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Dungeon Crawler sprießen aus dem Boden, doch nur wenige haben die Durchschlagskraft des derzeit erfolgreichsten Spiels Gloomhaven. Was Middara – neben seiner Manga-Optik – alles anders macht als so einige Genrekollegen, und warum die Neuauflage des Kickstarters sicher ein Bombenerfolg wird, lest ihr hier bei uns.

Der Markt der kooperativen Dungeon Crawler – also dieser Brett-/Rollenspielhybride, bei denen man gegen Kartendecks oder Apps statt „gegen“ einen Spielleiter kämpft – wächst stetig. Der Branchen-Riese Asmodee bescherte uns nach dem Genre-Urgestein Descent, neben Star Wars– und Lovecraft-Varianten, jüngst mit dem tolkienistischen Der Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde.

Eine besondere Faszination üben jedoch diese Kleinstverlage oder One-Man-Shows aus, deren zehn Kilo Spielmaterial man die jahrelange Entwicklung und das Herzblut geradezu ansieht. So hat Gloomhaven von Isaac Childres nicht nur im zweiten Kickstarter vier Millionen US-Dollar eingebracht, sondern das Spiel auch auf den aktuell ersten Platz des BoardGameGeek-Rankings katapuliert. Ähnlich erging es Adam Poots, der mit seinem wahnwitzigen Projekt Kingdom Death Monster (KDM) ebenfalls im zweiten Anlauf mit über zwölf Millionen US-Dollar das erfolgreichste Brettspielprojekt auf Kickstarter geschaffen hat.

Die Grundbox, deren Erstausgabe privat mittlerweile weit über Ausgabepreis verkauft wird.

Am 24.06.2019 geht mit der editierten und erweiterten zweiten Edition von Middara noch ein Mammut-Projekt in die zweite Runde. 2015 lief der erste Kickstarter und hat mit 340.000 US-Dollar das Ziel zehnfach überschritten. Allerdings wurde Unintentional Malum: Act I von Middara erst Anfang 2019 ausgeliefert. Seitdem hat sich auf BoardGameGeek und Facebook jedoch eine aktive Fanbase aufgebaut, und die wenigen Erstausgaben des Spiels, das mit 100 Dollar veranschlagt war, werden für den zwei- bis dreifachen Preis verkauft. Das Herzstück von Middara liegt sicherlich in der elaborierten Geschichte und umfasst aktuell bereits 250.000 Worte.

Spielablauf

Am Anfang – wie sollte es anders sein? – steht die Charaktererschaffung, denkt man. Middara merkt man jedoch seine Videospiel-Inspiration bereits hier an, und so beginnen wir mit einem Tutorial, mit vorgefertigten Charakteren, die man danach erst „neubauen“ kann. Die vier Helden der Hauptgeschichte bekommen Startequipment und bereits eine Level-eins-Disziplin zugewiesen, um sich damit der Abschlussprüfung der Middara-Akademie zu stellen, und dadurch vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu werden.

Die Starthelden sind Nightingale Arsen, die jüngste, sehr euphorische Tochter des Herrscherpaares von Middara; der ebenfalls adelige Zeke Jeong mit seiner Nikotinsucht; Rook Lars, der starke und ebenso geniale Farmerssohn, der ein Ritter werden möchte; und Remi Moretti, die geflügelte Tochter eines dubiosen, vermeintlichen Mafiabosses. Der Story nach sind diese Helden von der Erde nach Middara gekommen, um dort ihr wahres Leben zu beginnen und entdecken dabei, dass sie magische Fähigkeiten besitzen und eben auch Hörner, Schwänze oder Flügel.

Ein beispielhafter Szenarioaufbau. Unten links die (tlw. noch nicht fertig bemalten) Helden. Man beachte, das UV-Finish des modrigen Wassers.

Die ersten Abenteuer sind also ein Tutorial, um Bewegung, Kampf sowie die weiteren Aktionen kennenzulernen und sich mit unterschiedlichen Disziplinen vertraut zu machen. Vorher und nachher gibt es aber vor allem jede Menge Story. Die kann man im fast 500 Seiten starken ersten Akt des Abenteuerbandes nachlesen oder sich über eine App, Download oder YouTube komplett vorlesen lassen, mittlerweile auch bereits von Fans in italienischer Sprache.

Moment, 500 Seiten Geschichte? Ja, teilweise gibt es genug Lese-/Hörmaterial für eine gute halbe Stunde, bis das nächste Szenario gespielt wird. (Wem das zu viel ist, der kann sich auch einfach sogenannte Spark Notes, also Kurzzusammenfassungen herunterladen.) Inhaltlich geht es im JRPG-Style um Teenage Angst, Familien- und Freundesgeschichten und die Abenteuer, eine unbekannte Welt zu erkunden und dabei natürlich mit jeder Menge Monstern zu kämpfen. Diese wiederum sind verschiedensten Mythologien entnommen, wie Gevaudan, eine südfranzösische Wolfsgestalt, oder Zulfiqar, ein sagenumwobenes Schwert des Nahen Ostens.

Diese drei Cave Sickles bewachen den Schatz. Dieser liegt hier auf der Rückseite, gibt man auf oder neben dem Feld einen Aktionspunkt aus, dreht man ihn um und liest den versteckten Text im Buch passend zur Schatzfarbe.

Jeder spielt einen Helden (alle vier müssen gespielt werden), dieser hat Werte, Disziplinen und Gegenstände; man bestimmt die Initiative, indem man alle Initiativekarten der aktuellen Gegner und der Helden zusammenmischt und auslegt. Dann wird abwechselnd gekämpft.

Mein kettenrauchender Held Zeke hat drei Aktionspunkte, seine individuelle Fähigkeit, Ausweichwürfe wiederholen zu dürfen, sowie seine Werte für Fertigkeitsproben (links unten) und Hitpoints, Verteidigung und Bewegunsgreichweite (unten rechts).

Jeder Charakter hat dabei standardmäßig drei Aktionspunkte, die er ausgeben oder auch sparen kann. Sich entsprechend seiner Bewegungsreichweite zu bewegen kostet einen Punkt, ein regulärer Angriff kostet zwei. Ebenfalls einen zahlt man für das Interagieren mit diversen Token (Schätze oder Gegenstände).

Disziplinen kosten oft noch einen bis drei Punkte, oft sind sie aber auch dauerhafte Boni, konditional oder als freie Aktion zu spielen. Dann wird angegriffen (mit einer Disziplin oder schlicht mit seinen Waffen), hierzu wirft man zwei Würfel der entsprechenden Farben, zählt die Zahlen zusammen, und wenn man über den Verteidigungswert des Gegners gelangt, erhält dieser die Differenz als Schaden. Die Waffen und andere Gegenstände gewähren dann noch Extraschaden oder Konditionen für das Ausgeben von ebenfalls erwürfelten Schilden, Büchern oder Sternen.

Neben den Rauten steht das Prioriätensystem. Zusätzlich werden Cave Sickles in Gruppen stärker, indem sie bessere Angriffswürfel erhalten.

Die Gegner haben keine Aktionspunkte, sondern ein Prioritätensystem, wie bei Descent, das heißt man liest die Konditionen der Reihe nach durch und führt die erste aus, die erfüllt wird. Ungefähr so: „1. Steht die Figur neben einem Gegner, dann führe einen Nahkampfangriff aus.“ -> Nein, also „2. Ist die Figur in Bewegungsreichweite zu einem Gegner, dann führe zunächst einen Fernkampfangriff aus, dann bewege dich an die Figur heran und führe einen Nahkampfangriff aus.“ Wenn das wahr ist, wird diese Aktion gewählt und es wird nicht weitergegangen.

Gegner handeln nur, wenn eine der Aktionen ausführbar ist. So sind manche vielleicht am Anfang noch nicht in Reichweite und haben die Helden noch gar nicht bemerkt, und man kann sich gegebenenfalls entscheiden, ob man diese Gruppe für den Extraschatz überhaupt angreifen möchte.

Werden die Helden angegriffen, können sie für einen Aktionspunkt Ausweichen (um einen entsprechenden Würfel mit bis zu vier zusätzlicher Verteidigung zu werfen), und misslingt der Angriff auf einen selbst, kann man für zwei Aktionspunkte einen Gegenschlag machen. Üblicherweise nutzt man jedoch die Sonderfähigkeiten seiner Gegenstände für solche Aktionen, die kosten nämlich nichts und stehen einmal in der Runde, bis zur nächsten Rast oder einmalig zur Verfügung.

