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Manche Geschichten sind einfach: Frau trifft Mann, Eichhörnchen trifft Frau, Eichhörnchen lässt Frau das Erbe ihrer verstorbenen Tante antreten, Mann und Frau werden in eine bizarre Paralleldimension mit Monstern und Magie transportiert. Alltägliche Dinge halt, wie die Protagonisten von Ekhö – Spiegelwelt feststellen müssen.

Frankobelgische Comics haben eine jahrzehntelange Tradition, gehen aber oft im Strudel der größeren und reichweitenstärkeren amerikanischen Comicszene unter. Dabei gibt es neben den Klassikern Asterix, Spirou und Lucky Luke ein deutlich größeres Repertoire für den interessierten Comicleser zu entdecken. Vom Fantasyepos Ekhö – Spiegelwelt sind mittlerweile sieben Bände auf Deutsch erschienen. Das französische Duo Christophe Arleston (Story) und Alessandro Barbucci (Zeichnungen) versucht sich an der Neuinterpretation eines beliebten Phantastik-Themas: Moderne Menschen, die in ein magisches Paralleluniversum versetzt werden. Wenn an Smartphones, Autos und Mikrowellengerichte gewöhnte Millennials auf eine vorindustrielle Welt losgelassen werden, entwickelt sich die Story je nach Genre in unterschiedliche Richtungen: mitreißende Action? Wundersame Begegnungen? Zwerchfell-strapazierende Slapstick-Comedy? Ekhö versucht sich an allen dreien, bleibt aber in jedem Bereich eher durchschnittlich.

Handlung

Die junge Kunststudentin Ludmilla Tiller befindet sich auf einem Flug von Paris nach New York. Als sie nach einem kurzen Nickerchen erwacht, entdeckt sie ein eichhörnchenartiges Wesen in mittelalterlicher Gewandung, welches sie auf ihre verstorbene Tante Petronella anspricht. Weder Ludmillas Sitznachbar, der Physiker Juri Podrov, noch sonst irgendjemand im Flugzeug kann das seltsame Wesen sehen. Es stellt sich als Sigisbert von Motafiume vor und bittet Ludmilla, das Erbe von Petronella anzutreten. Diese ist für Ludmilla seit Jahren tot, doch Sigisbert erwidert, in seiner Welt sei Petronella erst vor wenigen Wochen verstorben. Die junge Frau willigt ein, woraufhin das Flugzeug in Turbulenzen gerät und abzustürzen droht. Panisch klammert sich Ludmilla an Juris Arm, und im nächsten Moment finden sich die beiden in einem völlig anderen Fluggerät wieder. Die Einrichtung ist aus Holz, die anderen Passagiere sind Monster und Menschen in bizarrer Fantasykleidung, und die Kabine ist an den Bauch eines Drachen geschnallt.

Das Eichhörnchen ist schuld!

Bei der Landung stellen Ludmilla und Juri fest, dass sie in einem völlig anderen New York gelandet sind: Über die gotischen Steinhochhäuser schwingen sich riesige Flugechsen, von Sauriern gezogene Karren ersetzen Autos und die NYPD-Polizisten tragen Armbrüste. Im Notarbüro Motafiume erklären Sigisbert und sein Vater Kleomander, dass die beiden Menschen in Ekhö gelandet sind, einer Spiegelwelt, die der realen Erde ähnelt und durch Magie am Laufen gehalten wird. Menschen von der Erde, auch Binius genannt, erreichen Ekhö nur zum Zeitpunkt ihres Todes und erlangen in der Spiegelwelt eine neue Existenz. Die Eichhörnchenwesen bezeichnen sich als Preshauns, die eine ungesunde Obsession für Tee haben und zahlreiche magische Geheimnisse hüten. Mit der Erkenntnis, dass keiner von ihnen zu träumen scheint, verkrachen sich Ludmilla und Juri und gehen getrennte Wege. Während die junge Frau die Leitung von Petronellas Künstleragentur übernimmt, schlägt sich der Physiker im riesigen Urwald von Central Park durch. Doch die beiden ahnen nicht, dass die Preshauns finstere Geheimnisse hüten …

Im Gegensatz zum großäugigen Staunen der beiden Hauptfiguren fragt man sich als erfahrener Fantasyleser, wo das Alleinstellungsmerkmal von Ekhö liegt. Geschichten um alternative Versionen realer Orte gibt es zuhauf. Zwar sind die realen Lokalitäten in New York – JFK Airport, Central Park, Fifth Avenue, Harlem – mit viel Liebe zum Detail ins Fantasygenre übertragen worden. Aber neben Cops auf Raptoren und einer Preshaun-Freiheitsstatue bleibt das Ekhö-New York zu nah am Original, um eine eigene Identität zu entwickeln. In der zweiten Hälfte des Buchs wird immer wieder das finstere Geheimnis der gestaltwandelnden Preshauns angeteasert, man bekommt den Eindruck, dass sie die eigentlichen Herrscher von Ekhö sind, aber Genaueres wird durch das offene Ende auf die Folgebände verlagert. Sogar der recht spannende Subplot rund um Petronellas Tod wird sehr schnell und enttäuschend einfach aufgeklärt, dabei hätte dieser Handlungsstrang mehr hergegeben.

