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Orwell. Bei dem Namen denkt man an 1984 und staatliche Überwachung. Im gleichnamigen Computerspiel wird man selbst Teil des Systems und wertet Überwachungsdaten aus, um Übeltäter zu ermitteln. Das vom fiktiven Staat The Nation verwendete System kennt dabei keine Grenzen und stellt genau dadurch die moralischen Grenzen des Spielers infrage.

Beim gerade erschienenen OrwellIgnorance Is Strength handelt es sich um ein eigenständiges Spiel, welches aber vom Publisher bewusst als Season 2 bezeichnet und behandelt wird. Es ist weder deutlich teurer als der erste Teil, noch führt es grundlegend neue Mechaniken ins Spiel ein. Stattdessen wird das zentrale Thema „Überwachung“ mit den gleichen Spielprinzipien, aber aus einem anderen Winkel, beleuchtet.

Beide Teile können einzeln gespielt werden. Der erste Teil endet nicht in einem Cliffhanger, und der zweite Teil verlangt kein Vorwissen aus dem ersten Teil. Da der zweite Teil allerdings in der Handlung etwas komplexer ist, lohnt es sich, den ersten Teil vorher zu spielen, quasi zum Eingewöhnen.

Hinweis: Diese Rezension ist spoilerfrei geschrieben und deshalb an einigen Stellen bewusst vage, um keine Details der Handlung zu verraten oder Entscheidungen des Spielers zu beeinflussen.

The Nation und das System Orwell

Der fiktive Staat The Nation möchte seine Bevölkerung etwas besser unter Kontrolle halten. Die regierende Partei The Party setzt deshalb seit neustem auf ein potentes Überwachungssystem. Dieses soll verbrecherische Tendenzen frühzeitig erkennen und entsprechend Reaktionen ermöglichen. Vor allem die Hauptstadt von The Nation, wird testweise bereits nahezu lückenlos überwacht.

Die relevanten Informationen über einzelne Subjekte werden dabei in einem System namens Orwell gesammelt und verknüpft. Aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Bedenken darf Orwell allerdings nicht direkt auf die Überwachungsdaten zugreifen. Stattdessen verlangt das Gesetz, dass unabhängige Gutachter, die nicht in The Nation leben, die Daten sichten, einordnen, bewerten und, wenn sie diese als relevant erachten, Orwell zuführen. Orwell analysiert die ihm zugeführten Daten dann und stellt die sich daraus ergebenden Verknüpfungen her. Außerdem findet Orwell auf Basis der ihm zugeführten Daten weitere relevante Quellen und stellt diese dem Beobachter zur Verfügung.

Jeder Beobachter wird dabei von einem Operator betreut, der zum Geheimdienst von The Nation gehört. Dieser Operator hat nur Einsicht in die Daten, die der Beobachter Orwell zur Verfügung gestellt hat. Außerdem kann er, basierend auf den Daten, alle seiner Meinung nach notwendigen Maßnahmen einleiten, um das Wohlergehen von The Nation zu sichern.

Das Spielprinzip

Start des OrwellOS_office genannten Programmes von The Nation.

Der Spieler übernimmt die Rolle eines dieser Beobachter. Das Spiel setzt dabei auf Immersion, indem behauptet wird, dass es kein Spiel ist, sondern die externe Benutzeroberfläche, die Orwell für die Bewertung und Einordnung der Daten zur Verfügung stellt. Nachdem man eingewilligt hat, dem Staat The Nation auf diesem Wege bei der Bekämpfung von Verbrechen zu helfen, kontaktiert der Führungsagent den Spieler und erklärt ihm seine Mission.

Der Spieler bekommt Zugriff auf die Überwachungssysteme. Zum einen wird über den „Reader“ das Internet überwacht. Hier kann der Spieler Zeitungsberichte nachlesen oder Homepages anschauen. Das System verschafft ihm auch Zugriff auf Profile beispielsweise im sozialen Netzwerk oder auf Dating-Plattformen. Dazu muss der Spieler allerdings zunächst die Benutzerkennungen der betreffenden Person finden und mit deren Profil verknüpfen.

Daneben erhält der Spieler im „Listener“ auch Zugriff auf Chatverläufe, Telefonate und Emails, sobald er entsprechende Benutzerkennungen, Handynummern etc. mit dem Profil einer Person verknüpft. Hier liest er die eine oder andere private Konversation mit – und stellt wiederum Daten daraus Orwell zur Verfügung. Das stellt das Spiel als völlig normal und natürlich dar, was erst recht dazu führt, dass dem Spieler die Weitergabe der Informationen falsch vorkommt.

Über das Untersystem „Insider“ kann Orwell auch Geräte knacken, die Personen zugeordnet wurden, so dass der Spieler sich auf den Telefonen oder Computern der Personen umsehen kann.

Diese Aussage stellt einen Widerspruch dar und der Spieler muss sich entscheiden, welche Aussage er einpflegt.

Die Bedienung ist dabei denkbar schlicht und funktional gehalten: Das Spiel markiert interessante Textfragmente in den Dateien, und diese kann man dann mittels Drag&Drop einer Person zuordnen. Teilweise widersprechen sich Informationen, und man muss sich für eine Variante entscheiden. Diese Informationen sind fairerweise als „conflicting“ gekennzeichnet, und man kann erkennen, mit welcher Information sie im Widerspruch steht – oder nur, dass es eine Konflikt-Information gibt, die man noch nicht gefunden hat. Vorsicht: Hat man eine der im Konflikt stehenden Informationen ausgewählt, ist diese Auswahl endgültig und beeinflusst den Fortgang der Geschichte.

Das Spiel zeigt dem Spieler auch an, in welchen Dokumenten es neue Informationen zu entdecken gibt. Dies ist meistens nützlich, manchmal stimmt diese Anzeige aber nicht und man muss nochmal in alle aktuellen Dokumente gucken, um das fehlende Schnipselchen zu finden.

Der Spieler hat in der Regel genügend Zeit zum Nachdenken, nur sehr selten baut das Spiel geschickt Zeitdruck auf. Außerdem variiert die Verarbeitungskapazität von Orwell, so dass teilweise die Anzahl der Schnipsel, die man einpflegen kann, begrenzt wird.

Die Geschichte von Orwell ist jeweils in Tagen organisiert, die man möglichst am Stück durchspielen sollte. Dies wird vom Spiel auch so kommuniziert.

Es liegt an Dir

Die Spiele schaffen einen interessanten Spagat. Zum einen ist es möglich, den Verlauf der Geschichte innerhalb eines engen Rahmens zu beeinflussen, indem man gezielt Informationen zurückhält. Da sowohl der Führungsagent als auch Orwell selbst nur die Informationen sehen, die der Spieler ihnen zur Verfügung stellt, kann man so das Bild, was diese von bestimmten Personen im Spiel haben, beeinflussen.

An einigen Stellen ist es auf diese Weise möglich, die Handlungen des Führungsagenten indirekt zu steuern. An anderen Stellen kann man sogar direkt in die Handlung einzugreifen und durch das (Nicht-)Weitergeben von Informationen zur richtigen Zeit Aktionen vereiteln.

Manchmal ist man live dabei.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch diverse Stellen im Spiel, wo man eigentlich bestimmte persönliche Informationen nicht weitergeben möchte. So kommt es beispielsweise öfter vor, dass man sich im Laufe der Handlung ein Bild von Personen und ihren Hintergründen machen konnte – und sich denken kann, dass Orwell, wenn man diese Information einpflegt, ein völlig anderes Bild der Person bekommen muss. Das wird noch verstärkt dadurch, dass Orwell in der Regel eher pessimistisch und paranoid mit den Informationen umgeht.

Hier kann es mitunter auch passieren, dass man dadurch scheinbar in eine Sackgasse gerät und eine der zurückgehaltenen Informationen preisgeben muss, damit man im Spiel weiterkommt. Gerade dieses Dilemma zwischen „Das geht Orwell eigentlich gar nichts an“ (ingame) und „Ich möchte aber im Spiel weiterkommen“ (outgame) wird von Orwell des Öfteren forciert und dadurch ein Nachdenken über den Wert von Informationen.

Ein schöner Kniff im ersten Teil ist die fehlende Spielfigur. Das Spiel übernimmt den Steam-Namen als Spielernamen. Das erhöht die Immersion, dass hier der Spieler persönlich handelt und nicht eine virtuelle Figur.

Orwell Season 1 – Keeping An Eye On You

Im ersten Spiel wird der Spieler damit beauftragt, einen Terroranschlag aufzuklären. Zur besten Tageszeit sprengen Unbekannte eine Statue auf dem belebten Freedom Plaza. Als Reaktion auf den Anschlag wurde das lange entwickelte Überwachungssystem Orwell aktiviert.

Die Gesichtserkennung der Überwachungskameras liefert erste Anhaltspunkte, und von da aus übernimmt der Spieler das Geschehen. Allerdings nicht, bevor er bestätigt hat, dass er sich im Klaren ist darüber, dass seine Entscheidungen stark in das Leben der betroffenen Personen eingreifen können.

Der Operator Symes steht dem Spieler mit Rat und Tat zur Seite, beeinflusst ihn aber auch durch eigene Annahmen. Der Spieler muss abwägen, welche Informationen er dem System zur Verfügung stellt, da Symes auch gelegentlich falsche Schlüsse zieht. Dazu kommen Informationen, die sich in ihrer Gesamtheit widersprechen. Einige direkt, bei denen wählt man eine der als conflicting markierten Aussagen. Andere widersprechen sich im Gesamtbild, so dass man sich überlegen muss, ob eine Person nun schuldig ist oder nicht, und welcher Richtung man beim Sammeln der Beweise folgt. Dabei kann man durchaus auch falsch liegen, und mehr als eine Person birgt eine Überraschung.

Die Beziehungen zwischen den Personen sind komplex. Es sind viele unschuldige Personen dazwischen, die in den Strudel mit hineingeraten und folgerichtig mit überwacht werden. Fast alle Personen sind so detailliert durchleuchtet, dass der Spieler eine emotionale Bindung zu ihnen Aufbauen kann. Das macht die Entscheidung, was richtig und was falsch war, nicht einfacher.

Dazu kommt, dass viele Informationen Handlungen der Personen offenlegen, die in die Kategorien „richtig aus den falschen Gründen“ oder „Falsch, aber mit der richtigen Motivation“ fallen.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Osmotic Studios
  • Publisher: Fellow Traveler
  • Plattform: PC
  • Mindestanforderungen: 2 GHz, 4GB Ram, Windows XP SP2, DirectX 9, 3GB Festplatte
  • Genre: Adventure/Simulation
  • Releasedatum: 27.10.2016
  • Spielstunden: 10+
  • Sprachen Oberfläche: Englisch
  • Sprachen Tonausgabe: Englisch
  • Sprachen Untertitel:
  • Spieleranzahl: 1
  • Altersfreigabe: ohne USK-Prüfung
  • Preis: 9,99 EUR / 14,98 EUR mit Soundtrack
  • Bezugsquelle: Steam

 

Orwell Season 2 – Ignorance Is Strength

02 – Orwell empfängt den Spieler in Teil 2 direkt mit einem Disclaimer.

Die zweite Staffel von Orwell spielt interessanterweise zeitgleich zur ersten. Diesmal soll der Spieler den vermissten Offizier Oleg Bakay finden. Dieser war in einem der Nachbarländer von The Nation als Spion eingesetzt.

Es scheint eine Verbindung zu geben zu Raban Vhart, einem politischen Aktivisten und erklärten Gegner von The Nation. Dieser verbreitet im Netz Texte, die der Regierung nicht gefallen.

Ignorance Is Strength baut im Gegensatz zum ersten Teil mehr Zeitdruck auf. Dieser ist lobenswerterweise nicht in Echtzeit realisiert, sondern an Aktionen im Spiel geknüpft. Dieses Vorgehen, was schon aus dem ersten Teil bekannt ist, wird im zweiten Teil konsequent umgesetzt.

