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Märchen und Erzählungen sind die Bewahrer unseres kulturellen Wissens, unserer Traditionen und mancher uralter Geheimnisse. Sie verleihen einer Gesellschaft eine Identität. Sie prägen die Art, wie wir denken und leben. Insektenhaus präsentiert uns zum Jahresauftakt einige besonders eindringliche Beispiele der Erzählkunst verschiedener Kulturen, gezeichnet mit starken Strichen und düsterer Feder.

Der Verlag Insektenhaus ist für die tiefgründigen und einzigartigen Comics bekannt, die er hervorbringt. Uns begeisterte er schon einmal mit dem intensiv-melancholischen Band Der Junge lebt im Brunnen von Alexander Kaschte (Samsas Traum) und Jaroslaw Gach. Gach hatte damals schon sein außergewöhnliches Talent unter Beweis gestellt. Auch in diesem Jahr präsentiert er wieder einen ungewöhnlichen Comic, in dem er die Märchen und Geschichten einer fast untergegangenen Kultur lebendig werden lässt.

Märchenhaft zeigt sich auch die ungewöhnliche und völlig textfreie Interpretation von Rotkäppchen, mit der Danijel Zezelj die Leser*innen in seinen Bann ziehen möchte. Dass dieser Künstler zu berühren und beeindrucken versteht, belegt er auch in Niemand außer dir, einer intensiven Erzählung über die Macht des Krieges.

Die Kunst des Geschichtenerzählens und die wahre Macht von Märchen und Erzählungen ist es, Herzen und Seelen mit ihren versteckten Nuancen zu anzurühren. Gelingt dies im Jahresauftakt von Insektenhaus?

Märchen aus dem Ermland – Das Erbe einer fast verloschenen Kultur

Das Ermland ist ein kleines, in Nordpolen gelegenes Gebiet, durchzogen von tiefen Wäldern und kristallklaren Seen. Einst war es die Heimat der Prußen, eines Volkes, das sich im Zuge der mittelalterlichen Siedlungspolitik nach und nach mit Deutschen und Polen, die sich hier niederließen, durchmischte. So entstand eine einzigartige Mischkultur, in der sich Bräuche und Geschichten der drei Völker vereinten. Autor Marcin Wakar bewahrt im vorliegenden Band das Erbe dieser vor dem Vergessen.

Die Handlung

Der Band umfasst drei wunderschöne und stimmungsvolle Märchenerzählungen. Beim Lesen wird man Zeuge, wie ein Bauer sich in eine Maid verliebt, die in Wahrheit ein verzauberter Schwan ist. Doch List und Missgunst treiben einen Keil zwischen die Liebenden und so macht sich der junge Bauer auf die Suche nach den Geheimnissen des mysteriösen Glasberges, um seine Braut wieder zurückzugewinnen.

Das zweite Märchen handelt von der rätselhaften Insel Lalka und wie sie plötzlich auf dem See entstand. Es ist eine unheimliche Geschichte um Liebe und Hexerei, um Abenteuer und Geheimnisse.

Die letzte Geschichte schließlich begleitet einen Jungen, der mit einem silbernen Löffel geboren wurde. Eine alte Prophezeiung besagt, er sei auserwählt, die Tochter des Königs zu heiraten. Das trifft auf den Unwillen des Königs. Doch die Gier nach einem Schatz und das Eingreifen des Teufels bringen das Schicksal ins Wanken.

In kurzen und sehr prägnanten Texten gelingt es Marcin Wakar, die Leser*innen tief in die Welt der Geschichten hinzuziehen und das Geschehen vor dem inneren Auge lebendig werden zu lassen. Man schmunzelt, fiebert mit den Protagonisten und hat das heimelige Gefühl, man säße an einem abendlichen Lagerfeuer und lausche der Stimme eines Geschichtenerzählers.

Die Zeichnungen

Die Zeichnungen von Jaroslaw Gach bestechen wieder einmal durch die dichte Atmosphäre, die sie zu erzeugen vermögen und die perfekt zu der Stimmung der Märchen passt. Der Ausdruck der Figuren und die Einbeziehung von Natur und Lichtverhältnissen lässt beim Betrachten an klassische Fantasy, aber auch an osteuropäische Märchenfilme denken. Die Szenerie des lange vergessenen Ermlandes und der Charakter seiner Bewohner werden greif- und erlebbar. Die Betrachtenden können sich dem Zauber dieser magischen Welt kaum entziehen.

Die harten Fakten

  • Autor*in: Marcin Wakar
  • Zeichern*in: Jaroslaw Gach
  • Seitenzahl: 64
  • Preis: 16,80 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Rotkäppchen – Finsterer war ein Wald noch nie

Das Märchen vom Mädchen, das den Mahnungen seiner Mutter zum Trotz in den Wald geht, um dem Wolf zum Opfer zu fallen, ist allgemeines Kulturwissen. Es diente schon manchem erzieherischen Auftrag: dem Aufruf zum Gehorsam, der Warnung vor den Gefahren jenseits des Weges oder dem Hinweis auf die Gefahren sexuellen Missbrauchs. Die meisten von uns haben schon zahlreiche Interpretationen des Stoffes zu Gesicht bekommen – mal kindlich-naiv, mal in Form eines Horrorfilms oder erschreckenden Gemäldes.

Die Handlung

Danijel Zezelj wählt einen sehr eigenen Ansatz. Er erzählt tatsächlich die klassische Variante der Gebrüder Grimm, in der sich ein Mädchen mit Kapuze auf den Weg durch den Wald macht, um der Großmutter Kuchen und Wein zu bringen. Doch das Kind kommt vom Weg ab, trotz der Mahnungen der Mutter, und gerät so in die Fänge des Wolfes, der sich sowohl Großmutter als auch Kind einverleibt. Doch Zezelj legt seinen Fokus nicht so sehr auf das Mädchen, sondern vielmehr auf den Jäger, der hier eine Art archaischer Rächer zu sein scheint, sehr urtümlich, wild und ungezähmt. Zezelj gelingt so ein ungewöhnlicher, beeindruckender Twist, der dem Märchen eine völlig neue, düstere und anderweltliche Atmosphäre verleiht. Dabei verzichtet der Autor vollkommen auf Text.

Die Zeichnungen

Statt Worte lässt Zezelj seine Bilder für sich sprechen. Diese schwarz-weißen Zeichnungen, die mit intensivem und düsterem Strich gestaltet sind, dringen augenblicklich in die Seele der Betrachtenden vor, erfassen die Emotionen und macht das Betrachten zu einem Erlebnis, das die Betrachtenden verfolgt. Es gleicht einer Heimsuchung, so düster, bedrückend und doch faszinierend wirken die Tuscheverläufe. Das Urtümliche ist ein greifbares Element, die Ursprünglichkeit wird zur Zelebration. Dieser Comic ist durch die Intensität seiner Bilder kein Unterhaltungswerk. Die Comickunst wird gelegentlich als die neunte Kunst bezeichnet. Dieser Bezeichnung macht Zezelj alle Ehre.

Die harten Fakten

  • Autor*in: Danijel Zezelj
  • Zeichern*in: Daniel Zezelj
  • Seitenzahl: 56
  • Preis: 12,90 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Niemand außer dir – von Macht und Ohnmacht

Wer von Zezeljs Kunst nicht genug bekommen kann oder sich auch an etwas anderem versuchen möchte als märchenhaftem Stoff, dem sei Niemand außer dir an Herz gelegt. Doch Vorsicht: dieser Band ist nichts für schwache Nerven, denn er konfrontiert uns mit einem Thema, das erschüttert: die Macht und Ohnmacht des Krieges und seiner Opfer.

Die Handlung

Die Beschreibung der Handlung dieses Comics muss man anders beginnen als gewohnt: am Ende. Zezelj lässt seine Erzählung mit einem Gedicht des russischen Schriftstellers Daniil Harms enden, der von 1905 bis 1942 lebte und so die Schrecken zweier Weltkriege miterleben musste. Dementsprechend erschütternd sind seine Worte, wenn er vom Sterben und dem Besuch der verstorbenen Seele am Fenster der Liebenden spricht.

Genau diese verstörende und aufwühlende Stimmung macht sich der Comic zu eigen. Alles beginnt mit dem Brief aus dem Leichensack eines jungen Soldaten und der Brief ist auch die erzählende Stimme der Geschichte. Der Soldat, der seinen Tod kommen spürt, malt sich aus, welche Folgen sein Verscheiden für seine Lieben haben wird. Sein Tod setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, die die Leere und Sinnlosigkeit beschreibt, die der Krieg hinterlässt. Leser*innen spüren Verzweiflung und Bitterkeit, aber auch tausende ungestellte Sinnfragen auf jeder einzelnen Seite dieses Bandes.

Die Zeichnungen

Der Künstler schafft es erneut, mit seinen intensiven Schwarz-Weiß-Illustrationen, die nicht an Tusche sparen, die Stimmung einzufangen und die Leere Gestalt annehmen zu lassen. Die Betrachtenden reisen in seinen Bildern durch eine zerrüttete Landschaft, die Los Angeles sein könnte. Alles ist aber so verfremdet, dass es im Grunde überall sein könnte, und tatsächlich spielt die räumliche Einordnung kaum eine Rolle. Denn der Comic transportiert allgemeingültige, von Ort und Zeit losgelöste Wahrheiten. Er führt uns die Sprachlosigkeit gegenüber dem Unverstehbaren, die Machtlosigkeit gegenüber dem Unvermeidlichen mit gnadenlosen Tuschestrichen vor Augen. Dieser Comic ist nichts für schwache Nerven und keine Lektüre für zwischendurch. Dabei bedarf es keiner blutigen Bilder, die Atmosphäre allein erschafft einen unglaublichen Druck und eine gewaltige Emotionalität.

Die harten Fakten

  • Autor*in: Daniel Zezelj
  • Zeichern*in: Daniel Zezelj
  • Seitenzahl: 72
  • Preis: 14,90 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon

 

Fazit

Insektenhaus liefert mit seinem Jahresauftakt ein Festival der Erzähl- und Zeichenkunst. Die recht seitenschwachen Comics mögen auf den ersten Blick etwas kostspielig erscheinen, doch die hochwertige Hardcover-Bindung, das große Format und die Qualität des Papiers rechtfertigen den Preis.

Märchen aus dem Ermland ist eine wunderschöne Sammlung dreier Märchen, die das kulturelle Erbe eines fast vergessenen Völkergemisches auf polnischem Boden bewahrt. Einfühlsam und spannend sind diese Geschichten, voller Zauber und Hexen, Teufel, Drachen und Riesen. Wer osteuropäische Märchenfilme schätzt, aber auch, wer der Verbundenheit dieses alten Volkes mit der Natur und der Geschichte eines Landes voller Seen und Wälder nachspüren möchte, der sollte hier auf seine Kosten kommen.

Ich finde es immer wieder mutig, wenn jemand eine neue Interpretation eines scheinbar so abgegriffenen Stoffes wie Rotkäppchen versucht. Denn eigentlich, so glaubt man schnell, ist bereits alles zu dieser Geschichte gesagt, jede Facette bereits beleuchtet und jede Variante erzählt. Und dennoch gelingt es Danijel Zezelj, in seinem farb- und textlosen Werk eine neue, düstere Seite der Geschichte anzusprechen. Er setzt den Jäger in das Zentrum seiner Erzählung und lässt mit seinen sehr intensiven Zeichnungen eine urtümliche Welt wach werden, in der Gut und Böse nie klar getrennt sind und das Grauen greifbar zu werden scheint.

Ebenso manifest wird in seiner Geschichte Niemand außer dir die Ohnmacht der direkten und indirekten Opfer eines Krieges. Ein Brief aus einem Leichensack lässt die Lesenden der Stimme des Todes folgen, die letztlich zu Sprach- und Fassungslosigkeit gegenüber der gewaltigen Leere führt, die der Krieg hinterlässt. Dieser Comic ist nicht für jede Leser*in geeignet, denn er spricht unmittelbar das Gefühl der Machtlosigkeit in jedem von uns an.

Insgesamt belegen diese Erzählungen, warum die Comickunst gerne als die neunte Kunst bezeichnet wird. Denn es handelt sich nicht um schnell konsumierbare Geschichten, die man schnell hinter sich lässt, sondern um Werke, die die Lesenden lange beschäftigen und zu geliebten Kleinodien in der Sammlung werden können.

 

Artikelbilder: © Insektenhaus
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Nina Horbelt
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.

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