Charaktere

Die Hauptcharaktere sind leider recht farblos. Tatsächlich erfährt man auf den Bonusseiten am Ende mehr über Ludmilla und Juri als in der eigentlichen Geschichte. Dass Ludmilla nach New York reisen wollte, um eine Ausstellung über Caravaggio im Metropolitan Museum anzuschauen, und dass Juri ein großer Videospielnerd ist, der gerne Star Wars zitiert, sind zwar keine essenziellen Charakterzüge. Aber dennoch hätten sich diese Details direkt in der Story besser gemacht. Gerade bei einem dynamischen, visuellen Medium wie Comics gilt eher „Show, don‘t tell“: Es ist besser, einen bestimmten Handlungsstrang zu zeigen, als Charaktere (oder den Erzähler) darüber reden zu lassen. Genau das passiert aber nicht, beide Protagonisten wandern großäugig durch die Szenerie und lassen sich die Handlung erklären.

Dementsprechend werden Ludmillas und Juris Motivationen nie wirklich deutlich gemacht. Als die beiden kurzzeitig getrennte Wege gehen, um ihre persönlichen Handlungsstränge voranzutreiben, übernimmt Ludmilla ihre neue Rolle als Talentmanagerin im glamourösen Nachtleben New Yorks, während Juri sich als Jäger im Wald verdingt. Beide tun das jeweils, weil andere es ihnen auftrugen, keiner scheint wirklich aus Überzeugung zu handeln. Am Ende des Bandes erwachen die beiden im Bett, streiten sich über die nicht vorhandene sexuelle Spannung untereinander und gehen zum Frühstück. Es gibt sicher schlechtere Cliffhanger, aber auch bessere.

Ein Problem ist auch die Darstellung der weiblichen Charaktere. Zwar ist Ludmilla eine selbstbewusste und durchaus clevere Frau, die sich nicht in unnötige Gefahr begibt, wodurch das Klischee des naiven Blondchens bzw. der „damsel in distress“ vermieden wird. Auch ihr Misstrauen gegenüber dem Erbvertrag der Preshauns zeugt von ihrer Intelligenz. Jedoch wird sie von fast jedem männlichen Nebencharakter, dem sie begegnet, als Sexobjekt behandelt. Zeichner Barbucci scheint ein Faible für halterlose Tops mit tiefem Balconette-Dekolleté zu haben, da gleich mehrere Frauen im Comic diese Outfits tragen. Gleich nach ihrer Ankunft in New York zieht ein lüsterner Taxifahrer Ludmilla das Top herunter, später muss sie anzügliche Rufe und Grabscher ertragen. Ihre Assistentin Grace wird beim ersten Auftritt aus der Froschperspektive von hinten gezeigt, sodass die Leser zuerst ihren Hintern in einer enganliegenden Hose sehen, nicht aber ihr Gesicht. Grace ist zudem Nackttänzerin bei Petronellas Agentur, in den darauffolgenden Seiten werden die Auftritte der unbekleideten Damen auf mehreren Splashpanels großzügig ausgebreitet.

Nichts gegen Erotik, aber ….

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Gegen Erotik im Comic ist im Allgemeinen nichts einzuwenden. Gerade die frankobelgischen Bandes dessinées setzen öfter auf zweideutige Situationen sowie eindeutige Nacktheit als angloamerikanische Comics. Und Ekhö richtet sich definitiv nicht an Kinder, trotz der bunten Fabelwesen und der fantastischen Welt. Die Story thematisiert am Rande auch Drogenmissbrauch, Mord und soziale Ungerechtigkeit, sodass Sex nicht fehl am Platz ist. Aber dass fast alle Frauen, die im Comic zu Wort kommen, jung, attraktiv und knapp bekleidet sind, fällt durchaus negativ auf.

