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In Durchgeblättert werfen wir regelmäßig einen kritischen Blick auf Neuerscheinungen, Geheimtipps oder Klassiker aus der vielfältigen Welt der Graphic Novels. Die vorerst letzte Ausgabe widmet sich drei sehr unterschiedlichen Werken. Diese führen uns vom viktorianischen London bis in eine fremdartige Welt voller Sagen und Legenden.

Nach anderthalb Jahren ist es Zeit, Abschied zu nehmen. Das hier wird Artikel Nummer 26 und gleichzeitig der letzte unserer Reihe Durchgeblättert. Beinahe hundert Graphic Novels haben wir in dieser Zeit besprochen. Sie haben uns von den Tiefen des Meeres bis in die Weiten des Alls geführt. Jedoch haben wir nun dank Rückmeldungen unserer Leser die Entscheidung getroffen, das Format zu beenden. Denn besonders im Bereich der Graphic Novels scheinen Einzelrezensionen besseren Anklang zu finden und für den wichtigsten Teil der Teilzeithelden, euch Leser, hilfreicher zu sein.

Aber keine Sorge: Wir werden auch in Zukunft Neuerscheinungen, Geheimtipps oder Klassiker aus der vielfältigen Welt der Graphic Novels vorstellen, wenn auch nicht mehr in Form eines Sammelartikels, sondern einzelner Rezensionen.

In diesem letzten Durchgeblättert-Artikel nehmen wir nun erneut drei Graphic Novels unter die Lupe. Die Nachwuchsmörder aus Deadly Class begeben sich wieder in Gefahr, während in Insexts zwei junge Frauen selbst zu einer solchen werden. Und das Labyrinth der Erinnerungen führt uns in eine bizarre Welt voller mythologischem Flair.

Wir hoffen, ihr habt beim Lesen dieser Kritiken genauso viel Spaß, wie uns das Lesen der rezensierten Werke bereitet hat.

Insexts: Bd. 1: Metamorphose

Im viktorianischen London sind Lady Lalita Betram und ihre Bedienstete Mariah regelmäßig Schwierigkeiten ausgeliefert. Aufgrund der gesellschaftlichen Umstände werden sie Opfer der Willkür und Nötigung von Männern, beispielsweise Lalitas Gatten Harry. Durch ihre Zuneigung füreinander laufen sie außerdem Gefahr, in einer patriacharlischen Gesellschaft für immer gebrandmarkt zu werden. Diese ungünstige Situation ändert sich, als beide Frauen auf einmal seltsame Kräfte entwickeln. Bald sind sie keine Menschen mehr, sondern menschenähnliche Insektenwesen. Ihre neuen Fertigkeiten nutzen sie fortan für den Kampf gegen von ihnen wahrgenommene Ungerechtigkeiten und den Schutz ihrer Liebe.

Insexts: Bd. 1: Metamorphose beginnt ungewöhnlich und interessant. Leider schafft es die Geschichte über die beiden Frauen und ihren Kampf um Gleichberechtigung nicht, einen roten Faden zu weben. Dadurch verliert sie sich leider schnell in Oberflächlichkeiten.

Von einem Mord zum nächsten

© Panini Comics
© Panini Comics

Gerade zu Beginn wirkt die Erzählung von Autorin Marguerite Bennett vielversprechend. Die Wandlungen von Lalita und Mariah sind originell und spannend. Ihr erster Widerstand gegen die Misshandlungen durch Außenstehende zeigt das Ausmaß ihrer Kräfte. Diese setzten sie bald nicht nur zur eigenen Verteidigung ein, sondern auch zum Schutz unbescholtener Bewohnerinnen von London. Denn die Stadt ist nicht nur aufgrund der gesellschaftlichen Umstände für viele Frauen gefährlich. Im Laufe der Handlung wird schnell klar, dass die beiden Protagonistinnen nicht die einzigen übernatürlichen Wesen sind. Und einige von diesen sind weder Männern, noch Frauen wohlgesonnen.

