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Ein künstlich geschaffenes Leben, ein Wesen ohne Erinnerung und eine philosophische Reise quer durch Europa: The Wanderer: Frankenstein’s Creature erzählt von Vicktor Frankensteins Schöpfung und ihrer Suche nach Wissen und Antworten. Die Frage nach dem, was das Menschsein ausmacht, ist zentrales Thema des Indie-Titels.

Frankenstein – das ist doch dieses seltsame Monster, oder? Nicht ganz: Bei Victor Frankenstein handelt es sich vielmehr um den Schöpfer dieser künstlich geschaffenen Kreatur – und um eine Romanfigur. Vor mehr als 200 Jahren veröffentlichte Mary Shelley Frankenstein or The Modern Prometheus (kurz: Frankenstein) und setzte damit einen Meilenstein der Popkultur.

An eine kreative Interpretation des Klassikers hat sich das französische Indie-Studio La Belle Games gewagt: The Wanderer: Frankenstein’s Creature ist seit dem 31.10.2019 erhältlich.

The Wanderer: Frankenstein’s Creature begrüßt SpielerInnen mit einem aufgeräumten Startmenü.
The Wanderer: Frankenstein’s Creature begrüßt SpielerInnen mit einem aufgeräumten Startmenü.

Publisher des Titels ist ARTE France. Obgleich dieser Name eher aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekannt sein dürfte, ist er auch im Kontext von Videospielen, vor allem VR-Titeln, keinesfalls neu.

Das Prequel zu The Wanderer: Frankenstein’s Creature trägt den Titel Frankenstein: Birth of a Myth. Es erschien im vergangenen Jahr und wird kostenfrei auf der offiziellen ARTE-Website angeboten.

Aus kindlichen Augen

Hintergrund und Idee

In Shelleys Roman erschafft Victor Frankenstein bei dem Versuch, etwas Unbelebten Leben einzuhauchen, eine grauenvolle Kreatur. Diese verschwindet nur wenig später aus seinem Labor.

Ihre Reise führt die Kreatur durch wunderschöne Landschaften.
Ihre Reise führt die Kreatur durch wunderschöne Landschaften.

The Wanderer: Frankenstein’s Creature legt den Fokus nicht auf Frankenstein, sondern auf das Wesen, das er geschaffen hat. Als Geschöpf ohne Gedächtnis und ohne Vergangenheit, vor allem aber mit einem kindlichen, gar jungfräulichen Geist, lernt es die Welt und damit auch sich selbst kennen. Das Spiel lässt die Popkultur-Ikone hinter sich und befasst sich mit den Ursprüngen von Shelleys Werk. Gemeinsam mit der kindlichen Seele der künstlich erschaffenen Kreatur begeben sich SpielerInnen auf eine Reise quer durch Europa.

Die Frage danach, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, ist ebenso zentrales Thema von The Wanderer: Frankenstein‘s Creature wie die Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Reise ist somit nicht auf tatsächliche Entfernungen beschränkt, sondern findet auch im Inneren statt. Damit weist das Spiel eine tiefgreifende emotionale Komponente auf.

Böses Erwachen?

Das Spiel beginnt mit dem Erwachen des Protagonisten inmitten von Räumlichkeiten, die ihm fremd sind. Er erinnert sich an nichts weiter außer an ein grelles Licht. Er flieht und findet sich wenig später inmitten der Natur wieder. Hier begegnet er den schönen und den schrecklichen Aspekten der Wildnis. Durch beide lernt er seine eigenen Gefühlte, sein Inneres, kennen. Von Neugier getrieben zieht er weiter.

Keinesfalls freundlich: Ein wütender Mob kesselt den Protagonisten ein.
Keinesfalls freundlich: Ein wütender Mob kesselt den Protagonisten ein.

Während der Reise reflektiert die Kreatur das, was sie erlebt hat. Sie evaluiert Geschehnisse und das Verhalten der Menschen, denen sie begegnet, und versucht, hieraus Lehren zu ziehen. Während die erste Begegnung mit ein paar spielenden Kindern von Freundlichkeit geprägt ist, ist es der Kontakt mit einem wütenden Mob keinesfalls.

In der Folge hält sich die Kreatur eine Weile versteckt und agiert als stiller Beobachter. In jener Zeit eignet sie sich Sprache und kulturelle Kenntnisse an; beides versucht sie, nach und nach zur Anwendung zu bringen. Hierbei wird sie mit der Angst der Menschen, aber auch mit ganz persönlichen Abgründen konfrontiert. Neben der Furcht sind weitere Motive – mithin Einsamkeit, Religion und Liebe – Teil des Spiels.

Religion und Musik – beides wird in The Wanderer: Frankenstein’s Creature thematisiert.
Religion und Musik – beides wird in The Wanderer: Frankenstein’s Creature thematisiert.

Features

To-Do-Liste eines Monsters

Das Reh retten – ja oder nein? Die Entscheidung wird per Mausklick getroffen.

The Wanderer: Frankenstein’s Creature legt den Fokus auf die Reise und auf die emotionale Entwicklung des Protagonisten. Das Entdecken der vielfältigen Karten nimmt den Großteil des Spiels ein. Darüber hinaus gilt es, mit Details der Welt sowie ihren Bewohnern zu interagieren. Dies mithilfe von Mausklicken und somit recht intuitiv – zumindest für Personen, die schon einmal ein Point&Click ausprobiert haben. Infolge dessen entfällt ein Tutorial.

Frankensteins Monster hat viel zu lernen. Die Handlungen innerhalb des Spiels dienen diesem Vorhaben. Oft sind es alltägliche Dinge, die es dafür zu verrichten gilt: Das Jagen von Kleintieren oder das Holzhacken im Winter zählen beispielsweise dazu. Auch das Musizieren darf an mehreren Stellen ausprobiert werden.

Die Handlung des Spiels ist nicht ausschließlich linear. SpielerInnen können stellenweise Dialog- und Handlungsoptionen wählen, die sich auf den späteren Verlauf des Spiels auswirken. Diese Wahlmöglichkeiten machen ein erneutes Spielen des recht kurzen Spiels attraktiv.

Von Angesicht zu Angesicht: Ein erster Dialog.
Von Angesicht zu Angesicht: Ein erster Dialog.

Zum narrativen Schwerpunkt

Die Monologe der Kreatur sind auf hohem Sprachniveau gehalten.

The Wanderer: Frankenstein’s Creature ist ein Rückblick aus den Augen des Protagonisten. Dieser stellt kurz nach Beginn des Spiels dar, dass er die Eindrücke seiner Reise im Nachhinein niederschreibt. Die eingeblendeten Texte sind Auszüge aus diesen Niederschriften. Es handelt sich um aus der Ich-Perspektive geschriebene Monologe, die stark emotional aufgeladen und auf hohem Sprachniveau gehalten sind.

Das Spiel ist in kleine Abschnitte unterteilt, die jeweils eine eigene Überschrift aufweisen. Viele von ihnen bergen eigene Lektionen für den Protagonisten. Eine definierte Länge dieser Lektionen gibt es nicht, während einige in wenigen Minuten durchgespielt sind, sind andere deutlich länger.

Insgesamt entsteht der Eindruck, es handelt sich mehr um einen Film als um ein Videospiel. Lediglich die interaktive Komponente des narrativen Schwergewichts erinnert an den eigentlichen Charakter der Erzählung. Die niedrigen Einstiegshürden sowie die gegebene Zugänglichkeit des Spiels unterstützen überdies diesen Eindruck.

Technisches

Die zu erkundenden Karten von The Wanderer: Frankenstein‘s Creature sind wunderschön. Die Aquarellhintergründe haben eine Entstehungszeit von drei Jahren benötigt. Sie setzen die Handlung nicht nur gekonnt in Szene, sondern definieren durch stetige Veränderungen die aktuelle Atmosphäre: Ist die Stimmung positiv, der Protagonist also guter Dinge und optimistisch, so ist die Welt voller gesättigter Farben. Droht Gefahr oder dominiert Trübsal, verlieren die Hintergründe an Farben und werden monochrom oder aber nehmen bedrohliche Farbtöne an. Zusammen mit der qualitativ hochwertigen musikalischen Untermalung bringt diese Mechanik die Emotionen von Frankensteins Monster ganz nah an die SpielerInnen heran.

The Wanderer: Frankenstein‘s Creature ist eine Indie-Produktion. Als solche wurde sie mit begrenztem Budget produziert – ein Umstand, den man in der Gesamtbewertung des Spiels berücksichtigen sollte. Die technischen Möglichkeiten sind weder neu noch innovativ. Das Heran- und Herauszoomen, das automatisch erfolgt, ist überdies nicht immer optimal; hier entstand beim Spieltest an mehreren Stellen der Wunsch, selbst die Steuerung übernehmen zu dürfen. Außerdem kam es im Rahmen des Spielens zu kleineren technischen Fehlern (z. B. Einfrieren der Szenerie, Text, der über den Bildschirmrand hinausgeht), die jedoch entweder der Spielerfahrung keinen Abbruch getan haben oder durch erneutes Laden der Szene behoben werden konnten.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: La Belle Games
  • Publisher: ARTE France
  • Plattform: PC/Mac, Android/iOS (November 2019), Nintendo Switch (1. Quartal 2020)
  • Mindestanforderungen:
  • Betriebssystem: Windows 7 (64 bits)
  • Prozessor: AMD Athlon II X2 245 oder besser
  • Arbeitsspeicher: 2 GB RAM
  • Grafik: AMD Radeon HD 6450 oder besser
  • Speicherplatz: 2800 MB freier Festplattenspeicher
  • Genre: Adventure, Indie
  • Releasedatum: 31.10.2019
  • Spielstunden: 4 Stunden
  • Spieleranzahl: 1
  • Altersfreigabe: FSK 0
  • Preis: 14,99 EUR
  • Bezugsquelle: Steam

 

Fazit

The Wanderer: Frankenstein’s Creature ist mehr Kunstwerk als Spiel. Wasserfarben, die die Emotionen des Protagonisten reflektieren, erinnern an Romantikgemälde. Die Suche nach dem Menschsein und den eigenen Wurzeln sind zentrale Themen. Diesen können sich SpielerInnen dank intuitiver Steuerung vollkommen widmen, es muss nicht erst viel in einem Tutorial erlernt und zur Anwendung gebracht werden. Das Spiel ist daher auch für Personen geeignet, die wenig Zeit am Computer verbringen.

La Belle Games beeindruckt mit farbenfrohen Kunstwerken anstelle eintöniger Hintergründe.
La Belle Games beeindruckt mit farbenfrohen Kunstwerken anstelle eintöniger Hintergründe.

Während die technischen Details keinesfalls neu, innovativ oder umwerfend sind, ist es das Prinzip der wechselnden Farben auf den Karten. Des Weiteren ist das behandelte Thema mitsamt den aufgeworfenen Fragen mehr als interessant. Die philosophische Komponente regt zum Nachdenken an.

The Wanderer: Frankenstein’s Creature macht Spaß und regt zum Nachdenken an. Es verlangt weder rasche spielerseitige Reaktionszeiten noch das Erlernen einer komplexen Steuerung. Vielmehr erzählt der Indie-Titel eine Geschichte und ist stellenweise einem Film nicht unähnlich. Ein Kostenvergleich mit Kinotickets oder DVD- bzw.  BluRay-Preisen zeigt, dass Frankenstein’s Creature mit EUR 14,99 ein fairer Handel ist. Dies zumindest für SpielerInnen, die sich gerne emotional involvieren lassen.

Wie auch Shelleys Roman ist dieses Spiel inhaltlich prädestiniert für die dunkle Jahreszeit und somit definitiv eine Empfehlung für den nahenden Winter.

 

 

Artikelbild: La Belle Games/ARTE France, Screenshots: La Belle Games/ARTE France, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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