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In einer nahen Zukunft, geprägt von Umweltkrisen, entfaltet Qiufan Chen eine Welt, in der althergebrachte Rituale und futuristische Technologien aufeinandertreffen. Die Siliziuminsel entführt in eine Realität voller Elektroschrott und erbitterter Clankämpfe. Im Zentrum steht Mimi, eine junge Wanderarbeiterin, die nach einer mysteriösen Infektion zu einer posthumanen Existenz erwacht.

Die chinesische Science-Fiction-Literatur ist eine echte Schatztruhe voller kreativer und vielfältiger Geschichten. Anders als die fremdartigen Welten und futuristischen Visionen, die in den Werken von bekannten Autor*innen wie Cixin Liu und Hao Jingfang zu finden sind, verankert Qiufan Chen seine Erzählung in einer realitätsnahen Zukunftsvision Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in der sich die Menschen mit der Umweltzerstörung auseinandersetzen müssen.

In Die Siliziuminsel nimmt uns Qiufan Chen mit auf eine Reise, die direkt von der größten Elektronikschrotthalde der Welt inspiriert ist – ein echter Ort in Guiyu, in der südöstlichen Provinz Guangdong. Hier präsentiert er eine Welt, in der Fragen zu postkolonialen Konflikten und Umweltverschmutzung nicht nur fiktiv, sondern auch schmerzhaft real sind.

In einem Land, in dem die Meinungsfreiheit unter der strengen Zensur von Xi Jinpings Regierung zunehmend eingeschränkt wird, ist es bemerkenswert, wie Qiufan Chen und andere chinesische Autor*innen es schaffen, durch Science-Fiction gesellschaftliche und politische Probleme anzusprechen. Interessanterweise bildet dieses Genre eine Art Schlupfloch, durch das kritische Themen durch die Verschiebung in den Bereich der Phantastik angesprochen werden können. Die globale Popularität chinesischer Science-Fiction-Literatur verleiht China laut Amnesty International sogar ein gewisses Maß an kulturellem Einfluss – eine Softpower, die in einer Zeit, in der das Land international in der Kritik steht, von besonderer Bedeutung ist. Deshalb fördert die chinesische Regierung das Genre aktiv, anstatt die Autor*innen wegen ihrer kritischen Inhalte zu belangen. Ironischerweise wehren sich viele chinesische Schriftsteller*innen trotzdem gegen die Bezeichnung ihrer Werke als „Science-Fiction Reality“, da sie befürchten, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität könnten dadurch zu sehr verwischen.

Die Siliziuminsel ist also mehr als nur ein Buch – es ist ein Fenster in eine Welt, die sowohl faszinierend fremd als auch erschreckend vertraut ist. Qiufan Chen bietet uns einen unvergesslichen Einblick in eine Zukunft, die vielleicht näher ist, als wir denken.

Triggerwarnungen

Diskriminierung, Sexualisierte Gewalt, Gewalt gegen Kinder, Tod, Bodyhorror, Tierexperimente

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Story

Im Südosten Chinas neben der Stadt Shantou liegt die Siliziuminsel. Durch eine Lowspeed-Internetzone abgeschottet von der Welt, leben die Menschen auf der Insel nur für die Verwertung und Verarbeitung der Unmengen an Elektroschrott, die dort gelagert werden. Die Siliziuminsel wird beherrscht von einer zweigeteilten Gesellschaft: die Inselbewohner*innen und die „Müllmenschen“: Wanderarbeiter*innen, die aus ländlichen Regionen mit falschen Versprechungen von Arbeit und guter Bezahlung gelockt wurden. Sie finden sich jedoch in einer erbarmungslosen Realität wieder, gezwungen, für einen Hungerlohn auf Müllhalden Elektroschrott zu sortieren. In dieser Welt der Extreme kämpfen drei große Clans – Jin, Chen und Lou – fortwährend über die Vorherrschaft. Dabei lassen sie sich von traditionellen Ritualen und dem Gezeitenorakel den Weg weisen, während sie auf gechipte Hunde und moderne Körperprothesen setzen. Die Verschmelzung von Vergangenem und Zukünftigem kreiert eine faszinierende Welt, in der ein Gezeitenorakel über den Bau eines Recyclingcenters bestimmen kann.

Die Rückseite des Buches
Die Rückseite des Buches

Die Geschichte verfolgt mehrere Charaktere, deren Schicksale sich auf der Siliziuminsel kreuzen. Zum einen ist da Scott Brandle, der als Vertreter einer amerikanischen Recyclingfirma arbeitet, um den Menschen auf der Siliziuminsel eine neue, umweltfreundlichere Perspektive zu bieten und ihre Lebensstandards zu verbessern. So zumindest das oberflächliche Versprechen. Doch plötzlich ist es gerade eine Umweltschutzorganisation, die sich ihm in den Weg stellt und Scotts Motive in neues Licht rücken. Scotts westliche Perspektive und oft überhebliches Unverständnis für die chinesischen Bräuche bieten einen interessanten Kontrast zu den anderen Charakteren. Ein weiterer zentraler Charakter ist Kaizong Chen, ein Geschichtsstudent und gebürtiger Insulaner, der als Scotts Übersetzer fungiert. Seine Rückkehr auf die Insel konfrontiert ihn mit seinen eigenen Wurzeln und der harten Realität der „Müllmenschen“. Er trifft auf die bezaubernde Mimi, eine junge Wanderarbeiterin, deren tragische Geschichte die Hoffnungen und Träume, aber auch die Brutalität und Unterdrückung aufzeigt, die besonders Frauen in dieser dystopischen Welt ertragen müssen.