Ludmilla setzt sich zwar zur Wehr, mit häufigen Ohrfeigen und lauten Vorwürfen, belässt es aber auch dabei. Wechselt sie das Taxi, nachdem der Fahrer sie entblößt hat? Nein. Wie reagiert sie auf die verbale Belästigung im Zug? „U-Bahn ist U-Bahn! Ich bin eine Frau, was kann ich dafür?!“ Als Tänzerin Yummy von der Polizei abgeführt wird, begrabscht sie ein lechzender Beamter erst einmal ausgiebig, um nach „versteckten Waffen“ zu suchen. Niemand stört sich daran. Haha, Männer sind halt so! Zotige Situationen wie diese wären auf der Witzseite eines 60er-Jahre-Playboy angebracht, aber in Zeiten von #metoo wirken solche Frauenfiguren deplatziert. Was schade ist, denn ansonsten sind Ludmilla, Grace und „Petronella“ ja durchaus kompetent.

Zeichenstil

Neben der beklagenswerten Sexualisierung der Frauenfiguren (enganliegende Kleidung, lange Beine, Duckface-Schnute – ja, sogar die weiblichen Preshauns!) sind die übrigen Charaktere sehr vielfältig gezeichnet. Gerade Juris panisch-verwirrte Gesichtsakrobatik ist witzig, ohne ihn zu einem Clown zu degradieren. Auch die Gesichtsausdrücke der Fabelwesen sind sehr gelungen, hier zeigt sich Barbuccis wahres Talent. Die Längen in der Handlung werden auch durch die liebevollen Hintergründe wieder wettgemacht. Insbesondere Straßenszenen werden als belebte Wimmelbilder mit absonderlichen Kreaturen präsentiert, die die Hektik einer Großstadt gut abbilden. Die reichhaltigen Landschaftspanels erinnern teilweise an den Klassiker Valerian, der einen prägenden Einfluss auf die frankobelgische Comicszene hatte. Wer als Fantasy-Fan auch etwas fürs Auge möchte (und welcher Comicleser möchte das nicht?), bekommt hier ein visuelles Festmahl.

Erscheinungsbild

Das Hardcover liegt gut in der Hand, ist aber größer als A4 (23x32cm). Daher ist der Band nicht für Handtaschen oder kleinere Rucksäcke geeignet. Die Panels sind auf hochwertigem Papier gedruckt, das nicht leicht reißt. Farben und Linien kommen gut zur Geltung, die Schrift in den Sprechblasen und Hintergründen ist gut lesbar.

Dasselbe kann man aber über das Coverdesign nicht sagen, es ist sehr unruhig gestaltet. Vor allem die ständig wechselnden Fonts und Schriftgrößen auf der Rückseite sind eine merkwürdige Entscheidung. Das Innenlayout ist hingegen gut gelungen. Als Bonus gibt es nach dem Comic zwölf Seiten mit Charakterentwürfen, die einen interessanten Einblick in den Designprozess von Arleston und Barbucci geben.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Splitter
  • Autor: Christophe Arleston
  • Zeichner: Alessandro Barbucci (Zeichnungen), Nolwenn Lebreton (Farben)
  • Übersetzerin: Tanja Krämling
  • Erscheinungsjahr: 2014, 2. Auflage 2016
  • Sprache: Deutsch
  • Format: A4 Hardcover
  • Seitenanzahl: 64
  • Preis: 14,80 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Es ist nicht alles schlecht an Ekhö, um das mal direkt zu betonen. Man bekommt jedoch oft das Gefühl, dass Arleston und Barbucci die Story in mehrere Richtungen entwickeln wollten, aus Unentschlossenheit gleich alle Wege auf einmal nahmen, aber keinen bis zu Ende gingen. Ist es High Fantasy? Dafür gibt es zu viele Parallelen zur realen Welt. Ist es eine Detektivgeschichte? Dafür sind einige Mysterien zu offensichtlich, andere werden nur halb verfolgt und bleiben vage. Das Geheimnis der Preshauns wird nur angeteasert, sodass man nicht weiß, ob der nächste Band das Thema weiterverfolgt. Weitere Handlungsstränge, die die Spannung bis zum nächsten Band aufrechterhalten, bleiben nämlich am Ende nicht übrig.

Der detailreiche Zeichenstil und die exzentrischen Nebencharaktere retten das Werk jedoch. Da mittlerweile 7 Bände erschienen sind, kann man jetzt auch einschätzen, ob man der weiteren Reise von Ludmilla und Juri folgen möchte. Unter anderem erkunden sie später die Spiegelwelt-Versionen von Paris, Hollywood und Barcelona, bevor in Band 5 laut Titel das Geheimnis der Preshauns gelüftet wird. Wer auf schöne Grafiken und Parallelwelt-Stories steht, bekommt hier solide Fantasykost, nicht mehr, nicht weniger.

Artikelbilder:  Splitter
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

 

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