Zusammenfassung der ersten Episode.

Jede Information, die an Orwell übergeben wird, kostet Spielzeit. Da der „Gegner“ nicht tatenlos zusieht, sondern zu bestimmten Zeiten handelt, muss der Spieler gründlicher überlegen, welche Informationen er Orwell zuführt. Jede unnötige Information ist ein Zeitvorteil für den Widersacher.

In der letzten Episode wird ein neues System vorgestellt: der „Influencer“. Mit diesem ist es möglich, selbst manipulierte Informationen zu veröffentlichen, um Reaktionen zu provozieren.

Generell kann man sagen, dass Ignorance Is Strength deutlich linearer ist als Keeping An Eye On You. Allerdings ist Staffel 2 ähnlich komplex aufgrund des stärkeren Zeitdrucks und neuer Möglichkeiten, die Informationen zu manipulieren.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Osmotic Studios
  • Publisher: Fellow Traveller
  • Plattform: PC
  • Mindestanforderungen: 2 GHz, 4GB RAM, Windows XP SP2, DirectX 9, 3GB Festplatte
  • Genre: Adventure/Simulation
  • Releasedatum: 22.02.2019
  • Spielstunden: 15+
  • Sprachen Oberfläche: Englisch
  • Sprachen Tonausgabe: Englisch
  • Sprachen Untertitel: Englisch
  • Spieleranzahl: 1
  • Altersfreigabe: ohne USK-Prüfung
  • Preis: 9,99 EUR / 14,98 EUR mit Soundtrack
  • Bezugsquelle: Steam

 

Fazit

Für 10 EUR pro Season bekommt der Spieler jeweils eine in sich abgeschlossene Story. Die eingearbeitete Gesellschaftskritik lässt den Spieler seine Handlungen hinterfragen, während das Spiel ihn gleichzeitig, getrieben von Neugier und Spannungsbogen, in der Story weiterzieht. Hier haben Osmotic Studios viel Fingerspitzengefühl bewiesen.

Detektivarbeit und moralische Entscheidungen verbinden sich zu 10 oder mehr Stunden Spielspaß. Allerdings wird vom Spieler verlangt, viele (einfache) Texte zu lesen, oder Telefonaten und Chats zu folgen. Diese kann man in der Regel aber später noch einmal in Ruhe nachlesen – denn was einmal gespeichert ist, bleibt gespeichert.

Während man am generellen Storyverlauf nicht viel verändern kann, kann man sie in Teilen dennoch beeinflussen. Dadurch ist ein Wiederspielwert gegeben, allerdings nur für Enthusiasten, die alle Möglichkeiten erleben möchten.

Orwell – Keeping An Eye On You ist emotional anspruchsvoller als der zweite. Zum einen sind hier mehr Personen an der Handlung beteiligt, bei denen nicht klar ist, ob sie mitschuldig oder unschuldig sind. Bei der Aufklärung kommt der Spieler somit auch ständig mit den privaten Daten unschuldiger Personen in Kontakt, was deutlich zu der Atmosphäre des Spieles beiträgt.

Orwell 2 – Ignorance Is Strength ist kombinatorisch anspruchsvoller und beschäftigt sich generell nur mit Personen, die in irgendeiner Form tatsächlich etwas mit dem Fall zu tun haben. Dadurch hat der Spieler weniger Skrupel, die Daten in Orwell einzupflegen. Allerdings sind hier mehr Falschinformationen im Spiel, durch die die Story gelenkt werden kann.

In beiden Spielen spielt man gegen mehrere Gegner: Die vermeintlichen, die als Schuldige designiert sind, die, die man für tatsächlich schuldig hält und zu guter Letzt gegen sich selbst, denn das eigene Gewissen lässt den Spieler so manche Handlung hinterfragen. Und genau da liegt die Stärke dieser Spiele.

 

Artikelbild: © Osmotic Studios, Screenshots: Hennig Lechner, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur
Dieses Produkt wurde selbst gekauft.

 

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