Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Solipstry verspricht uns eine völlig neue Herangehensweise ans Tischrollenspiel. Das Regelsystem soll es tatsächlich möglich machen, jedwede Art von Setting zu bespielen und Charaktere nach Wunsch zu erschaffen. Unser Ersteindruck zeigt euch, warum Solipstry wirklich ganz anders ist als normale Rollenspiele.

Unter Solipsismus versteht die Philosophie die Annahme, dass außer dem eigenen Ich nichts mit Sicherheit existiert. Denker wie Descartes, Schopenhauer und Wittgenstein haben die These diskutiert und direkt oder indirekt zum Bestandteil ihrer philosophischen Konzepte gemacht. Vor allem Arthur Schopenhauer prägt dabei einen Grundsatz, der für Rollenspieler sehr sympathisch klingt:

„Die Welt ist meine Vorstellung.“

Sicherlich wäre es faszinierend, einen solchen Satz in Bezug auf unser aller Hobby zu analysieren, aber die drängendere Frage ist, warum das Rollenspielsystem Solipstry nach dem obigen philosophischen Phänomen benannt ist. Leider bleibt uns das Regelwerk die Antwort auf diese Frage schuldig. Außer einer Definition des Begriffs findet sich nirgendwo ein weiterer Hinweis, warum der Titel gewählt wurde.

In der Einleitung wird aber bereits deutlich gemacht, welches Ziel die Autoren mit ihrem System verfolgen. Solipstry soll ein Werkzeugsatz sein, der es erlaubt, beliebige Welten zu erschaffen. Egal ob bekanntes Genre, ein wilder Mix oder völlig neue Idee: Jedes Setting soll mit passenden Charakteren bespielbar sein.

Ein solches Universalsystem zu erschaffen, ist eine Herkulesarbeit. Trotzdem haben sich die beiden Autoren mit einer Crowdfunding-Kampagne im Rücken an die Arbeit gemacht. Das Ergebnis ist ein  Text über 95 Seiten. 95 Seiten, die, laut Untertitel a new approach to table-top RPGs, anders sein sollen als herkömmliche Rollenspiele.

Die Spielwelten – weniger ist nicht immer mehr

Es überrascht nicht weiter, dass ein System, das für sich in Anspruch nimmt, jedes Setting bedienen zu können, kein Kapitel zur bespielten Welt enthält. Müßig also, das Fehlen eines solchen Kapitels zu beklagen. Was aber bietet Solipstry stattdessen?

Nachdem ein Set an Werkzeugen zum Erstellen beliebiger Welten versprochen wurde, freut man sich als Leser auf ein Kapitel zum Thema Worldbuilding. Tipps zum Generieren von eigenen Settings, Hinweise, wie die erschaffene Welt glaubwürdig wirkt und Ideen, um die erzählten Geschichten lebendig werden zu lassen. All das wird schon im Einleitungstext angekündigt.

Leider bietet das Regelwerk nichts von alledem. Die versprochenen Werkzeuge sind nirgends zu finden. Der einzige Abschnitt des Textes, der sich mit den bespielten Welten befasst, skizziert fünf mögliche Settings auf jeweils ein bis zwei Seiten. Neben einer sehr knappen Beschreibung sind noch einige Vorschläge zur Anpassung der Regeln angefügt.

Das Artwork weiß durchaus zu überzeugen…

Sweet Spot

Die Charaktere sind Kinder in einer Zuckerwelt, die ein düsteres Geheimnis birgt. Alle besonderen Fähigkeiten werden durch Süßwaren repräsentiert.

Elderflower

Hier verkörpern die Spieler die Nachkommen von Weltraumkolonisten, die auf einem Waldplaneten leben. Ihr Volk hat die Technologie verloren und betet das Wrack des Raumschiffs der ehemaligen Kolonie an.

Citadel North

Ein recht generisches Cyberpunk-Setting. In einer gigantischen Stadt kämpfen Rebellen gegen die Unterdrückung durch die totalitäre Legion.

Sharlem‘s Quarry

Es ist Western. Mit Dinosauriern.

Reinfeld‘s Folly

Eine Welt voller Piraten. Der Clou sind ihre fliegenden Schiffe.

Natürlich sind diese vorgeschlagenen Settings eine Frage des Geschmacks. Aber auch ganz sachlich betrachtet, erfüllen sie auf keinen Fall ihren Zweck. Sie sind so wenig ausgearbeitet, dass sie kaum mehr als fixe Ideen darstellen. Und wichtiger, sie bieten einem interessierten Spielleiter auch keine Anhaltspunkte, um diese Ideen weiterzuentwickeln oder eigene Ideen zu verwirklichen.

Im Vorwort kündigt Solipstry an, dem Leser die Erschaffung seiner Welt zu überlassen. Leider hält das System auf eine sehr bittere Art und Weise Wort. Anstatt eigene Inhalte zu liefern, wird lediglich betont, wie viel Freiheit die Spieler bei der Gestaltung ihrer Szenarien genießen. Um den schwachen Auftritt abzumildern, wird darauf hingewiesen, wie sehr andere Rollenspiele den Leser mit Informationen zur Spielwelt überfluten. Auf fremde Schwächen hinzuweisen, bedeutet aber keine eigene Stärke. Fakt ist und bleibt, dass Solipstry zum Thema Spielwelten wenig bis gar nichts anbietet.

Die Regeln – Chaos und Konjunktiv

Für gewöhnlich folgt in einem Grundregelwerk auf die Einleitung ein Abschnitt, in dem die grundlegenden Regeln des Spiels knapp umrissen werden. Ein solcher Text muss nicht jede Nuance erläutern, aber er gibt einen Überblick, der es ermöglicht, alle folgenden Ausführungen zu spezielleren Mechanismen zu begreifen. Nur wer laufen kann, kann rennen. Nur wer den Mechanismus des eigentlichen Würfelns kennt, kann die Regeln zu Kampf und Spezialfähigkeiten verstehen.

… leider aber nicht durchgehend.

Solipstry ist aber anders. Leider nicht erfrischend anders. Denn das Kapitel zu den Grundregeln existiert nicht. Den grundlegenden Regelmechanismus muss der Leser aus dem Fließtext der Einleitung herauslesen. Außerdem finden sich immer wieder kleine Textboxen am Seitenende, in denen Regeln erläutert werden. Diese sind allerdings völlig willkürlich im gesamten Produkt verteilt. Beispielsweise enthält das Kapitel zur Charaktererschaffung einen kleinen Part mit Regeln zum Alkoholkonsum.

Stark irritierend ist, dass viele der präsentierten Regeln im Konjunktiv verfasst sind. Oft folgt dann noch der Zusatz, dass der Spielleiter ja Hausregeln aufstellen kann. Offensichtlich haben die Autoren kein großes Vertrauen in die eigenen Ideen, oder hatten keine Ambitionen, ein vollständiges Regelsystem zu generieren. Jedes Tischrollenspiel sollte selbstverständlich den Hinweis enthalten, dass keine Regel in Stein gemeißelt ist. Trotzdem muss eine Grundlage existieren, die man durch Hausregeln verfeinern kann. Zu oft ist das bei Solipstry nicht der Fall.

Eher nebenher erfährt man also, dass alle Proben mit einem zwanzigseitigen Würfel bestritten werden. Ein Modifikator, der sich aus einem Attribut und einer passenden Fertigkeit errechnet, wird addiert. Mit dem Ergebnis muss ein Zielwert erreicht werden. Wie hoch solche Zielwerte ausfallen sollen, erfährt der geneigte Spielleiter im letzten Kapitel des Regelwerks, wenn das Thema Skill Challenges erwähnt wird.

Dieser Regelmechanismus wurde seinerzeit in der vierten Edition von Dungeons & Dragons eingeführt und wurde beinahe unverändert übernommen. Einer Aufgabe werden verschiedene Fertigkeiten zugewiesen, die zu ihrer Bewältigung eingesetzt werden können. Es muss eine bestimmte Anzahl erfolgreicher Würfe vorliegen, bevor eine ebenfalls fest definierte Anzahl an Fehlschlägen produziert wurde.

Jede Fertigkeit, die im Spiel erfolgreich eingesetzt wurde, wird markiert. Sobald man Markierungen in Höhe des Modifikators der Fertigkeit angesammelt hat, erhält man eine Markierung für den Level des Charakters. Alle zehn Markierungen erhöht sich der Level, der Spieler darf Attributspunkte verteilen und ein Talent wählen. Dieses Erfahrungssystem erinnert stark an Call of Cthulhu, erweitert um die Mechanik von Leveln.

Die Kampfregeln – Altbekanntes aus der Welt von Verliesen und Drachen

Sobald es zum Kampf kommt, werden die Regeln von Solipstry umfangreicher. Ein ganzes Kapitel widmet sich der gewaltsamen Auseinandersetzung. Anscheinend liegt der Fokus des Systems klar auf Action, auch die verschiedenen Sonderfähigkeiten sind zum größten Teil dazu gedacht, auf dem Schlachtfeld eine gute Figur zu machen.

Kämpfe beginnen mit der Bestimmung einer Initiativereihenfolge. Diese wird abgehandelt, jeder Charakter, der an der Reihe ist, kann eine Bewegung, eine Standardaktion und eine nebensächliche Aktion durchführen.

Um Gegner anzugreifen, muss mit einem Wurf in der Waffenfertigkeit die Rüstungsklasse oder einer der drei anderen Verteidigungswerte – Reflex, Zähigkeit und Wille – erreicht werden. Wenn das gelingt, kann Schaden verursacht werden. Sollte der Gegner als letzte Aktion Blocken gewählt haben, steht ihm hier aber noch ein Fertigkeitswurf zu, um den Angriff abzuwehren.

Das Kampfsystem sieht vor, einen Bodenplan zu verwenden. Durch geschickte Positionierung auf diesem, können Gegner flankiert werden, was Boni auf den eigenen Angriffswurf einbringt. Versucht sich der Gegner aus dem Nahkampf zu lösen, riskiert er Gelegenheitsangriffe.

Jeder Spieler, der ein wenig Erfahrung mit den verschiedenen Editionen von Dungeons & Dragons gesammelt hat, erkennt schnell, dass die Kampfregeln von Solipstry einen Hybriden der dritten und vierten Version des ältesten Tischrollenspiels darstellen. Nennenswerte eigene Ideen fehlen, sieht man von den diversen Spezialfähigkeiten der Charaktere ab.

Komplett betrachtet, scheint das Regelsystem von Solipstry auf der einen Seite aus Versatzstücken bekannter Systeme zu bestehen. Auf der anderen Seite klaffen große Lücken. Nicht kampfrelevante Regeln sind so gut wie nicht existent.

Charaktererschaffung – jeder ist etwas Besonderes

Der Prozess der Charaktererschaffung beginnt in Solipstry ganz klassisch. Nachdem man sich ein Konzept für einen Charakter überlegt hat, weist man Punkte acht Attributen zu. Diese Attribute basieren auf den sechs Attributen aus Dungeons & Dragons, erweitern sie aber um Speed und Luck. Zu Beginn des Spiels liegt jeder der Werte zwischen 10 und 30.

Sind die Attribute ausgewählt, entscheidet sich der Spieler für fünf Fertigkeiten, die der Charakter besonders gut beherrscht und die deshalb mit einem Wert von 25 starten. Alle anderen Fertigkeiten liegen bei 10. Diesen Werten wird jetzt noch die Zehnerstelle des zugehörigen Attributs aufaddiert. Die Zehnerstelle des fertigen Werts ist der Modifikator für Würfe auf die Fertigkeit.

Danach soll eine Rasse ausgewählt werden, das Regelwerk enthält aber keine eindeutige Anleitung zum Bau von Rassen. Es werden lediglich vage Richtlinien und drei Beispielrassen angeboten. Einer von diesen Vorschlägen verstößt gegen die vorher aufgestellten Regeln zur Verteilung der Attributspunkte.

Der Charakter bekommt noch etwas Ausrüstung, die aus Waffe, Rüstung, Seil, Taschenlampe, Rationen und etwas Geld besteht. Diese Auswahl ist so vage, dass fast jedes gewählte Setting es erforderlich machen wird, eine eigene Regelung zu erstellen.

Schließlich darf der Spieler für seinen Charakter Abilities, Truths und Talents wählen. Diese Fähigkeiten bieten spezielle Aktionen und Boni. Jeder Charakter hat dadurch Fähigkeiten, die ihn hervorheben und zu etwas Besonderem machen. Die Idee ist grundlegend gut, krankt aber in der Ausführung.

Fast alle Fähigkeiten, die ein Charakter erwerben kann, dienen auf die eine oder andere Art und Weise dem Kampf. Konzepte, die auf Wissen oder soziale Fähigkeiten setzen, werden schlichtweg nicht bedient. Wenn man also nicht komplett kampforientiert spielt, fehlen trotz einer großen Auswahl an Fähigkeiten interessante Alternativen für viele Charaktere.

Und selbst wenn Superkämpfer gewünscht sind, lassen sich viele Konzepte nicht umsetzen. Um die gewählten Fähigkeiten zum Einsatz zu bringen, sind nämlich Ability Points nötig. Davon hat nur viele, wer einen hohen Wert in Weisheit mitbringt. Und nur wer viel Intelligenz vorweisen kann, regeneriert seine Ability Points schnell genug, um die Fähigkeiten öfters zu benutzen.