Warum kann die Handlung nach einer vollständigen Lektüre trotz dieser spannenden Komponenten nicht überzeugen? Das liegt hauptsächlich am fehlenden roten Faden. Die einzelnen Kapitel wirken weder unmittelbar miteinander verbunden, noch komplett eigenständig. Lediglich am Ende wird der letzte große Gegenspieler über mehrere Abschnitte aufgebaut. Alle anderen Kapitel beschäftigen sich mit der Mutation der Protagonistinnen und ihrem Kampf gegen die Bedrohungen von Außen. Dies scheint ihre einzige Motivation, ja beinahe Obsession zu sein.

Dabei wird auch mit brutaler Effektivität gearbeitet. Wer nicht den Vorstellungen von Lalita und Mariah entspricht wird aus dem Weg geräumt. Insexts zeichnet leider ein sehr einseitiges Weltbild in Schwarz-Weiß und reduziert seine Charaktere auf einen oder zwei Charakterzüge. Ihre Mächte korrumpieren die beiden weiblichen Heldinnen und damit fiel es mir schwer, Sympathie für ihre eigentlich noble Aufgabe zu entwickeln. Hier ist es meiner Meinung nach Werken wie Lady Mechanika und Myre – Die Chroniken von Yria besser gelungen, starke und gleichzeitig charismatische Heldinnen zu entwickeln.

Keine Jugendfreigabe

© Panini Comics
© Panini Comics

Positiv ins Auge gestochen (kein absichtlicher Wortwitz im Hinblick auf Insekten) sind die Zeichnungen der indonesischen Künstlerin Ariela Kristantina. Wenngleich ihre Darstellungen von Gesichtern zu flach wirken können, wissen besonders dynamische Szenen zu überzeugen. Darüber hinaus weckt dank ihren Künsten das Design der Kreaturen Erinnerungen an Lovecraft. Sowohl die beiden „Insektenfrauen“, als auch diverse Gegenspieler erzeugen eine morbide Faszination. Gleiches gilt für die Gestaltung des viktorianischen London. Die Welt von Insexts ist düster, aber auch ästhetisch in Szene gesetzt. Hauptgrund dafür ist neben den Zeichnungen von Kristantina auch die kraftvolle Kolorierung.

Insexts: Bd. 1: Metamorphose enthält sehr explizite Zeichnungen. Neben der Gewalt umfasst das auch Sexszenen zwischen Lalita und Mariah. Diese nehmen nicht überhand, überlassen aber nichts der Vorstellungskraft. Jedoch wirken sie meiner Meinung nach nie fehl am Platz. Vielmehr verdeutlichen sie die tiefe Beziehung zwischen den beiden Damen, besonders in Momenten intensiver emotionaler Belastung.

Sehr gerne hätte ich diese Graphic Novel aufgrund ihrer kreativen Ausgangslage besser bewertet. Doch leider schafft es die Handlung nicht, über die Kapitel hinweg konsistent und durchdacht zu wirken. Die beiden Protagonistinnen werden in einen „Krieg“ nach dem anderen gegen die Bedrohungen von außen geworfen. Auf Dauer verliert das an Reiz.

Die harten Fakten

  • Verlag: Panini Comics
  • Autorin: Marguerite Bennett
  • Zeichnerin: Ariela Kristantina
  • Seitenanzahl: 160
  • Preis: 20,00 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Deadly Class 2: Kinder ohne Heimat

Der erste Band von Deadly Class hat Eindruck hinterlassen. Autor Rick Rememder webt eine faszinierende Erzählung um eine Gruppe junger Nachwuchsassassinen im Kampf gegen die Welt und einander. Der Waisenjunge Marcus wird in die brutale Umgebung von Kings Akademie der tödlichen Künste aufgenommen. Dort muss er seinen Platz finden und entscheiden, wem er vertrauen kann. Der Pilotband schafft es dabei, eine schwierige Balance zu wahren. Die Ausgangslage und Charaktere werden präsentiert, doch gleichzeitig kommt die Dramatik nicht zu kurz. Kann der zweite Band mit dem Titel Kinder ohne Heimat diesen guten Gesamteindruck halten?

Zwischen Beziehungsproblemen und Maschinengewehren

© Cross Cult
© Cross Cult

Die Handlung wird nahtlos fortgesetzt. Nach dem Finale des Vorgängers Die Akademie der tödlichen Künste müssen alle Beteiligten die Konsequenzen verarbeiten. Im Fokus stehen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Marcus, Maria und Saya. Tatsächlich verläuft die erste Hälfte der Geschichte weitestgehend ohne Action. Rememder setzt auf die Ausarbeitung seiner Charaktere und die Präsentation der Folgen ihrer Handlungen. Das macht die Figuren glaubwürdiger. Doch selbst diese ruhigen Momente erzeugen ihre eigene Form der Spannung. Denn Rememder versteht es, geschickt Hinweise auf kommende Konflikte einzubauen und die bedrückende Atmosphäre zu vermitteln.

Darüber hinaus erhält der Leser einen tieferen Einblick in Marcus‘ Vergangenheit. Bereits im ersten Band wurden deren düstere Ereignisse angedeutet. Kinder ohne Heimat führt diese Vorstellung der Hintergründe fort. Dabei gelingt geschickt die Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart. Dadurch wird der Eindruck vermieden, dass Hintergrundwissen unnötig eingebaut wird.

Freunde von brachialer Action kommen auch nicht zu kurz. Das Finale und dessen Aufbau sind packend und brutal. Im Vergleich zum ersten Band wurde hier nochmals einen Gang nach oben geschaltet. An mehreren Stellen muss man um das Überleben der Nachwuchskiller bangen. Dabei wird schlau zwischen kurzen Momenten scheinbarer Sicherheit und lebensbedrohlicher Situationen gespielt. Das hält den Spannungsbogen konstant hoch. Und selbst am Ende ist man sich als Leser nicht sicher, ob die letzte Wendung eine positive gewesen ist.

Schmerzen beim Betrachten

Die visuelle Gestaltung von Wes Craig und Lee Loughridge behält ihre Stärken aus dem Vorgänger bei und wird meiner Meinung nach sogar besser. Der skizzenhafte Zeichenstil mit der reduzierten Farbpalette vermittelt immer noch herausragend die Emotionen und Atmosphäre der Szenen. Der dreckige Underground-Look einer düsteren Welt ist omnipräsent. Gleichzeitig wirken die Actionszenen lebendiger und imposanter als im Vorgänger. Die eingefangene Dynamik unterstützt die Vermittlung der lebensbedrohlichen Situationen herausragend.

Wenn Deadly Class 1: Die Akademie der tödlichen Künste das Paradebeispiel eines guten Einstiegsbandes ist, so ist Deadly Class 2: Kinder ohne Heimat das gleiche für Folgebände. Handlungsstränge werden konsequent fortgeführt und Charaktere entwickeln sich weiter. Auch hat man das Gefühl, dass Entscheidungen aus dem Vorgänger weitreichende Folgen haben. Das erhöht die Tragweite aller Ereignisse. Dem Team um Remender gelingt es dadurch, vorhandene Stärken zu behalten und sogar zu erweitern. Wenn dieses Niveau bei Deadly Class 3: Schlangengrube (erscheint im August 2019) fortgeführt werden kann, steht uns ein weiteres Graphic Novel Highlight bevor.

Die harten Fakten

  • Verlag: Cross Cult
  • Autor: Rick Remender
  • Zeichner: Wesley Craig, Lee Loughridge
  • Seitenanzahl: 176
  • Preis: 16,80 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Im Labyrinth der Erinnerungen

Andreas Martens alias Andreas schreibt und zeichnet bereits seit dem Ende der Siebziger Comics und Graphic Novels. Der deutsche Künstler mit belgischer Beeinflussung lässt gerne übernatürliche und mythologische Elemente in seine Geschichten einfließen. Bekannte Werke mit diesen Merkmalen sind unter anderem die Reihen Rork und Capricorn. Auch Im Labyrinth der Erinnerungen folgt dieser Linie und ist stark von der keltischen Mythologie beeinflusst.

Der Tag der Toten

Man folgt als Leser dem Protagonisten Cythraul. Dieser befindet sich auf der Flucht vor der Polizei, wobei man den Grund dafür im Laufe der Geschichte erfährt. Auf seiner Reise gerät er in eine abgeschiedene Gegend, in der ihm nur wenige Menschen begegnen. Doch diese geben ihm zugleich eine Warnung und einen Hinweis mit auf den Weg. Zum einen soll sich Cythraul vorsehen, da diese Nacht Samhain, der Tag der Toten, ist. Zum anderen erhält er den Tipp zu einem Schatz, der sich in einer Höhle befinden soll.

Der gierige Cythraul greift diese Chance sofort auf. Doch bald muss er erkennen, dass er an einen seltsamen Ort gelangt ist. Es wird immer schwieriger, Wahrheit von Fiktion zu entscheiden. Und die Erinnerungen an seine Vergangenheit lassen ihn ebenfalls nicht in Ruhe. Die wahre Tragweite seiner Erlebnisse offenbart sich jedoch erst auf den letzten Seiten.

Das ist auch eines der großen Probleme dieser Graphic Novel. Im Labyrinth der Erinnerungen ist zutiefst symbolisch. Viele Elemente werden nur angedeutet und sollen vom Leser selbst erschlossen werden. Dabei erinnert die Geschichte vom Erzählstil her an andere metaphorische Geschichten, wie Der Magnet oder Nameless. Doch bedient sich Andreas hier einigen Elementen der keltischen Mythologie, die nicht allen Lesern geläufig sein dürften.

Dabei ist die Liebe zum Detail der inspirierenden Sagen beeindruckend. Jedoch wird das nur von wenigen Lesern wertgeschätzt werden können. Zugegeben hat mich die Handlung beim ersten Durchgang verwirrt zurückgelassen. Erst nach einer Wiederholung war ich in der Lage, Details und Anspielungen besser zu verstehen. Dadurch entfaltet die Graphic Novel dann auch ihr mythologisches Flair. Doch das dürfte nicht jedermanns Geschmack sein.

Darüber hinaus ist die Wahl eines unsympathischen Protagonisten problematisch. Cythraul ist zwar kein grundsätzlich böser Charakter, doch weist er keinerlei positive Eigenschaften auf. Als Leser baut man keine Bindung zu ihm auf, sondern folgt ihm lediglich auf seiner Reise. Das macht diesen Charakter theoretisch komplett ersetzbar.

Holzstich auf Papier

Die visuelle Gestaltung von Andreas weist einen sehr individuellen Stil auf. Am besten lassen sich die Zeichnungen mit Holzstichen vergleichen. Harte Linien sorgen für deutliche Kontraste. Dadurch verlässt sich Andreas weniger auf die Kolorierung. Diese weist eine reduzierte Palette auf und arbeitet mit sehr matten Farben. Mir persönlich sagt dieser Stil sehr zu. Er reiht sich harmonisch in die vermittelte Atmosphäre der Erzählung ein. Darüber hinaus ist er eindeutiges Erkennungsmerkmal des Künstlers, da er nicht häufig Einsatz findet.

Zusammenfassend gesagt ist Im Labyrinth der Erinnerungen eine Graphic Novel, die erst beim wiederholten Lesen ihre Wirkung entfaltet. Die sehr mythologisch inspirierte Handlung ist stellenweise schwer zu verfolgen, da sie auch in das Übernatürliche abdriftet. Somit wirken einige Elemente schwer nachvollziehbar. Das ist beim zweiten Lesedurchgang besser, doch nicht jeder Leser wird eine solche Geduld aufbringen wollen.

Die harten Fakten

  • Verlag: Schreiber & Leser
  • Autor & Zeichner: Andreas Martens
  • Seitenanzahl: 56
  • Preis: 16,95 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Mit diesen Rezensionen bedanken wir uns abschließend bei allen bisherigen Lesern unseres Formates Durchgeblättert. Wir hoffen, euch auch in Zukunft bei unseren Einzelrezensionen wieder willkommen heißen zu dürfen!

 

 

Artikelbilder: Panini Comics, Cross Cult, Schreiber & Leser, Bearbeitet von Verena Bach
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.

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