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Lana ist durch ihr Feuermal als Außenseiterin gestempelt. Doch sie findet eine trostspendende Schwesternschaft: Die der Hexen aus vergangenen und gegenwärtigen Zeiten, deren Bräuchen, Utensilien und natürlichen deren Stärken. Die Lesenden werden mit dem großformatigen Buch Hexen auf eine bildgewaltige Reise geschickt, die einen Bogen von Ursprung bis Gegenwart spannt.

„Wir folgen Lana und öffnen mit ihr die Türen zu ihrem seltsamen Haus, um diese betörenden Magierinnen, Wahrsagerinnen und Heilerinnen kennzulernen… Frauen, die anders sind und aufsässig.“

Lana sitzt in ihrem Zimmer, doch sie ist nicht allein: Ein wahrer Reigen aus starken Frauen unterschiedlicher Kulturkreise leistet ihr Gesellschaft. Deren Geschichten bilden einen Teil des Inhalts von Hexen aus der Feder von Cécile Roumiguière, das als Teil seiner Enzyklopädie des Wunderbaren von Benjamin Lacombe illustriert wurde. Doch damit nicht genug: Sowohl ein Grimoire, das uns ein buntes Allerlei aus allem präsentiert, was das Hexendasein ausmacht, von Tränken über Tiere bis hin zu Fetischen, als auch weitere Informationen zu den jeweiligen Kapiteln, beispielsweise Verwandlungen oder Heilen, bilden die Grundlagen des Buches. Wer sich mit Hexen in phantastischer Romanform beschäftigen möchte, dem*der sei an dieser Stelle auch Der Hexenzirkel Ihrer Majestät ans Herz gelegt, von dem jüngst der zweite Band erschienen ist.

Triggerwarnungen

Ableismus, Rassismus, Folter, Abtreibung, Tod

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Varianz auf allen Ebenen

Hexen besticht durch eine ganze Bandbreite an Stilen, sowohl was die Illustrationen als auch die Texte angeht. Jedes Kapitel stellt uns eine Hexe aus der Folklore einer anderen Kultur in Form eines kurzen, literarischen Schnappschusses aus deren Leben vor. Ein ganzseitiges Porträt der vorgestellten Hexe schmückt jede dieser Einlassungen. Ein kurzer Blick durch das Schlüsselloch in das Leben dieser inspirierenden Frauen wird so zu einem wahren Highlight, besonders, wenn diese vorher unbekannt waren. Lilith als erste Hexe darf hier ebenso wenig fehlen wie Circe oder La Santa Muerte. Hexen präsentiert eine sehr weite Definition des Hexenbegriffs: Es werden legendäre Geschichten, tatsächlich im vergangenen Jahrtausend verfolgte Hexen als auch die meist bekannte europäische Märchenhexe in ihrem Haus im Wald thematisiert. Auch die Moderne wird kurz einbezogen. Würde Greta Thunberg heute als Hexe verfolgt?

Würde Greta Thunberg heute als Hexe verfolgt?

Ergänzende Informationen zu den jeweiligen Kapiteln, die sich größtenteils vermeintlichen Funktionen der Hexen wie Wahrsagerinnen, Verführerinnen oder Rebellinnen widmen, sind sehr variantenreich dargestellt und bieten neben einigen, vor allem in unserem Kulturkreis häufig bekannten, Ausführungen auch neue, unbekannte Legenden und Tatsachen. Aufgrund der großen Bandbreite und Anzahl der Textabschnitte bilden diese nur einen kurzen Einstieg in die unterschiedlichen Frauengeschichten oder Unterthematiken. Dies ist jedoch kein Nachteil, vielmehr animiert es, zu verschiedensten Themen eigenständig weiter zu recherchieren. Während die Grundfarben der Informationsseiten allesamt in einem Beigeton gehalten sind, sind doch die Illustrationen trotz einheitlicher Farbgebung sehr eigenständig und von Kapitel zu Kapitel unterschiedlich. So wird einmal eine Darstellung der Welt geboten, während ein anderes Mal tuscheartige Porträts der dargestellten Frauen das Gelesene ergänzen.

