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An der Marquette University in Wisconsin, USA, sind unter anderem die originalen Manuskripte von Tolkiens Der Herr der Ringe zu finden. William „Bill“ Fliss, Archivar und Kurator der Sammlung, führt neben seiner alltäglichen Arbeit regelmäßig Interviews mit Tolkien-Fans – wir haben den Spieß umgedreht und mit ihm gesprochen.

William „Bill“ Fliss © Marquette University Archives

William “Bill” Fliss arbeitet als Archivar und Kurator an der Marquette University, Wisconsin, USA. Er betreut seit Jahren das Tolkien Fandom Oral History Collection-Projekt, welches zum Ziel hat, Fans von Tolkien zu Wort kommen zu lassen. Was genau dieses Projekt beinhaltet, wie es abläuft, wie ihr mitmachen könnt und noch so einiges mehr, verrät uns Bill im Interview.

Das Interview

Teilzeithelden: Hallo Bill! Vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Bevor wir zum eigentlichen Thema kommen, erzähle uns doch etwas über dich selbst.

Bill: Nun, ich bin verheiratet, aber wir haben keine Kinder. Ich komme aus einer großen Familie; ich bin das jüngste von sechs Kindern. Ich wohne schon mein ganzes Leben lang in Wisconsin, USA, und erst im letzten Jahrzehnt hatte ich wirklich die Gelegenheit, zu reisen. Ich war im Grunde immer ein eher engstirniger kleiner Hobbit aus dem Südosten Wisconsins – nicht xenophob, nur ein wenig isoliert. Als Kind und Jugendlicher hat es mir Spaß bereitet, die Welt durch Bücher zu erkunden.

Die Raynor Library der Marquette University – Bills Arbeitsplatz. © Marquette University Archives

Teilzeithelden: Du arbeitest als Archivar und Kurator der J.R.R. Tolkien Collection an der Marquette University in Wisconsin. Woraus genau besteht deine Arbeit und was findet man in besagter Sammlung?

Bill: Ich bin seit 2012 Kurator der Tolkien Collection, als Archivar arbeite ich aber bereits seit 2013 an der Marquette. Der vorherige Kurator trat eine andere Arbeitsstelle an, und so kam ich ins Spiel. Schon in jungen Jahren war ich ein Tolkien-Fan, das half mir dabei, eine Beziehung zu der Sammlung aufzubauen. Ich besaß bereits ein fundiertes Wissen über das Legendarium, aber es gab zusätzlich so viel darüber zu lernen, was in der Marquette-Sammlung zu finden ist.

Das Herz der Sammlung sind die originalen Manuskripte, die die Universität 1957 direkt von Professor Tolkien gekauft hat. Wir besitzen die Manuskripte von Der Hobbit, Der Herr der Ringe, Farmer Giles of Ham und Mr. Bliss. Die Sammlung hat einen enormen Umfang; über 11.000 Seiten, die meisten davon dem Der Herr der Ringe-Manuskript zugehörig. Wer die History of Middle-earth-Reihe kennt: Christopher Tolkien hat die Bänder mithilfe der Marquette-Sammlung verfasst.

Im Verlauf von mehr als 40 Jahren ist die Sammlung über die Manuskripte hinaus gewachsen und durch Sekundärwerke (Dissertationen, Bücher, Artikel und dergleichen) über Tolkien, aber auch über Einträge, die die Geschichte des Tolkien-Fandoms dokumentieren, ergänzt worden. Im Grunde ist mein Job, die Sammlung stetig zu erweitern und Forschern und Wissenschaftlern dabei zu assistieren, das zu nutzen, was wir bereits zusammengetragen haben.

Eine der Boxen, die Teile des Manuskripts von Der Herr der Ringe enthalten. © Marquette University Archives

Teilzeithelden: Neben der Tolkien Collection gibt es noch ein weiteres Projekt mit Bezug zu dem Professor an der Universität. Was genau ist die J.R.R. Tolkien Fandom Oral History Collection – und wie funktioniert sie?

Bill: Ich erwähnte vorhin, dass wir uns auch bemühen, dass Tolkien-Fandom zu dokumentieren. Dies nahm bereits in den späten Sechzigern seinen Anfang, als wir die Sammlung um Fan-Magazine mit Tolkien-Bezug erweiterten. Um das Jahr 2000 herum wurde das Fandom digitaler und bewegte sich nach und nach von Print-Formaten fort. Ich brauche niemandem hier zu erzählen, dass das Internet eine unglaubliche Auswirkung auf Tolkien-Fandom im Allgemeinen hatte! Es ist atemberaubend, wie Social Media dabei geholfen hat, Tolkien-Fans zusammen zu bringen und eine Community zu bilden.

Die Tolkien Fandom Oral History Collection habe ich als einen weiteren Weg, das Fandom zu dokumentieren, ins Leben gerufen – über das reine Sammeln von Tolkien-Websites hinaus. Die Idee kam daher, dass wir im Grunde eine Art Pilgerstation für Tolkien-Fans sind. Fans aus der ganzen Welt, die durch Milwaukee reisen, kommen zur Marquette, um dort einen Blick auf die Tolkien Collection zu erhaschen. Nachdem ich einige dieser Leute getroffen und mich mit ihnen unterhalten hatte, wurde mir klar, dass ich diese Geschichten festhalten sollte!

Das hat dazu geführt, dass ich kurze (bis zu drei Minuten lange) Testimonials von Fans aufnehme. Es gibt drei Fragen, die diesen dreiminütigen Monolog begleiten: Wann bist du das erste Mal mit Tolkiens Arbeit in Kontakt gekommen? Warum gefällt dir Tolkien? Was bedeutet Tolkien für dich? Ich nehme diese Interviews auf, transkribiere sie und veröffentliche die Aufnahmen und die Transkripte auf der Website der Marquette University.

Die Webseite des Tolkien Fandom Oral History Collection-Projekt. © Marquette University Archives

Teilzeithelden: Das klingt so, als ob jede Person an diesem Projekt teilnehmen könnte, alters- und wohnortsunabhängig. Wenn nun ein*e Leser*in teilnehmen möchte, wie wäre das zu arrangieren?

Bill: Ja, jede Person kann mitmachen, solange sie Tolkien-Fan ist. Darüber hinaus gibt es keine Vorgaben, auch kein Mindestlevel an Tolkien-Fandom. Jede*r ist willkommen. Wer teilnehmen möchte, unterzeichnet eine Einverständniserklärung darüber, das Interview der Marquette University zur Verfügung zur stellen. Minderjährige benötigen die Zustimmung einer erziehungsberechtigten Person; außerdem wir das Interview erst veröffentlicht, wenn die Person das 18. Lebensjahr erreicht hat.

Wer mitmachen möchte, und ich möchte jede*n ausdrücklich dazu ermutigen, kann sich einfach einen Termin über unsere Website heraussuchen. Da die Testimonials sehr kurz sind, dauert auch der Termin nur wenige Minuten in Form eines gemeinsamen Zoom-Calls.

Teilzeithelden: Das Projekt läuft bereits seit einer guten Weile und du hast bereits viele Interviews geführt und veröffentlicht. Hast du bei diesen Gesprächen etwas gehört, was sich von vielen anderen Interviews abhebt, oder gibt es Antworten, die viele Interviews gemeinsam haben?

Bill: Als ich aufwuchs, hatte Tolkien den Ruf, ein Autor für Jungs zu sein. Es gab nicht viele Mädchen, die Tolkien lasen; oder wenn es sie gab, dann sah ich sie nicht. Ich war also sehr überrascht und erfreut darüber, dass ungefähr die Hälfte der Interviews bisher mit Frauen geführt wurden.

Es gibt viele herausstechende Interviews. Manche haben mich beinahe zum Weinen gebracht, als ich sie erstmals hörte. Diese Gespräche können rasch sehr persönlich werden. Was mir immer wieder begegnet, ist, dass Tolkiens Arbeit vielen Menschen durch harte Zeiten geholfen hat. Er bringt den Menschen Hoffnung. „Wenn Frodo und Sam den Schicksalsberg erreichen konnten, dann werde ich auch mit meiner Situation fertig“, wie ein Interview-Partner sagte. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wieviel Stärke er Menschen gibt, die sich in schwierigen Situation wiederfinden: von der Pandemie über Suchtkrankheiten, Behinderungen, Mobbing et cetera.

Teilzeithelden: Irgendwann sind die 6.000 Interviews, die im Rahmen des Projekts erfasst werden sollen, geführt. Was geschieht dann mit diesen? Welche wissenschaftlichen Nachforschungen werden angestellt und wie werden die Ergebnisse präsentiert?

Bill: Ich hoffe, ich komme auf diese 6.000 Interviews! Manchmal bezweifle ich, dass ich wirklich so weit komme. Ich füge die Interviews in Éoreds von 120 in die Sammlung ein, eine Hommage an die Musterung der Rohirrim. Die Interviews stehen online zur Verfügung, sodass alle sie studieren und sich daran erfreuen können. Zusätzlich zu den mündlichen Interviews habe ich die transkribierten Texte und deren Metadaten zu einer einfachen Datenbank innerhalb der Marquette zusammengefasst, welche für weitere Analysen zugänglich ist. Ich kann nicht vorhersagen, welche Forschungsprojekte sich daraus ergeben werden; das ist Aufgabe anderer Leute. Mein Job ist es, diese Daten verfügbar zu machen. Es gibt viele interessante Fragestellungen, die man verfolgen könnte: Welche Wörter werden häufig genutzt, um Tolkiens Arbeiten zu beschreiben? Welchen Einfluss hatten die Peter-Jackson-Filme auf das Fandom? Wie ändert sich das Verhältnis eines Fans zu Tolkien an verschiedenen Punkten im Leben? Und das sind nur einige.

Teilzeithelden: Vielen Dank für diese Einblicke in das Projekt! Kommen wir nun zu einigen Fragen, welche direkt im Zusammenhang mit Tolkien stehen. Wie bist du selbst denn das erste Mal mit den Werken von Tolkien in Berührung gekommen?

Bill: Nun, ich plane, Interview Nummer 6.000 für mich selbst zu reservieren, also werde ich hier nicht viel verraten! Kleiner Scherz – wenn dieses letzte Interview stattfindet, werden sich meine Antworten wahrscheinlich von denen, die ich nun gebe, unterscheiden. Was sich natürlich nicht ändern wird, ist, wie ich zuerst mit Tolkien in Berührung gekommen bin. Wie viele Menschen in meinem Alter gehöre ich zu denen, die die Rankin Bass-Adaption von Der Hobbit gesehen haben, die in den USA in den Siebzigern lief. Ich mochte die Geschichte und las irgendwann das Buch. Der Herr der Ringe las ich mit elf Jahren, ich fand es gut, auch wenn ich heute weiß, dass mein damaliges Verständnis sehr oberflächlicher Natur war. Das Silmarillion las ich mit 14 Jahren – und ich verliebte mich darin. Es wurde zu meinem ständigen Begleiter, als ich ein Teenager war. Ich dachte jahrelang, dass ich die einzige Person war, der Das Silmarillion besser gefällt als Der Herr der Ringe. Eine weitere spannende Erkenntnis aus den Interviews lautet, dass es sehr viele Fans gibt, deren Lieblingswerk von Tolkien Das Silmarillion ist.

Teilzeithelden: Warum bist du selbst Tolkien-Fan? Da wir mehr als drei Minuten Zeit haben, möchten wir noch präzisieren: Gibt es ein Lieblingsthema, eine Lieblingsszene oder einen Lieblingscharakter?

Bill: Zusätzlich zu meinem Dasein als Archivar bin ich auch ein Geschichtsstudent. Tatsächlich schreibe ich grade an einer Dissertation, die gar nichts mit Tolkien zu tun hat; aber ich würde sagen, dass mich das Legendarium immer als ein historisches Werk angezogen hat, das studiert werden kann. Ich habe so viele erbauliche Stunden aus diesen Werken gezogen. Ich bin kein Linguist. Tolkiens erfundene Sprachen stehen nicht im Zentrum meiner Wertschätzung als Fan, obgleich ich sie bewundere. Es ist dieses Gefühl von Geschichte, das mich eingefangen und festgehalten hat. Nun, wo ich älter werde, sind die moralischen Lehren der Handlung wichtiger geworden.

Die Präzisierung der Frage verlangt nach einer langen Antwort. Ich konzentriere mich auf die Frage nach dem Lieblingscharakter: Faramir. Er gefällt mir aus vielen Gründen: Zunächst hat Tolkien ihm einige der besten Dialogzeilen in Der Herr der Ringe gegeben. Die Prosa im Kapitel „Das Fenster nach Westen“ ist unglaublich reichhaltig. Für mich ist Faramir die perfekte Mischung aus einem Krieger und einem Gelehrten. Er ist ein nachdenklicher, belesener Mann – aber auch jemand, der entschieden handelt: ein „Denker in Aktion“, was mir sehr gut gefällt. Faramir verkörpert viele Tugenden, die ich bewundere: Mut. Loyalität. Umsicht. Respekt der Tradition und der Pflicht gegenüber. Mitgefühl. Gerechtigkeit. Demut. Er ist bei weitem nicht der einzige Charakter, der diese Tugenden ausstrahlt, aber für mich war Faramir immer etwas Besonderes. Er ist kein Maia wie Gandalf; er hat keine übernatürlichen Fähigkeiten oder eine Voraussicht. Im Gegensatz zu Aragorn ist er auch nicht dadurch motiviert, Königreiche zu vereinen und die Frau, die er liebt, zu ehelichen. Er ist ein Mensch, der sich selbst kennt, der die Kultur und die Werte verkörpert, die Númenor einst groß gemacht haben, und er kämpft für das Gute in einer dunklen Zeit, in der es kaum Hoffnung gibt. Ich glaube, es sind Menschen wie Faramir, welche das Fundament jeder guten Gesellschaft bilden. Und so ist er für mich zu einer Quelle der Inspiration und des stetigen Strebens geworden.

Teilzeithelden: Vielen Dank für diese sehr berührende Antwort. Kommen wir zur letzten der drei Fragen, die du selbst stellst: Was bedeutet Tolkien für dich?

Bill: Viele antworten auf diese Frage, dass sich Tolkiens Bedeutung mit den Jahren verändert. Das verhält sich für mich genauso. Als Kind war er Ablenkung und Abenteuer. Als Teenager hat er mir Halt gegeben. Als Erwachsener gibt er mir weisen, moralischen Rat, ausgesprochen durch seine Charaktere. Aber das meiste bedeutet er mir wohl im professionellen Rahmen; schließlich verbringe ich den großen Teil meines Arbeitstages damit, über ihn nachzudenken!

Teilzeithelden: Bill, wir bedanken uns herzlich dafür, dass du dir Zeit für uns genommen hast. Gibt es noch irgendetwas, was du unseren Leser*innen mitteilen möchtest?

Bill: Die meisten Testimonials für die Sammlung sind zwar englischsprachig, aber wenn jemand in deutscher Sprache seine Erfahrung teilen möchte, ist das auch möglich und ich freue mich darauf! Ich kenne einige gute Übersetzer*innen.

Artikelbilder: © Marquette University Archives
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Nina Horbelt

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