Faktisch fühlt sich jeder Charakter dadurch ein bisschen wie ein Zauberwirker an. Ein Konzept wie etwa Marvel‘s Hulk würde nicht aufgehen, denn der Charakter ist zu dumm, um seine Berserkerwut einzusetzen. Damit die entsprechende Fähigkeit einsetzbar bleibt, muss Bruce Banner also auch nach seiner wutgesteuerten Verwandlung brillant bleiben. Die angeblich komplett freie Charaktererschaffung entpuppt sich hier als ziemlich einschränkend.

Erscheinungsbild – Lektor, übernehmen Sie!

Der schlechte Eindruck des Regelwerks setzt sich leider auch in der Optik fort. Das rezensierte PDF weist immer wieder Rechtschreibfehler auf, die vom Lektorat übersehen wurden. Noch offensichtlicher sind die Fehler im Layout. Uneinheitliche Wortabstände und stellenweise Wechsel vom linksbündigen zum zentrierten Satz fallen an mehr als einer Stelle auf und stören die Lesbarkeit. Im Kampfkapitel wird sogar eine halbe Seite Text von einem Teil des Artworks überdeckt.

Das Artwork selbst bedient sich an vielen Stellen eines bunten Anime-Stils. Ein solcher Stil ist selbstverständlich Geschmackssache, aber viele der genutzten Bilder sind technisch nicht besonders gut. Falsche Perspektiven und Proportionen sehen unabhängig von persönlicher Präferenz seltsam aus. Diese Kritik gilt aber nicht für alle enthaltenen Illustrationen. Zwischen den fragwürdigen Exemplaren finden sich immer wieder auch handwerklich gelungene Werke.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Idlewild Games, LLC
  • Autor(en): Rachel Bennet, Alex Rinehart
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • Sprache: Englisch
  • Format: PDF,
  • Seitenanzahl: 95
  • ISBN: 978-0692873465
  • Preis: 15,00 USD (PDF), 22,97 EUR (Print)
  • Bezugsquelle: Amazon, DriveThruRPG. Sphärenmeister

 

Bonus/Downloadcontent

Neben dem obligatorischem Charakterbogen bietet die Homepage zum Spiel einen Charaktergenerator sowie Zufallsgeneratoren für Namen, Orte und Aufgaben. Außerdem kann ein Abenteuer in einem Superhelden-Setting heruntergeladen werden, das aber leider nicht überzeugt und sehr lieblos wirkt.

Wer sich nur einen ersten Eindruck verschaffen möchte, kann sich drei Spielmitschnitte anhören.

Fazit

Solipstry ist ein Rätsel, das ungelöst bleibt. Das System verspricht eine neue, ungewöhnliche Herangehensweise ans Pen&Paper-Rollenspiel. Ungewöhnlich ist aber nur, an wie vielen Stellen die Autoren einfach keine Inhalte bieten. Stattdessen verlegen sie sich darauf, auf den Leser als Entscheidungsträger und Gestalter zu verweisen.

Im Vorwort verspricht das System Werkzeuge zum Bau einer lebenden, bunten und ausdefinierten Welt. Was der Leser bekommt, ist ein System zur Charaktererschaffung und einige Kampfregeln. Das Thema Worldbuilding wird in Form von fünf Kampagnenideen abgehakt, die bestenfalls ein Alibi darstellen.

Das ganze Produkt wirkt unausgegoren, wie ein Projekt mitten in der Entwicklungsphase, das hastig illustriert und veröffentlicht wurde. Beim Lesen entsteht der Eindruck, dass die Macher während der Arbeit die Lust, Inspiration oder Energie verloren haben und nur wegen der Backer ihres Crowdfundings etwas auf den Markt geworfen haben.

Ich kann mir keine Zielgruppe ausmalen, die mit dem System zufrieden wäre. Wer ein bestimmtes Setting erschaffen möchte, findet sicher ein artverwandtes, besser geeignetes Spiel, dessen Regeln konvertiert werden können. Wer ein echtes Universalsystem sucht, wird mit einem Spiel wie FATE oder Savage Worlds weitaus besser bedient.

Nach einmaligem Lesen hat Solipstry leider bereits zu deutliche Schwächen gezeigt. Ein ausführlicher Spieltest wird daher nicht folgen.

Artikelbild: Idlewild Games, LLC
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

1 Kommentar

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein