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Der erste Teil dieses zweiteiligen Kommentars beschäftigte sich mit der Frage, wie konsequent  psychische Erkrankungen ausgespielt sein sollten, um die Immersion in eine Spielwelt zu erhöhen. Die Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen uns alle betreffen können, sei es nun durch eigene Erkrankung oder durch jemand Betroffenen in der Familie, im Bekannten- oder Freundeskreis, lässt mit großer Sicherheit annehmen, dass in vielen Rollenspielrunden ebenfalls jemand Betroffenes beteiligt sein könnte. Daher fokussiert sich dieser Kommentar auf den Umgang mit psychisch erkrankten Mitspielern.

Das Thema ist ein heikles. Es birgt die Gefahr, eine generalisierte Laienanalyse aufzubauen, die am Ende Tipps zum Umgang mit psychisch erkrankten Mitspielern zu bieten scheint, die aber mehr schaden als helfen. Ich räume ein, dass ich weder Psychologe noch Verhaltenstherapeut bin. Es wäre daher in höchstem Maße vermessen so zu tun, als könne ich allgemein das „how-to“ zum Umgang mit psychisch Erkrankten von außen beschreiben. Zwangsweise würde diesem Kommentar Laienpsychologie vorgeworfen. Letztendlich bietet dieses Thema jedoch zwei Betrachtungsweisen.

Auf der einen Seite steht die externe Sicht auf betroffene Spieler durch die Umwelt und möglicherweise durch einen Facharzt. Auf der anderen Seite befindet sich der betroffene Spieler selbst, der seine Umwelt wahrnimmt und in der Situation steckt. Obschon ich die erste Betrachtungsweise aus Sicht eines Laien, der keine verhaltenstherapeutische Abhandlung verfassen möchte, nahezu als unmöglich zu behandeln empfinde, ist es die zweite nicht. Und so wird dieser Kommentar eine persönliche Sicht auf das Hobby des Rollenspiels aus der Perspektive eines ehemaligen Patienten: Mir selbst.

„Dort: Jemand Kaputtes“!

Ich erinnere mich an die Anfänge meiner Rollenspielzeit und wie ich Rollenspieler sah, die entweder offensichtlich unter psychischen Erkrankungen litten oder die dies im Freundeskreis recht offen kundtaten. Mitunter haben wir darüber mit den Betroffenen gesprochen, so sie einem selbst nahe standen und das Thema anschnitten. Viel häufiger haben wir jedoch über augenscheinlich betroffene Spieler gesprochen statt mit ihnen. Seien es Spieler, die sich aus dem Spiel zurückzogen, da sie unter Depressionen litten; seien es Spieler mit Borderline, die mitunter persönlich verletzt auf Dinge reagierten, die im Rollenspielkontext passierten; oder seien es Spieler, die aufgrund von Angststörungen bestimmte Szenarien mieden oder plötzlich sogar ganzen Runden fern blieben.

Die Gespräche unter uns „Gesunden“ schwankten stetig. Die Art wie mit solchen Situationen umgegangen wurde, orientierte sich individuell an der betroffenen Person und nahmen leider allzu oft einen sehr unsensiblen Ton an . Mitunter waren nur allzu typische Phrasen Kern des stummen Appells gegenüber diesem Spieler. Er, der Spieler, möge sich doch nicht so anstellen. Er solle das Hobby als Hobby nehmen und einfach Spaß haben. Wenn jemand offenkundig auf einem generell hohen Stresslevel war, dann hat man dies mit in die eigene Analyse aufgenommen und war sich untereinander einig, dass der betroffene Spieler nur mal eine Pause brauche. Dies hatte man immer dann in petto, wenn der betroffene Spieler nicht zum engen Freundeskreis gehörte und sein irrationales Verhalten den eigenen Spielspaß störte. Seien wir ehrlich: Bei fast fremden Personen denkt man schon mal so. Es stört. Und wenn das Verhalten dieser Person auf eine Krankheit zurückgeht, dann möge sie sich doch behandeln lassen, statt die anderen Spieler damit zu belästigen. Das ist, was Vielen durch den Kopf geht. Das ging auch mir durch den Kopf.

Mitfühlen –  Eine gut gemeinte Lüge

Etwas anderes ist es, wenn dann plötzlich jemand aus dem engeren Freundeskreis betroffen ist. Dort wechselt die Art, wie man mit der psychischen Erkrankung umgeht. Plötzlich ist es nicht mehr der Wunsch, dass dieser Spieler den eigenen Spielspaß nicht mehr einschränke. Das Gegenteil wird der Fall: der Spieler wurde von uns in eine Wohlfühlblase gehüllt. Wir wollten dem Spieler helfen. Wir  wollten uns zuerst in seine Lage versetzen, damit wir selbst so empathisch wie möglich mit dem Spieler umgehen konnten, um für ihn da zu sein.

In diesem Szenario beginnen viele Menschen gegenüber sich selbst und dem Betroffenen zu lügen.  Die Lüge ist nicht bösartig, sie ist nicht einmal bewusst ausgesprochen und als Lüge beabsichtigt. Der Kern der Lüge ist die Vorstellung, dass man mit dem Betroffenen mitfühlen kann, dass man dessen Verhaltensweise nachvollziehen kann, dass man versteht, wie es dem Betroffenen geht. Dem ist nicht so. Sofern man nicht selbst an einer psychischen Erkrankung leidet oder aus beruflichen Gründen als Therapeut, Psychologe oder Psychiater mit diesen Themen zu tun hat, wird man nicht nachempfinden können, was in einem Betroffenen vor sich geht. Dies ist mitunter nicht einmal wirklich engen Freunden oder Ehepartnern möglich.

Sich dies einzugestehen ist kein Makel, es ist kein Versäumnis oder mangelndes Interesse für einen Menschen. Dieses Eingeständnis als bloße Tatsache anzunehmen, sollte daher kein Bedauern und kein Schuldgefühl auslösen. Jemand der sich noch nie beide Beine gebrochen hat, kann nur schwer nachvollziehen wie es wirklich ist, mit zwei gebrochenen Beinen im Alltag umzugehen. Gebrochene Beine sind dabei ein recht triviales Beispiel. Bei psychischen Erkrankungen hat man es mit Menschen zu tun, die teilweise selbst nicht wissen warum sie handeln wie sie handeln. Man hat es mit Menschen zu tun, die zwei Tage im Bett liegen bleiben, da sie zu große Sorge haben, auch nur einen Schritt vor die Tür zu gehen. Es  sind Menschen, die vor dem Briefkasten Panikattacken bekommen da sie unangenehme Post von Ämtern, dem Arbeitgeber oder Freunden fürchten. Es sind Menschen, die nach einer Verabredung fünf Tage über eine Nebenbemerkung eines Freundes nachdenken, die an sich keinen Wert hatte, deren Subtext allerdings so weit ausgeschmückt wird, dass sich nie wieder bei der Person gemeldet wird. Das sind alles Dinge, die ein gesunder Mensch nicht vollständig nachempfinden kann. Das sollte sich zu allererst eingestanden werden.

Distanzierung – Persönlicher Schutz

Distanz zu jemandem aufzubauen der unter einer psychischen Erkrankung leidet, klingt zunächst als strebe man selbst Flucht an. Distanz meint an dieser Stelle nicht, dass man aufhören müsse sich mit dieser Person auseinanderzusetzen. Damit meine ich nicht das Aufbauen physischer Distanz. Distanzierung bedeutet in diesem Fall, dass nicht mit gelitten wird. Mitleid wird zwangsweise schädigen. Niemand kann eine Hilfe sein, der selbst beginnt zu leiden. Mitleid ist, wie ich weiter unter ausführen werde, nicht das Mittel das wirklich hilft.

Eine gesunde emotionale Distanzierung ist keine Ablehnung. Es bedeutet lediglich, dass jeder Mensch sich selbst schützt, um aus sich selbst heraus solide mit einem Betroffenen umgehen zu können. Fehlt diese Distanz, leidet man mit, so kann das Gegenteil von Hilfe passieren. Möglicherweise bestärkt man einen Depressionspatienten in der Ansicht, dass alles dunkel, grau und sinnlos sei. Ein Angstpatient kann durch negative Verstärkung in der krankhaften Ansicht bestärkt werden, dass überall ganz viele Gefahren lauern, dass alles wirklich extrem unsicher ist und allerlei negative Dinge einfach so jederzeit passieren könnten.  Eine Rollenspielrunde würde unter diesen Umständen zu einem Ritt auf einem tollwütigen Bullen, bei dem jeder nur penibel darauf bedacht wäre, die richtige Position zu halten. Das hilft letztendlich niemandem.

Die Rollenspielrunde ist keine Therapiegruppe!

Nach dem Gefühl Mitleid empfinden zu müssen und dem Bedürfnis, das Verhalten Betroffener nachvollziehen zu können, folgt meist der Anspruch helfen zu wollen. So löblich dieser Anspruch ist, so schnell schießt man über das Ziel hinaus. Gerne packt man den Betroffenen in der Runde in Watte um ihn vor negativen Erlebnissen zu schützen, die ihn vermeintlich hart treffen könnten. Andererseits muss sich der Betroffene der Realität stellen. Spieler, die aufgrund ihrer Erkrankung häufig ausfallen spornt man dann gerne doppelt an. Man ruft sie mehrmals vor dem Spieltermin an, bietet ihnen nicht nur an sie zum Spieltermin persönlich abzuholen, sondern drängt es auf, klingelt im schlimmsten Fall vor der Wohnung Sturm, wenn niemand öffnet. Beide Extreme gründen sich auf dem Wunsch zu helfen und an dem Gesundungsprozess aktiv teilzunehmen.

Neben der Notwendigkeit zur Distanzierung jedes einzelnen Mitspielers steht jedoch  ebenso die Notwendigkeit zur Einsicht, dass die Rollenspielrunde keine Therapiegruppe ist! Ihr seid als Mitspieler nicht dafür verantwortlich, aktiv in eine Verhaltenstherapie einzugreifen. Ihr seid auch nicht dafür verantwortlich, wie der betroffene Spieler mit den Erlebnissen aus der Rollenspielrunde umgeht. Es mag ebenso barsch klingen wie die Notwendigkeit zur Distanz und die Tatsache, dass ihr nicht mitfühlen werdet können und doch seid ihr alle keine Verhaltenstherapeuten. Es ist nicht an euch als Mitspieler, Heilungsfortschritte bei dem Betroffenen zu erzielen.

Wenn der betroffene Mitspieler sich nicht bereits in therapeutischer Betreuung befindet und ihr, als Freunde und Mitspieler, die zwingende Notwendigkeit dazu seht, so könnt ihr natürlich darauf hinweisen und Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Letztendlich ist es jedoch am Patienten selbst, Hilfe zu wollen, Hilfe anzunehmen und sich in einem professionellen  Umfeld tatsächlich helfen zu lassen. Die Rollenspielgruppe ist keine professionelle Hilfe. Sie kann lediglich ein Testballon für den Betroffenen sein, um bestimmte Verhaltensweisen im Rollenspielkontext distanzierter erleben und reflektieren zu können. Dies sollte jedoch von einem Arzt angeleitet werden.

Was könnt ihr als Mitspieler also tun? Behandelt den Mitspieler wie einen normalen Menschen! Das klingt simpler als es ist. Mehr kann man sich als Betroffener nicht wünschen und mehr könnt ihr nicht tun.

Ausblick: Spielen und Leiten mit psychischer Erkrankung

Im folgenden dritten Teil der Kommentarserie werde ich den Faden wieder aufnehmen, um meine persönlichen Erfahrungen als betroffener Mitspieler und Spielleiter darzulegen.

Artikelbild:  Innovated Captures | fotolia.de

6 Kommentare

  1. Sehr gut! Finde es sehr wichtig, die Balance zu halten: nicht an der erkrankten Person zu zerren, wenn sie sich ausklinken will (das fällt schon schwer genug!) ist genauso hilfreich, wie mal ehrlich nachzufragen, was man konkret tun kann um zu unterstützen und wie man mit der Erkrankung umgehen soll. Respekt, Selbstschutz, Achtsamkeit – für beide Seiten!

  2. Als Betroffener (angststörung & Depression) muss ich sagen, das dieser Artikel besser als Teil 1 geworden ist. :)
    Weiter so ^^
    Freunde und Spielgruppe können die Therapie nicht ersetzen. Sie können nur helfen zu üben was man in der Therapie lernt und ein auffangnetz in der hochseilmanege des Lebens sein. Therapie kann lange dauern, aber wenn man sich dfauf einlässt, hilft es einem dabei wieder Berg auf zu gehen.

  3. Das würde ich so auch unterschreiben. Ein Aspekt kam mir allerdings zu kurz:

    Meist ist es ja so, dass die Betroffenen genauso einen Lustgewinn am Spiel empfinden, wie der Rest der Gruppe, und das Rollenspiel einfach als einen Zeitvertreib empfinden, der es ihnen ermöglicht, das Gedankenkarussell zu verlassen, in dem sie sich in der realen Welt so oft gefangen fühlen. Insofern unterscheidet sie dann rein gar nichts von ihren Mitspielern.

    Wenn man den Betroffenen auf dieser Basis begegnet (ich nenne eine solche Basis „Augenhöhe“ und arbeite in diesem Zusammenhang noch an einem Witz über Zwerge), gibt es auch mit der Distanz kein Problem. Dann kann man in einer Situation, in der man das Gefühlt hat, dass die persönliche Befindlichkeit des erkrankten Mitspielers gerade das Spiel zerstört, nämlich diesen Satz sagen: „Mir macht das so keinen Spaß.“

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