Die Erzählperspektive in Die Siliziuminsel wechselt zwischen diesen und noch weiteren Charakteren, wodurch die Leser*innen einen umfassenden Einblick in die verschiedenen sozialen und kulturellen Aspekte der Siliziuminsel erhalten. Die Handlung entwickelt sich zu einem spannenden Geflecht aus persönlichen Geschichten, politischen Intrigen und der ständigen Auseinandersetzung mit der Frage nach Moral und Ethik in einer Welt, die von Technologie und Tradition gleichermaßen geprägt ist.

Schreibstil

Qiufan Chen schafft es mit seiner bildhaften Sprache und einem rasanten Erzähltempo, die Leser*innen direkt in die unbarmherzige und oft auch sehr brutale Welt der Siliziuminsel zu ziehen. Schon der Prolog wirft uns mitten in eine lebensbedrohliche Protestaktion einer Umweltschutzorganisation, die die Dringlichkeit und Intensität des Romans von Anfang an spürbar macht und den Ton für das gesamte Buch setzt. Die Siliziuminsel liest sich wie ein Albtraum, der die Leser*innen in eine immer brutalere und surrealere Welt zieht. Trotz der Schwere des Themas gelingt es Chen, humorvolle Elemente zu integrieren, die den Roman auflockern. Das Konzept des digitalen Totengeldes beispielsweise, eine moderne Interpretation der traditionellen chinesischen Praxis, Geld für die Ahnen zu verbrennen, fügt dem ernsten Thema eine humorvolle, fast ironische Note hinzu.

Die Erzählung entfaltet sich aus verschiedenen Perspektiven, was anfangs zu schnellen und etwas verwirrenden Wechseln zwischen den Charakteren innerhalb eines Kapitels führt. Diese anfängliche Herausforderung legt sich jedoch im weiteren Verlauf des Romans, da die einzelnen Erzählperspektiven deutlicher voneinander abgegrenzt werden.

Ein wichtiger Punkt des Romans sind die verschiedenen chinesischen Dialekte. Der Übersetzer Marc Hermann stellt sich dieser Herausforderung und schafft es, dass Gefühl der kulturellen Unterschiede innerhalb der chinesischen Sprache ins Deutsche zu transportieren. Zum Teil werden dazu Begriffe nur in ihre Umschrift übertragen, weshalb es sich lohnt, einen Blick in das Glossar zu werfen.

Der Autor

Qiufan Chen hat für seinen Debütroman seine Heimatstadt Shantou in der Provinz Guangdong als Schauplatz gewählt, wo er 1981 geboren wurde. Seit seinem Studium in Literatur und Kunstgeschichte lebt er in Beijing, wo er mehrere Jahre in der Tech-Industrie arbeitete. Inzwischen ist er nicht nur Präsident der World Chinese Science Fiction Associacion sondern auch Gründer eines Content-Produktionsstudios. Neben seinem Roman Die Siliziuminsel schreibt Qiufan Chen vor allem Kurzgeschichten, von denen zwei in den Sammelbänden Quantenträume und Zerbrochene Sterne ins Deutsche übersetzt wurden.

Erscheinungsbild

Das Cover stammt wie alle chinesischen Science-Fiction-Romane von Heyne aus dem Münchner Büro DAS ILLUSTRAT und ist mit dem knallgelben Titel auf dunkelrotem Hintergrund ein echter Blickfang. Das Bild einer Person, die mit im Wind wehenden Haaren abgewandt auf einem Trümmerhaufen aus Elektronikschrott steht und in die Ferne auf eine riesige Sonne blickt, fängt die dystopische Stimmung des Romans perfekt ein. Es vermittelt sowohl ein Gefühl der Verlorenheit als auch der Hoffnung, das sich durch die gesamte Geschichte zieht. Durch die Softtouch-Beschichtung lässt sich das Buch angenehm in der Hand halten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Heyne
  • Autor: Qiufan Chen
  • Erscheinungsdatum: 09. September 2019
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Chinesischen übersetzt von Marc Hermann)
  • Format: Broschiert
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN: 978-3-453-31922-6
  • Preis: 16,99 EUR (Print) + 13,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Das Buch enthält eine kurze Danksagung und ein ausführlicheres Nachwort, in dem Qiufan Chen über seine Heimatstadt und die Idee zum Buch spricht.

Fazit

In Die Siliziuminsel entführt Qiufan Chen uns in eine dystopische Zukunft, geprägt von Umweltkrisen und sozialen Spannungen. Der Roman, angesiedelt auf einer mit Elektroschrott übersäten Insel, hebt sich vor allem durch seine einzigartige Verschmelzung von traditionellen chinesischen Riten und futuristischer Technologie ab.

Der Erzählstil ist geprägt von einem rasanten Tempo und bildhafter Sprache, die das Lesen zu einem intensiven Erlebnis macht. Der Roman bietet eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Themen wie Umweltverschmutzung, sozialer Ungleichheit und Postkolonialismus. Der mehrperspektivische Erzählstil bietet einen vielschichtigen Einblick in die komplexe Welt der Siliziuminsel, kann jedoch anfangs herausfordernd sein.

Insgesamt ist Die Siliziuminsel ein faszinierender, wenn auch manchmal beklemmender Roman, der die Leser*innen auf eine unvergessliche Reise in eine mögliche Zukunft mitnimmt, die zugleich fremd und doch beängstigend vertraut wirkt.

  • Mitreißendes Erzähltempo
  • Spannender Blick auf globale Umweltkrisen
  • Vielschichtige Darstellung der chinesischen Kultur

 

  • Sprunghafte Erzählperspektive

Titelbild: © grandfailure | depositphotos.com
Artikelbilder: © Heyne
Layout und Satz: Kai Frederic Engelmann
Lektorat: Alexa Kasparek

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