Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten

Sei es wegen Jobverlust, Kurzarbeit in der Service-Industrie oder Homeoffice: Jetzt, da die COVID-19-Epidemie in unserem Alltag angekommen ist, haben wir mehr Freizeit denn je – müssen aber zu Hause bleiben. Was zunächst wie bittere Ironie wirkt, kann für uns Tischrollenspielerinnen eine Chance sein, zu experimentieren und neue Ideen umzusetzen.

Zunächst einmal: Nein, es ist nicht das Gleiche, online zu spielen. Kein Discord, FaceTime oder Zoom kann menschlichen Kontakt ersetzen. Erwartet nicht die gleiche Atmosphäre wie freitagabends mit den besten Freundinnen am Küchentisch mit Pizza, Bier und Chips. Und darüber zu diskutieren, was besser oder schlechter ist, wenn man ohnehin keine Wahl hat, ist Zeit- und Nervenverschwendung. Nur wenn wir uns von Erwartungen und Konventionen befreien, können wir uns für neue Gedankengänge öffnen. Lasst uns also das Beste daraus machen und ein paar Ideen zum Tischrollenspiel in Isolation sammeln!

Improvisierte Sitzungen

Dass Improvisationstheaterübungen beim Warmwerden fürs Rollenspiel helfen, liegt nahe. Dennoch klammern wir uns als SL oft an einen falsches Gefühl der Sicherheit, indem wir versuchen, durch sehr viel Vorbereitungsarbeit auf jedes Szenario gewappnet zu sein, das den Spielerinnen einfallen könnte. Nicht nur ist es illusorisch, das Chaos, das eine Rollenspielgruppe darstellt, kontrollieren zu wollen, es kann auch dazu führen, dass man sie unbewusst in bestimmte Bahnen zu lenken versucht.

Fürchtet euch nicht vor Kontrollverlust: In Zeiten wie diesen kann es befreiend sein, einfach loszulassen und eine Weile dem Unfug und Albernheiten des inneren Kindes zu frönen. Ja, warum nicht die Spielerinnen mal gegen böse, säurebehandelte Jeans kämpfen lassen?

Also stellt euch die Aufgabe, mindestens ein Element der Sitzung dem Zufall zu überlassen. Fangt klein an! Zuerst einen One-Shot, bei dem ihr das Setting und Charaktere festlegt, aber die Frage nach den Antagonistinnen offen lasst und spontan entscheidet. Dann eine kurze Reihe, in der ihr die Spielerinnen das Setting komplett an Ort und Stelle erdichten lasst. Bis hin zu einer Kampagne, in der die Rolle der SL alle paar Sitzungen wechselt. Dadurch spart ihr Vorbereitungszeit und gebt euren Spielerinnen die Chance, selbst neue Erzählhorizonte zu finden.

Wer ein wenig Lektüre zum Thema Improvisation im Rollenspiel sucht, dem möchten wir an dieser Stelle den Artikel von Teilzeitheldin Myriam ans Herz legen. Außerdem ist das Tool Kobold Fight Club zum Generieren zufälliger Kampfbegegnungen in D&D überaus praktisch und empfehlenswert. Darin stellt man ein, wie viele Spielercharaktere auf welchen Levels teilnehmen, dann die Schwierigkeit des Kampfes und ein paar weitere Parameter, wenn man das Ergebnis beispielsweise nach Umgebung oder Monstertypus filtern will, und schon spuckt es einen Vorschlag aus.

Wohngemeinschaften und Familien rekrutieren

Bis Herbst letzten Jahres wohnte ich in einer 5er-WG mit Mitbewohnerinnen, die immer mal wieder neugierig ihre Köpfe ins Wohnzimmer streckten, wenn ich mich mit Freundinnen zum Spielen traf. Wäre die Pandemie letztes Jahr ausgebrochen, hätte ich sofort eine WG-weite D&D-Kampagne gestartet.

Irgendwann ist jedes Brettspielrepertoire erschöpft.

