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Die Sußner-Brüder führen zurück nach Somorra, der korrupten Stadt voller Abschaum und Verkommenheit. Nachdem man sich im ersten Teil mit korrupten Polizist*innen und Verbrecher*innen herumschlug, geht es diesmal um geisterhafte Schrecken, die in den Albträumen der Somorrer lauern. Kann Stadt der Träume an die guten Seiten des ersten Bandes anschließen?

Stadt der Träume ist das zweite Spielbuch der Somorra-Trilogie der Brüder Christian und Florian Sußner. Im ersten Band, Stadt der Lüge, spielt man eine junge Polizistin, die von ihrem korrupten Boss erpresst wird. Stadt der Träume erzählt eine unabhängige Geschichte mit einem neuen Protagonisten, die sich ungefähr zeitgleich zum ersten Band ereignet. Statt eines dreckigen Noir-Thrillers erwartet einen diesmal eine Albtraumreise in den Untergrund der Stadt.

Somorra von oben

Handlung

Der namenlose Protagonist ist ein 19-jähriger Mann, der sich mehr schlecht als recht als Küchenhilfe im Waisenhaus, in dem er aufwuchs, durchschlägt. Einige Tage zuvor starb sein bester Freund Ringo an einer Überdosis. Nun wacht der Protagonist plötzlich in der Psychiatrie auf, am Bett festgebunden, mit einer Nadel im Arm, durch die ihm eine gelbe Flüssigkeit infundiert wird. Außerdem wird er von Träumen geplagt, in denen ihn der Schrammenschreck jagt. Dieser ist eine berüchtigte Sagenfigur der Stadt: Wer von ihm im Traum getötet wird, stirbt auch in Wirklichkeit. Er muss nun also aus der Psychiatrie ausbrechen, herausfinden, was es mit Ringos Tod wirklich auf sich hat und den Fluch des Schrammenschrecks brechen… und das alles, bevor er das nächste Mal einschläft.

Anders als in der Noir-orientierten Stadt der Lüge ist die Handlung dieses Mal merklich Richtung Horror orientiert, mit einem gewissen Einfluss von Wes Craven. Es gab zwar auch im Vorgängerband einige übernatürliche Elemente, wie den auch dort vorkommenden Schrammenschreck, Stadt der Träume geht jedoch um einiges weiter. Nach ungefähr dem ersten Viertel der Geschichte betritt man die Traumwelt, in welcher das Buch sogar fast zur Fantasy wird.

Der erste Abschnitt spielt jedoch noch im Hafenviertel von Somorra. Dort muss man Cosmar finden, den einzigen, der weiß, wie man den Schrammenschreck besiegen kann. Das Hafenviertel ist ein sehr offenes Gebiet. Es gibt drei große Hauptpfade, um das Ziel zu erreichen, mit vielen kleineren Variationen wie genau man diesen folgt und mit freiem Wechsel zwischen den Pfaden. Und das alles gibt es in doppelter Ausführung, je nachdem ob man beim Ausbruch aus der Psychiatrie eine Mitinsassin befreit hat oder nicht. Sobald man im folgenden Kapitel die Traumwelt körperlich betritt, wird es jedoch deutlich linearer. Man hat immer noch die Wahl zwischen mindestens zwei Wegen, diese führen aber nach ein oder zwei Ereignissen wieder zusammen. Auch die Befreiung der Mitinsassin spielt keine Rolle mehr. Das Ende ist auch grundsätzlich gleich. Die Unterschiede liegen weniger in Entscheidungen und mehr darin, wie viele Leute man retten konnte.

Sobald man die Traumwelt betreten hat, spielt auch der Glaube eine große Rolle. Um Untote zu bekämpfen muss man Weihwasser weihen, gegen Albtraumwesen ein sokratisch-humanistisches Mantra aufsagen. Die Problematik darin, beides zu kombinieren, wird sogar im Buch angesprochen. Außerdem muss man sich Prüfungen von Tugend und Sünde stellen. Die Autoren erwähnen, dass ihnen Dantes Göttliche Komödie eine große Inspiration war, teilweise erinnert die Traumwelt aber mehr an Bunyans Pilgrim’s Progress. Das ist nicht unbedingt schlecht, aber überraschend bei Somorras sonstiger Sin-City-Präsentation.

Das Motiv sexueller Gewalt tritt in Stadt der Träume weniger oft auf als in Stadt der Lüge. Das mag natürlich daran liegen, dass die Spielfigur diesmal männlich ist. Es gibt aber einen Handlungspfad im Hafenviertel, bei dem man für die sexuellen Gelüste eines kriminellen Beamten eine Frau entführen muss. Man kann bis zuletzt abbrechen, und der Auftraggeber sowie die Folgen der Entführung werden sehr negativ dargestellt. Dadurch, dass später in der Traumwelt nichts dergleichen mehr auftritt, wirkt dieser Aspekt auch stark mit der Stadt und ihrer überzeichneten, dystopisch-kriminellen Art verbunden. Selbst die Sünde der Wollust, der man sich in der Traumwelt stellen kann, wird deutlich weniger offensichtlich dargestellt, fast dezent angedeutet.

Insgesamt sind die Figuren und Fraktionen eher geradlinig dargestellt: Kriminelle, korrupte Beamte, Untote, Albtraumwesen und Monster sind böse, der Stamm des Wasservolks, Priester und Engel sind gut. Spannung, wem man vertrauen sollte, tritt auch hier eher im Hafenviertel auf, da man dort zwischen verschiedenen bösen Möglichkeiten die am wenigsten bösen als Verbündete auswählen muss. In der fast schon allegorischen Traumwelt ist das deutlicher, obwohl es auch dort vereinzelte Überraschungen gibt.

Insgesamt funktioniert die Handlung gut, motiviert zum Weiterlesen und bleibt spannend.

Der Alptraum beginnt

Regeln

Die Regeln von Stadt der Träume sind im Vergleich zu Stadt der Lüge etwas ausgebaut. Stadt der Lüge war für ein Spielbuch noch vergleichsweise nahe am regellosen „1000 Gefahren“ Stil. Anstatt eines Zeitlimits, das Aktionen beschränkt, gibt es hier allerdings ein Inventar und ein Kampfsystem. Von einem regelbasierten Solo-Abenteuer wie dem ersten Spielbuch der Sußner-Brüder, Das Feuer des Mondes, ist Stadt der Träume trotzdem noch entfernt.

Wie Das Feuer des Mondes weist auch Stadt der Träume einen starken Einfluss von Videospielen auf. Je nach erreichtem Ende erhält man eine andere Punktzahl. Zusätzlich gibt es Erfolge, wie Videospiel-Achievements, die weitere Punkte geben und die Wertung hochtreiben. Im Kontext des restlichen Spielbuchs erinnert das an alte Text- und Point-and-Click-Adventure wie zum Beispiel von Sierra. Die Codewörter funktionieren wie bei Fabled Lands/Legenden von Harkuna. Während man spielt, erhält man Codewörter und dazugehörige Abschnittsnummern. Manche Entscheidungen verweisen dann nicht auf Abschnitte, sondern auf Codewörter, bei deren jeweiliger Nummer man dann weiterliest. Man beginnt zum Beispiel mit dem Codewort WASSER. Nachdem man diesen Abschnitt das erste Mal aufgesucht hat, erhält man aber eine andere Nummer für WASSER, sodass man beim nächsten Besuch in einer anderen Szene landet. So „merkt“ sich das Spielbuch Entscheidungen, ein sehr gut funktionierendes System.

Falls man sterben sollte, gibt es eine „Schummeltabelle“. Das ist praktisch ein analoges Auto-Save-System. Zu jedem Abschnitt, an dem man gestorben ist, gibt es dort einen Speicherabschnitt, bei dem man weitermachen kann, meistens kurz vor dem Tod. Dafür bekommt man am Ende einen Punkteabzug. Die Idee ist eigentlich gut, passt aber nicht so richtig zu diesem Spielbuch. Stadt der Träume hat nämlich keine Zufalls-Entscheidungen. Daher landet man manchmal kurz vor einem Abschnitt mit zwei Entscheidungsmöglichkeiten, bei dem man von einer schon weiß, dass sie zum Tod führt. Bei solchen binären Entscheidungen könnten Leser*innen sich die Tabelle sparen und gleich mit der anderen Entscheidung fortfahren. Dieses Potenzial zum Schummeln ist aber ein eingebautes Problem bei Spielbüchern und die Tabelle ist keineswegs der schlechteste Versuch, eine Alternative zu bieten.

Es gibt auch Regeln, um dem Traumfluch des Schrammenschrecks auszuweichen. Gewisse Anzeichen, wie das Auftauchen schwarzer Tiere, Veränderungen in der Umgebung und allgemein Surreales, weisen darauf hin, vom Schrammenschreck in einen Albtraum gezogen worden zu sein. Sogar nach dem man die Traumwelt betreten hat, kann der Schrammenschreck einen in eine noch tiefere Ebene des Träumens ziehen. Wenn man dies anhand der Anzeichen bemerkt, kann man zum Abschnitt davor springen, um aufzuwachen. Dies geht allerdings nur bis im Fließtext, mitten im Satz, die Worte memento mori auftauchen. Danach ist die Fluchtmöglichkeit verpasst und man wird vom Schrammenschreck getötet. Die Aufwachmethode funktioniert gut, das memento mori ist allerdings problematisch. Auch dies erinnert an Videospielmechaniken, wie ab einer bestimmten Stelle nicht mehr speichern oder laden zu können. Allerdings ist es oft zu unauffällig im Text platziert, oder so früh im Absatz, dass schnelles Lesen darauf stoßen lässt, bevor man auf Traumhinweise reagieren kann. Ähnlich wie die Schummeltabelle ist auch dies keine schlechte Idee, hapert aber noch etwas an der Umsetzung.

Zuletzt hat mit Stadt der Träume auch noch ein Kampfsystem Einzug in die Somorra-Reihe

Ein Wort zu weit und man ist tot

gehalten. Dies ist allerdings kein Rollenspiel-System mit Würfeln oder Werten. Stattdessen bekommt man das Notizbuch von Cosmar, in dem er zahlreiche Monster kategorisiert hat. Wenn man in einen Kampf gerät, muss man mit dem Notizbuch den Gegner ermitteln. Wie viele Beine hat der Gegner? Fell, Flügel, Reißzähne, Augenfarbe? Im Notizbuch steht dann eingetragen, was für ein Typus Wesen der Gegner ist: Untot, Werwesen, Albtraumwesen oder Dämon. Jeder Typ hat eine passende Konterwaffe: Weihwasser, heilige, silberne oder normale Waffen. Es reicht, die richtige Waffe zu wählen, um den Gegner automatisch zu besiegen, ansonsten stirbt man.

Cosmars Notizbuch ist jedoch nicht vollständig, manche Seiten muss man erst im Spielverlauf finden. Erschwerend kommt Ressourcenmanagement hinzu, da Silberkugeln, -bolzen und Weihwasser nur begrenzt vorhanden sind. Man muss schon etwas aufpassen, denn theoretisch kann man sich in Sackgassen spielen. Aber, wie es jedes Mal heißt, wenn man stirbt: „Ungerecht? Das ist Somorra.“

Eine Seite aus dem Notizbuch

Schreibstil

Das Buch ist solide geschrieben. Der Schreibstil ist funktional, aber unauffällig. Das ist durchaus ein gewisses Genre-Problem, kurze Abschnitte eignen sich nicht für literarische Kunststücke. Stadt der Träume funktioniert aber gut, erzeugt Spannung und vermittelt Situation und Umgebung effektiv. Es ist auch besser geschrieben als so manch anderer Genrevertreter. Laut Vorwort spricht das Wasservolk im Buch manisch, eine mittelhessische Variante der „Gaunersprache“ Rotwelsch. Eine interessante Nutzung eines im Schwinden begriffenen lokalen Dialekts.

Erscheinungsbild

Der Schrammenschreck bedroht die Stadt

Das Buch sieht ansprechend aus und ist ordentlich verarbeitet. Das Titelbild ähnelt dem von Stadt der Lüge, aber mit giftig wirkendem Grün statt aggressivem Rot als Signalfarbe. Im Inneren ist der Text deutlich gedruckt und klar lesbar. Die schwarz-weißen Illustrationen von Balzer und Kock sind stimmig und unterstützen die unheimliche, spannende Atmosphäre. Dadurch, dass vor allem im Hafenviertel viele parallele Wege existieren, sind zu manchen Ereignissen die Bilder nur auf einem bestimmten Pfad zu sehen. Ist man auf einem anderen Weg an eine andere Version derselben Stelle gelangt, verpasst man die Bilder leider. Schön sind auch die Titelbilder der Kapitel, die dem Stil von Filmplakaten nachempfunden sind, inklusive Aufzählung der auftretenden Personen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Mantikore-Verlag
  • Autor*in(nen): Christian & Florian Sußner
  • Illustrationen: Helge C. Balzer, Hauke Kock
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Taschenbuch
  • Seitenanzahl: 472
  • ISBN: 978-3961881406
  • Preis: 14,95 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Wie bei den vorherigen Spielbüchern der Sußner-Brüder gibt es wieder Downloads auf ihrer Homepage. Zu Stadt der Träume kann man dort den Abenteuerbogen, sowie Cosmars Notizbuch zur Monsterbestimmung und die Fehlenden Seiten des Notizbuchs herunterladen.

Fazit

Stadt der Träume beginnt eher geerdet, mit einem Ausbruch aus der Psychiatrie und danach dem Intrigenspiel der Fraktionen im Hafenviertel. Sobald man allerdings in die unterirdische Traumwelt vordringt, wird es zu deutlich phantastischerem Horror als Stadt der Lüge. Teilweise führt es vielleicht zu weit weg vom schmierigen Crime/Noir-Appeal des Somorra-Settings und zu sehr in Fantasy-Gefilde. Auch der Umgang mit dem Element „Glauben“ ist dafür vielleicht etwas zu geradlinig. Andererseits könnte das auch nur die andere Seite des Pulp- Settings sein. Hier entspricht viel dem Klischee, aber wahrscheinlich so, wie Liebhaber es sich wünschen.

Insgesamt ist Stadt der Träume ein gutes Spielbuch mit einer gut erzählten Geschichte und interessanten Ideen für Spielmechaniken. Bei dem genreüblichen Preis von 14,95 EUR kann man für mehrere Stunden guter Unterhaltung bedenkenlos zugreifen. Die Sußner-Brüder haben mit mittlerweile fünf Spielbüchern und innovativen Ideen zwar nicht immer Perfektion geliefert, insgesamt aber doch gute Arbeit geleistet. Der Ausflug in die Traumwelt war nicht schlecht, für den dritten Teil wäre eine Rückkehr zur titelgebenden Stadt Somorra aber wünschenswert.

  • Stimmungsvolle Atmosphäre
  • Interessante neue Mechanik-Ansätze
 

  • Traumwelt überraschend anders als die Stadt
  • Mechaniken nicht völlig ausgereift

Artikelbilder : ©Mantikore Verlag
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Maximilian Düngen
Fotografien: Paul Menkel
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt

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