Für die Grimoire-artigen Seiten, die sich mit einzelnen Aspekten des Hexendaseins wie etwa dem Erscheinungsbild, Zaubertränken oder auch der Verbrennung von Frauen befassen, ist eine etwas ungewöhnliche Darstellung gewählt: In einem knalligen Rotton gehalten, sind die Seiten, anders als alle anderen, im Querformat. Etwas unhandlich ist es schon, den großformatigen Band zu drehen, dies tut dem Vergnügen, sich eingehend mit den Illustrationen und Texten von Hexen zu befassen, jedoch keinen Abbruch.

Lanas Geschichte als Rahmenhandlung und Aufhänger nimmt den geringsten Raum in dem Bildband ein: Klassisch findet sie ihren Platz in Einleitung, Mittelteil und Schluss. Lesende erleben nachvollziehbar, wie junge Mädchen und Frauen aus der Befassung mit Frauenfiguren, die durchaus als Vorbilder für das eigene Leben dienen können, Stärke gewinnen. Der Illustrationsstil ist auch hier wieder anders als die anderen Seiten gehalten.

Schreib- und Illustrationsstil

Die Bandbreite an großen und kleinen Illustrationen passen hervorragend zur Thematik.

Die Illustrationsarbeit von Benjamin Lacombe ist ein wahrer Augenschmaus. Besonders die großformatigen Porträts sind so detailreich gestaltet, dass Lesende sich regelrecht darin verlieren können. Aber auch die anderen Seiten machen Spaß: Gerade die unterschiedlichen Stile, die durchgehend einheitlich zur jeweiligen Kategorie passen, lassen keine Langeweile aufkommen. Ob Tarotkarten, Zaubertrankflaschen oder Leonardo Da Vincis Vitruvianischer Mensch als Frau dargestellt: Die Bandbreite an großen und kleinen Illustrationen passen hervorragend zur Thematik. Für Fans von Benjamin Lacombe ist Hexen schon fast ein Muss. Eine Rezension zu seinen Werken, die sich mit der japanischen Folklore beschäftigen, wird demnächst im Comic-Ressort zu lesen sein.

Die Texte von Cécile Roumiguière sind ebenfalls sehr variantenreich: Kommen die Texte zu den Porträts eher prosaisch daher, sind andere informativ oder auch plakativ auffordernd. Der Spagat zwischen diesen Stilen gelingt nicht immer, mitunter wirkt die Sprache leider etwas einfach. Größtenteils gelingt es Roumiguière und Lacombe, Texte und Bilder zu einer Einheit verschmelzen zu lassen und eine Wechselwirkung zwischen diesen beiden beim Lesenden zu erzeugen, was dieses Buch zu einem Lesevergnügen macht, das einlädt, es sich immer wieder anzusehen.

Hexen – ein Kinderbuch?

Laut Verlagsempfehlung von Jacoby&Stuart ist Hexen ein Kinderbuch mit einer Altersempfehlung ab 10 Jahren. Nicht nur im Hinblick auf den Kaufpreis von 32 Euro, der für ein Kinderbuch sehr hoch ist, sondern auch wegen der präsentierten Inhalte lohnt sich hier ein näherer Blick.

Es bildet ein Thema ab, für das sich schon jüngere Kinder begeistern. Das Magische ist geradezu prädestiniert für diese Altersgruppe, und Hexen sowie ein dahingehendes Hintergrundwissen über geschichtliche Zusammenhänge können leicht die Herzen dieser Zielgruppe erobern.

Trotzdem ist beim vorliegenden Prachtband Hexen Vorsicht geboten. Denn obwohl vor allem der Grimoire-artige Teil bisweilen sehr kindgerecht gestaltet ist, sind es andere leider nicht. Die Folterpraktiken werden teils sehr plastisch beschrieben, und andere Themen, wie Pflanzen zur Abtreibung oder Verführung, sind nicht für Kinder geeignet.

Wie bereits beschrieben, variiert die Sprache sehr. Zum Teil liegt ein klares Kinderbuch vor, sowohl optisch als auch sprachlich. Dann wieder stellt sich die Frage, ob es doch eher an ein erwachsenes Publikum gerichtet ist, wenn Worte wie „Femme Fatale“ oder „Fetisch“ ohne Einordnung verwendet werden.

Gerade aus Buchhandelssicht kommt es hier zu einem Problem: Buchhändler*innen können sich nicht alle Neuerscheinungen aufmerksam anschauen und müssen sich auf solche Verlagsempfehlungen verlassen. Bei Hexen ist dies leider nicht einfach.

Unsere Empfehlung lautet daher, dass, wenn das Buch für Kinder ab 10 Jahren gekauft wird, sich dieses mit dem Kind gemeinsam anzuschauen und sich im Vorfeld für eventuelle Fragen zu wappnen. Eltern kennen ihr Kind am besten und können beurteilen, ob die wenigen blutigen Passagen für es zumutbar sind, oder ob man diese beim gemeinsamen Lesen überspringen sollte. Denn abgesehen von diesen Problematiken bietet Hexen einen stärkenden Blick auf Frauen verschiedener Kulturen und vermittelt noch einiges mehr an Geschichtswissen und magischen Kleinigkeiten.

Cécile Roumiguière und Benjamin Lacombe

Die Kinder- und Jugendbuchautorin Cécile Roumiguière wurde im südfranzösischen Rodez geboren und lebt in Paris. Aus ihrer Feder liegt lediglich Hexen in deutscher Übersetzung vor. Mehr Informationen über die Autorin und ihr Werk können auf ihrer französischsprachen Homepage eingesehen werden.

Benjamin Lacombe lebt und arbeitet in Paris, wo er auch 1982 geboren wurde. Er zählt zu den wichtigsten französischen Illustratoren und hat über 40 Bücher illustriert. Auf seiner Homepage (englisch und französisch) findet sich eine sehenswerte Galerie seiner Werke.

Erscheinungsbild

Hexen macht Eindruck im Bücherregal: Nicht nur, dass es durch seine schiere Größe von 26 x 35 cm auffällt, auch die Covergestaltung zieht Blicke auf sich. In dunkelroter Farbe gehalten, können die Lesenden vor dem ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis viel von dem entdecken, was sie im Buch erwartet. Porträts einiger Hexen, Tiere, Behausungen und Pflanzen sind in einem wunderschönen Reigen angeordnet.

Gekrönt wird das Ganze mit goldglänzenden Applikationen, die sich auf dem Buchrücken finden. Die Seiten von Hexen sind auf qualitativ hochwertigem, dickem Papier gedruckt, sodass das Buch sowohl optisch als auch haptisch ein wahres Vergnügen ist.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Jacoby & Stuart
  • Autor*in(nen): Cécile Roumiguière, Benjamin Lacombe
  • Erscheinungsdatum: 05.12.2022
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Französischen übersetzt von Edmund Jacoby)
  • Format: Gebundenes Buch
  • Seitenanzahl: 72
  • ISBN: 978-3-96428-160-9
  • Preis: 32 EUR
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und französisch), idealo

 

Fazit

Das opulente Werk Hexen, aus der Feder von Cécile Roumiguière und hervorragend illustriert von Benjamin Lacombe, ist als Teil seiner Enzyklopädie des Wunderbaren ein optisch und thematisch lohnenswerter Zuwachs für das heimische Bücherregal. Die Lesenden lernen Lana, das Mädchen mit dem Feuermal, kennen und werden mit ihr als Rahmenhandlung durch die Geschichte der Hexen geleitet. Unterschiedliche Gestaltungsweisen, sowohl in Textformen als auch in Illustrationen, laden auf eine Zeitreise zu Legenden aus verschiedenen Kulturkreisen, historischen Fakten und verschiedenen Aspekten des Hexendaseins ein.

Durch seine Größe und seine auffällige Covergestaltung mit Goldapplikationen begeistert Hexen schon vor dem ersten Aufschlagen. Das Potpourri aus Bekanntem und Unbekanntem sorgt für einen hohen Wiederlesewert, und die qualitativ hochwertige Machart auch für einen haptischen Genuss.

Die Inhalte sind allerdings ab und an nicht für Kinder geeignet, trotz Verlagsempfehlung für ein Lesealter ab 10 Jahren. Ein gemeinsames Lesen wäre hier sicherlich angebracht, um eventuelle inhaltliche Abschärfungen vorzunehmen und für Nachfragen bereitzustehen.

  • Hervorragende Illustrationen

  • Qualitativ hochwertige Ausstattung

  • Kurzweiliges Potpourri aus Legenden und Fakten

 

  • Ab und an nicht für die Zielgruppe Kinder geeignet

 

Artikelbilder: © Jacoby & Stuart
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Rick Davids
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