Denn selbst das Spielerepertoire einer leidenschaftlichen Brettspiele-Horterin ist nach ein, zwei Wochen erschöpft (wobei es dagegen ebenfalls aktuelle Teilzeithelden-Tipps gibt). Jetzt ist die Gelegenheit, frisches Blut ins Tischrollenspiel einzuführen, das Gesellschaftsspiel, das man beliebig oft wiederspielen kann. Selbst wenn ihr selbst noch nie geleitet habt, Anfängerinnen sind in der Regel ein dankbares Publikum, weil sie keine Vergleichspunkte haben. Erwartet nur nicht absolute Regelsicherheit von Anfang an und seid geduldig mit Kindern oder älteren Spielerinnen. Und wer sich unsicher fühlt, kann unseren SL-Tipps-Tag nach Hilfestellungen durchstöbern!

Systeme ausprobieren, die sich mehr auf den Rollenspielaspekt konzentrieren

Wer sonst immer DSA spielt, kann mal in einem FATE-Server vorbeischauen. Warum auf ein System beschränken? Mein Kollege Felix hat es in seinem Plädoyer gegen die System-Monogamie am besten ausgedrückt.

Roll20, Fantasy Grounds und Co

Jetzt möchtet ihr aber trotzdem eure laufenden Kampagnen mit komplexen Regelwerken weiterspielen, die hin und wieder Kämpfe auf Gitterkarten veranschaulichen. Die nächsten drei Abschnitte sind der Darstellung von Kampfszenarien gewidmet und wie man sie im Online-Spiel einsetzen kann.

Was ihr braucht: Eine stabile Internetverbindung, ein Mikrofon und Kopfhörer oder ein Gamer-Headset und ein bisschen Zeit zum Einlesen in die Plattform eurer Wahl.

An dieser Stelle möchte sei die Lektüre einiger älterer, aber durch den höheren Bedarf an Online-Tools zum Rollenspiel brandaktueller Teilzeithelden-Artikel empfohlen.

Der virtuelle Spieltisch.
Ein virtueller Spieltisch auf Roll20.com

Einen für jede SL nützlichen Ratgeber für Online-Anfängerinnen wie alte Hasen gleichermaßen schrieb Yola. Schaut außerdem in unsere Roll20-Reihe rein, die euch ein ausführliches Verständnis des Tools ermöglicht. Vorstellung der Plattform (Marc), diese beiden Makro-Leitfäden (Norbert), einen hervorragenden Ambiente-Lotsen (Yola) und für Fortgeschrittene eine Anleitung für die perfekte Ausleuchtung auf dem virtuellen Spielfeld (Norbert).

Aber lasst euch nicht von der Menge an Lektüre einschüchtern. Habt Mut zur Lücke! Wie auch bei Rollenspielregelwerken müsst ihr nicht alles wissen, um mit dem Spielen anzufangen. Roll20 ist recht intuitiv aufgebaut. Eure Spielerinnen sollten ihre Charakterbögen erstellen, ihr importiert vielleicht ein zwei Tokens, die die Spielercharaktere und ein paar Schlüssel-NSC auf der Battlemap darstellen können – das reicht fürs erste. Man muss nicht jedes Feature kennen, jedes Makro meistern, um ein erfüllendes Spiel zu leiten. Am Tisch sehen meine Maps nicht spektakulär aus; manch denkwürdiger Showdown fand zwischen einem heroischen Flaschendeckel und dem Salzstreuer auf Flipchartpapier statt. Also können die Online Battlemaps am Anfang auch ruhig ein bisschen rudimentär aussehen.

Theatre-of-the-Mind-Kämpfe

Was ihr braucht: Discord. Man könnte die Liste um Skype und ähnliche verbindende Programme erweitern, aber Discord ist im Moment schlichtweg eure beste Option, um euch mit anderen Gamerinnen zu verbinden. Auf diesen Servern tummeln sich ohnehin schon die meisten Rollenspielerinnen, und Würfelbots und andere helfende Tools lassen sich sehr einfach in den Spielkanal der Wahl integrieren. Legt euch einen Account an, wenn ihr noch keinen habt, und helft denjenigen, die sich zunächst nicht zurechtfinden, die App zu meistern, ohne sie auszulachen. Nicht alle Rollenspielerinnen sind mit Games aufgewachsen, also helft ihnen, Zugang zu finden!

