf dem Charakterbogen beschrieben wird, findet man schnell in einen Stereotypen und am Spieltisch tut sich bald eine Dynamik auf, auch wenn die Figuren noch nicht lange bespielt wurden.

Das Regelwerk ist gut geeignet für Anfänger*innen, da es keiner komplizierten Regelerklärungen bedarf und sich Klischees bedient, die alle kennen – egal ob man die inspirationsgebenden Serien kennt oder nicht.

Die einzige Gefahr, welche droht, ist, mit der offenen Lage der Geschichten überfordert zu sein. Durch den offenen Ausgang der Fälle, gibt es keinen roten Plotfaden, der abgearbeitet werden kann. Dem Ideenmangel steuert jedoch der Charakterbogen entgegen, der mit den Ideen für Flashbacks oder andere Kronen-Züge schnell Abhilfe verschafft.

Spielbericht

Im Spieltest wurde der im Regelwerk integrierte Fall Vater über Bord bespielt. Das Abenteuer kann sich durch den offenen Ausgang jedoch in jeder Spielrunde anders entwickeln. Die Spieler*innen hatten unterschiedliche Erfahrungen im Pen-and-Paper, von kompletter Anfängerin zu erfahrenem Rollenspieler. Das machte jedoch schnell keinen Unterschied mehr, denn nach wenigen Minuten standen die Charakterideen für vier schrullige Omas und nach kurzem Regeln erklären konnte es nach nur circa einer Stunde Vorbereitung losgehen.

Die Omas auf Mission.

Die vier Ladys trafen sich zu einer gemütlichen Runde, wie jeden Samstag, in ihrem Raum oberhalb der Buchhandlung zum Buchclub. Das Treffen wurde jedoch schnell von Sheriff Wyman Dalrymple unterbrochen, der zögerlich zugab, dass er auf ihre Hilfe angewiesen wäre: Ein reicher Finanzmann, welcher mit seiner Familie auf Yacht-Urlaub in der Bucht war, sei ums Leben gekommen. Dalrymple verdächtigte seine Familie, welche sich noch auf dem Boot befand, doch konnte keine Beweise erbringen. Unter Zeitdruck, den Fall vor der Abreise der Familie Krause zu lösen, mussten nun die Krimikennerinnen zu Hilfe kommen.

So zogen sie mit viel Gequassel und Sprüchen zum Fischmarkt, um die Leiche zu begutachten und später weiter auf die Yacht, welche zum Hauptschauplatz des Abenteuers wurde. Durch Herumschnüffeln und Befragen der Leute, wurden immer mehr Hinweise gesammelt. Abgesehen von den mysteriösen Stimmen im Meer und einem verfaulten Fischkopf, gab es jedoch noch kaum Hinweise auf übernatürliche Machenschaften. Diese würden erst bei längeren Kampagnen mehr zum Zug kommen.

Schlussendlich starb der Butler, die Tochter wurde beschuldigt und der hilfsbereite Fischhändler kam mit dem Mord davon – der Wurf der Gruppe, um ihre Lösung des Falles zu überprüfen, scheiterte. Der Fall blieb damit ungelöst und wird vielleicht in einer nächsten Session aufgeklärt.

Das Fazit der Runde war in erster Linie, dass selten so viel gelacht wurde an einem Rollenspielabend. Die Figuren sind allen schnell ans Herz gewachsen und machen Lust, weiterzuspielen. Auch die Hinweise auf den Abgrund machen neugierig nach mehr.

Einzig die Angst bestand, dass sich die Fälle auf längere Zeit zu sehr wiederholen, da die Aktionen – Leute befragen, Räume durchsuchen – doch alle sehr ähnlich waren und sich irgendwann ausschöpfen.

Erscheinungsbild

Das Cover.

Das Regelwerk ist mit seinen hundert Seiten relativ überschaubar. Es bietet kurze Abschnitte in Fließtext und keine großen Loredumps. Die Illustrationen von Cecilia Ferri und Axel Weiß sind simpel in Blautönen (siehe Bilder im Artikel) gehalten, geben jedoch Lust auf die Welt und Figuren.

Die übersichtlichen Listen für zum Beispiel Fälle oder eine Session Zero helfen sehr. Die erklärenden Abschnitte können jedoch manchmal etwas anstrengend sein, wenn es nur darum geht, einen kurzen Überblick über die Regeln zu suchen. 

Da uns das Buch erst in der Alphaversion als PDF zur Verfügung steht, kann über ein physisches Exemplar des Regelwerks nicht viel gesagt werden.

 

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters
  • Autor*in(nen): Jason Cordova
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Early Access-PDF
  • Seitenanzahl: 100 (Early Access, Deutsch)
  • ISBN: –
  • Preis: 9,99 EUR
  • Bezugsquelle: System Matters Shop

 

Bonus/Downloadcontent

Auf DriveThruRPG gibt es für zwei Dollar diverse digitale zusätzliche Fälle zu erstehen, falls man keine Lust darauf hat, selbst welche zu erfinden oder die im Standardregelwerk ausgespielt sind.

Fazit

Brindlewood Bay ist ein einzigartiges und sehr liebevoll gestaltetes Pen-and-Paper-Regelwerk. In einer kleinen Küstenstatt in Massachusetts verbringt eine Gruppe Seniorinnen ihren Lebensabend und ist vereint durch die gemeinsame Liebe für Krimis. Gemeinsam lösen sie auch echte Kriminalfälle und stolpern dabei auch über übernatürliche Machenschaften. Die Abenteuer der pensionierten Krimikennerinnen sind unterhaltsam und als Rentnerin in Mordfällen oder dem ein oder anderen okkulten Abgrund herumzuschnüffeln, macht Spaß.

Die PbtA-Regeln sind schnell zu verstehen und unterstützen die Spielwelt auch narrativ. Besonders ist vor allem, dass die zu lösenden Mordfälle nicht vorgegeben sind, sondern sich deren Lösung erst im Laufe des Spieles durch einen Würfelwurf ergibt. Ein etwas seltsames, spannendes und sehr humorvolles Regelwerk für alle, die Krimis, Omas, Lovecraft oder Serien wie Mord ist ihr Hobby mögen.

Ein perfektes Spiel für einen verregneten Samstag.

 

 

  • Durchdachtes Regelwerk mit Liebe zum Detail
  • Interessanter Ansatz für Krimiplots
  • Unterhaltsames, intuitives Regelwerk

  • Leichte Gefahr zur Repetition
  • Verantwortung bei der Spielleitung, sich nicht in den Strängen zu verheddern

 

 

Artikelbilder: © The Gauntlet/System Matters
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Saskia Harendt

Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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Über den Autor

Rumo Wehrli ist ganz klassisch über Fantasylarp und D&D zum Rollenspiel gekommen. Inzwischen spielt er sich jedoch durch unterschiedliche Settings und ist vor allem bei kleinen, narrativen Pen-and-Paper-Regelwerken sowie im nordic/modern Larp zuhause. Ob als Spielleiter, Orga oder Spieler probiert er gerne neue Dinge aus. Im echten Leben arbeitet er in Theater, Film und Kleinkunst und lebt in der Schweiz.

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