Über 160 einzigartige Waffen, Rüstungen und weitere Gegenstandskarten gibt es dabei (die meisten doppelt verfügbar), in den Klassen Mundane, Common, Uncommon und Rare, und die Gegenstände haben wiederum Synergien. Wer das Langschwert mit einer leichten Waffe kombiniert, wirft statt des weißen Trefferwürfels den besseren orangefarbenen, und wer in der anderen Hand ein Schwert führt macht einen Schaden mehr – durch ein Kurzschwert würde man beide Effekte erhalten. Das Kurzschwert wiederum kann man erschöpfen, um sich ein Feld diagonal zu bewegen oder man darf seinen Angriffswurf neuwerfen, letzteres allerdings nur, wenn man es ebenfalls mit einer leichten Waffe gemeinsam führt, also nicht mit dem Langschwert. Ist das Tutorial erst mal geschafft, wird eingekauft. Von Anfang an stehen einem Dutzende Waffen und andere Gegenstände zur Verfügung.

Diese optional erhältlichen Neoprenmatten bieten Platz für Gegenstände und Disziplinen, wie auch Hitpoints und Aktionspunkte (die Glassteine habe ich jedoch extra erworben).

Natürlich noch die über 110 Disziplinen. Dabei gibt es fünf verschiedene Skillbäume, in jeweils vier Stufen. Um eine Fähigkeit der zweiten Stufe zu erlernen, benötigt man bereits eine der ersten Stufe in der gleichen Disziplin. Die fünf Gruppen sind:

Die Gegenstände und Disziplinen bringen einem dauerhafte Fähigkeiten (Passive), also auch welche, die einmal pro Runde genutzt werden können (Exhaust); muss eine Karte zur Akitivierung geflipt werden, wird sie erst bei einer in der Story abgekündigten Rast wieder verfügbar.

Martial: Klassische Kriegerfähigkeiten, mehr oder stärkere Angriffe und Selbstverteidigungsmöglichkeiten.

Subterfuge: Die Schurkenskillung für viel Extraschaden und Bewegungsoptionen.

Sanctus: Heilung, Entfernen negativer Konditionen und Buffs, was oft auf andere angewandt geringe oder keine Kosten hat.

Cruor: Blutmagie, um damit viel Schaden zu generieren, der Rüstungen ignoriert, aber einem auch oft selbst Schaden zufügt.

Assemblage: Ein Sammelsurium von Beschwörungszaubern oder auch Gestaltwandeln.

Die Story ist schon fortschreitend linear, aber man hat immer wieder Entscheidungen im Choose-your-own-Adventure-Style, wie man Nichtspieler-Charakteren begegnet (bestehlen oder nicht), welchen Weg man im Szenario einschlägt, ob es einem gelingt, das Ziel zu erreichen, oder ob man einen Sidequest überhaupt antreten will. Je nachdem erwarten einen Konsequenzen oder Schätze.

Die Würfel haben acht unterschiedliche Powerlevel, angefangen mit violett. Symbole gibt man für Extraschaden und Sondereffekte aus. Der schwarze Würfel ist für Powerattacks, hat aber durch den Totenkopf eine zusätzliche Chance zu verfehlen.

Ein besonderer Clou des Spiels liegt darin, dass man es geschafft hat, die Spieler nicht zu spoilern, anders als z. B. noch in den alten Gloomhaven-Szenarien. Sogenannte Totem-Token, in deren Blickfeld man gelangt, schreiben die Geschichte fort, die im Buch unter einem Rotfilter verborgen ist. Mit einem Stück roter Folie bewaffnet, kann man diese dann lesen, ganz wie früher im Micky Maus– oder Yps-Heft. (Mit seinem Smartphone kann das natürlich auch machen.) So kommen neue Gegner aufs Feld, aber auch Hinterhalte und verborgene Räume werden freigespielt. Hierzu gibt es ein eigenes Diagramm-Buch.

Ausstattung

Fangen wir mit einem Minuspunkt an: Miniaturenliebhabern wird sofort auffallen, dass hier nicht die Qualität erreicht wird, die man von CMON oder auch Gloomhaven und KDM gewohnt ist.

Dafür kann sich vor allem das Terrain sehen lassen. Das UV-Finish sorgt dafür, dass Teile der Bodenplatten wundervoll plastisch scheinen.

Die Karten sind stabil genug, ein sleeven gerade der Initiative-Karten wird dennoch empfohlen. Die optionalen Neopren-Matten sind allerdings geradezu absurd lang – hier wird ein großer Tisch benötigt, um alle Karten und Token unterzubringen.

Das Herzstück des Spiels, das fast 500 Seiten starke Hauptbuch und die weiteren Bücher, alle in Spiralbindung, zeigen neben hochglänzender Masse auch viele Bebilderungen im Manga-Look. Auch die Audiobook-Variante ist gut und stimmungsvoll produziert, wenn auch vielleicht etwas schnell gesprochen, gerade für nicht-muttersprachliche Zuhörer. Die Story ist irgendwo zwischen Buffy, einem Manga und klassischer Fantasy aufgehangen und durchaus ordentlich geschrieben, auch wenn die Anführerin zuweilen ein wenig sehr euphorisch daherkommt und der coole Zeke sich primär durch Kettenrauchen auszeichnet.

Das Abenteuerbuch mit seinen 500 Seiten, der Text teilweise nur durch einen Rotfilter zu lesen, daneben der große Rook zum Vergleich.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Succubus Publishing
  • Autor(en): Clayton Helme, Brooklynn Lundberg, Brennon Moncur, Ian Tate
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: Englisch
  • Spieldauer: 60-90 Min (pro Szenario/Karte)
  • Spieleranzahl: 1 2 3 4
  • Alter: 15+
  • Preis: 115 USD
  • Bezugsquelle: Kickstarter der 2. Edition von Akt I, sowie von Akt II und III

 

Bonus/Downloadcontent

Unser Bemalungsstand der kleinen Miniaturen, daneben gibt es noch sechs übergroße, ein Extra-Pack für Summons und Charaktere der Piratengeschichte, die online erscheinen soll, und viele Pappaufsteller für Bosse.

Auf der Website von Succubus Publishing gibt es im Download-Bereich die aktuelle Version der Regeln, die ersten beiden Kapitel der Audio-Files (die sonst auch als iOS oder Android-App erhältlich sind oder auf YouTube verfügbar), sowie die Spark Notes, also die Kurzversion des Flavor-Textes, und Regelvarianten für zwei oder drei Spieler/Charaktere.

Ein praktischer 2-seitiger Überblick über alle Token und Begriffe aus dem BoardGameGeek-Downloadbereich als Referenz sollte beim Spiel nicht fehlen.

Auf dem offiziellen YouTube-Channel findet man einen mehrteiligen Gesamtüberblick der Regeln, angefangen mit dem Überblick über die Komponenten.

Fazit

Wer es liebt, sich potenziell stundenlang mit dem Bauen und Optimieren von Charakteren sowie deren Disziplinen und Gegenständen auseinanderzusetzen; wer ein nicht komplett neues, aber interessantes, taktisches Kampfsystem schätzt; wer eine ausgiebige Geschichte erleben will; der setze sich am besten mit seinen Freunden zusammen und plane eine neue Rollenspielrunde. Oder aber er backt vielleicht mit den gleichen Freunden dieses Spiel.

Mit durchschnittlich 9.0 (von 10) Punkten überzeugt es seine bisherigen Besitzer noch ein wenig mehr als KDM (8.8) und Gloomhaven (8.9), aber durch die noch relativ kleine Gemeinde läuft es im Ranking noch nicht im nennenswerten Bereich.

Die schiere Fülle an Möglichkeiten von Charakterbau und -entwicklung, die elaborierte Story, durchaus mit Wendungen, interessante Bossmechaniken, und auch der modulare Aufbau, der die aktuelle Karte durch den beigelegten Rotfilter oft erst sukzessive offenlegt und teilweise noch mit Hinterhalten füllt, sorgen dafür, dass man lange Freude am Spiel haben wird. Hinzu kommen das enthaltene Minispiel Abraxis, das Sidequest-System, Kopfgeldjägermissionen, ein der Geschichte entkoppelter „Crawl-Modus“ sowie bereits angekündigte weitere online bereitgestellte Abenteuer mit anderen Charakteren. Zudem sind Akt II und III ja jetzt auch in Arbeit – auch wenn es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis die zweite Auslieferungswelle diese dann auch wirklich zu uns nach Hause bringt. Bis dahin haben wir aber auch bereits ca. 90 Stunden Spielspaß und 500 Seiten Story im ersten Akt von Middara.

 

Artikelbild: © Succubus Publishing, Fotografien: Daniel Hoffmann, Bearbeitung: Melanie Maria Mazur

 

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