SL wie Spielerinnen, vertraut auf eure Fantasie! Ihr würdet diesem Hobby nicht frönen, wenn ihr kein Vorstellungsvermögen hättet und es nicht genießen würdet, damit kreativ zu werden. Wie es die Improvisationsmaxime diktiert: Sagt ja! Und im Zweifelsfall fragt nach: Was beabsichtigst du zu tun?

Lasst die Spielerinnen den Spielort mitgestalten! Wenn sie von einem Kronleuchter schwingen wollen und ihr nicht gerade unter offenem Himmel kämpft, lasst dort einen Kronleuchter sein. Für Spielerinnen gilt es umgekehrt, nicht passiv vor dem Bildschirm zu sitzen, sondern auch aktiv nach kreativen Möglichkeiten zu suchen, den Kampf mitzugestalten. Es nimmt die Verantwortung von den Schultern der SL.

Und mein letzter Pro-Tipp an SL: Erinnert euch am Anfang jeder Runde, die Situation neu beschreiben. Es kann helfen, der Beschreibung buchstäblich einen Initiativewert zu geben und sie mit in die Reihenfolge aufzunehmen.

Abstrakte Battlemaps nutzen

Einen Mittelweg zwischen Kampf auf dem Raster und Theatre-of-the-Mind bietet die Methode der abstrakten Battlemaps. Abstrakt bedeutet hierbei, dass die Dimensionen eines dargestellten Raumes nicht auf das vorgestellte Terrain übertragbar sind. Ein paar Rechtecke mit Beschriftung bedeuten beispielsweise nicht zwangsläufig, dass sie einen rechteckigen Raum darstellen. Solche abstrakten Skizzen sind eher als Schaubild zu begreifen als eine tatsächliche Battlemap.

Was ihr hierfür braucht, abgesehen von einem Kommunikationsweg, sind schlichtweg Stift und Papier. Auch hier kann man natürlich zu einem 3D-Programm upgraden oder etwas bauen, aber der Anspruch dieses Artikels soll es sein, primär niedrigschwellige Methoden vorzustellen, online zu spielen, also bleiben wir vorerst beim namensgebenden „Pen and Paper“. Eine einfache Skizze der Umgebung oder der Räume einer Etage tut es meistens. Teilt sie in Zonen auf, in denen Spielerinnencharaktere grundsätzlich mit einer Bewegung alles erreichen könnten.

Diese Skizze eines Raumschiffs ist beispielsweise eine Orientierungshilfe im Kampf.

Hier gilt es, Bewegungsraten zu vereinfachen. Seid nicht knauserig und haarspalterisch mit Reichweiten von Zaubern und Angriffen. Nützlich hierfür sind die etwa die abstrakten Verortungen von Charakteren aus 13th Age: „in der Nähe“, „mit Gegnerin beschäftigt“, „weit weg“, „dahinter“, „gruppiert“.

Ausführlichere Ratschläge dazu findet ihr im englischsprachigen D&D-Beyond-Artikel zu abstrakten Battlemaps.

Podcasts

Was ihr braucht: Ein Endgerät zum Herunterladen und Abspielen von Podcasts, Kopfhörer und festes Schuhwerk für einen kontaktfreien Spaziergang in der Frühlingssonne.

Es gibt zahlreiche gute Rollenspiel-Podcasts, sowohl über Systeme und Meta-Themen oder Settings, als auch Actual-Play-Podcasts. Letztere bieten eine geradezu unerschöpfliche Inspirationsquelle für eigene Spiele – als Spielerinnen für die eigenen Charaktere und als SL für Setting-Ideen, NSC-Motivationen, Plottwists und so vieles mehr. Und für Kampflustige machen es Podcasts meisterhaft vor: keine Battlemaps, aber großes Kopfkino!

Kürzere Sitzungen

Für alle, die noch nicht online gespielt haben: Lasst euch nicht beunruhigen, wenn es euch plötzlich schwerer fällt, euch auf das Spiel zu konzentrieren, als wenn ihr an einem Tisch sitzt. Der PC verleitet dazu, in einem zweiten geöffneten Tab nebenbei mit einer Freundin zu chatten oder Tetris zu zocken. Erinnert euch immer daran, dass es an einem realen Spieltisch furchtbar unhöflich wäre, nebenbei am Handy zu sitzen, auch wenn man es nicht böse meint. Tipp: ein Post-It zur Erinnerung an den Bildschirm kleben!

Wichtige Informationen mitzuschreiben hilft manchmal, physisch richtig dabeizusein.

Für Spielerinnen mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten sind eigens dafür designte Fidgets oder Ausmalbücher für Erwachsene zu empfehlen. Manchmal tut es auch ein Blatt Papier zum Herumkritzeln. Ich persönlich habe für jede Kampagne, in der ich spiele, ein Heft, in das ich wichtige Informationen mitschreibe. Das hilft mir nicht nur als Erinnerungsstütze, sondern auch um am Spieltisch aufmerksam zu bleiben. Und gerade wenn ein Großteil des Spiels virtuell abläuft, erdet mich die Haptik von Stift und Papier.

Was ebenfalls hilft: Alle Apps und Browser auf dem Endgerät zu schließen, die man gerade nicht benutzt. Eine kurze Pause, in der Spielerinnen und SL sich etwas zu essen holen und auf Toilette gehen, reduziert wie am Küchentisch auch das In-Game-Rausrennen. Dennoch liegt mein persönliches Limit bei etwa dreieinhalb Stunden.

Kürzere Sitzungen müssen allerdings nicht bedeuten, dass man weniger zum Spielen kommt. Gerade jetzt, da viele Arbeitnehmerinnen sich durch Homeoffice die Zeiten flexibler gestalten können, ist es einen Gedanken wert, die zweiwöchentlichen Sonntagstermine zu einem wöchentlichen Termin umzuwandeln. So beläuft sich die Netto-Spielzeit aufs Gleiche, nur mit weniger Anfahrtszeit!

Zusammenfassung

Bleibt flexibel! – Termine, Spielerinnenausfälle, Regeln – alles ist relativ. Bleibt locker und improvisiert!

Werdet aktiv! – Tretet Facebookgruppen bei, legt Discord-Server für eure Freundinnen an, traut euch auch in bestehende öffentliche Server und spielt mit Fremden!

Vertraut auf euer Vorstellungsvermögen! – Gebt euch dem Sog des Charakterspiels und Geschichtenerzählens hin. Immersion kann man nicht nur in beeindruckendem Terrain und zur Perfektion angemalten Minis finden, sondern auch im ureigenen Spieltrieb, der uns als Kinder von Möbelstück zu Möbelstück hat hüpfen lassen, um den Lavaboden zu vermeiden.

Und zuletzt noch ein Extra-Tipp: Macht es euch gemütlich! – Das richtige Licht und ein gediegener Longdrink können schon Wunder für die Stimmung bewirken und laden auch dazu ein, nach der Sitzung den Abend mit einem lauschigen Plausch oder einem lustigen Online-Spiel ausklingen zu lassen.

Artikelbilder: Lara de Simone, © Roll20.com, © olly18, © creatista, © vitrich, © Syda_Productions | depositphotos.com, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

 

Über die Autorin

Lara De Simone ist freie Autorin in den Bereichen Games, TV und Belletristik. Am Rollenspiel fasziniert sie das narrative Potential, das dem gemeinsamen Erzählprozess zwischen Spielleitung und Spielenden innewohnt. Wer mit ihr D&D spielen oder einfach ein Café trinken möchte, kann in Hamburg mit dem Suchen anfangen.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein