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Man nehme eine gehörige Portion Strategie als Basis, mische Fantasy, etwas Science-Fiction und einen Schuss Mythologie bei und runde alles mit einer detailverliebten Spielwelt ab. Heraus kommt das Brettspiel mit Zungenbrechertitel TsukuyumiFull Moon Down. Was kann das Area-Control-Schwergewicht wirklich?

Die Ausgangsgeschichte des Spiels klingt dystopisch: Der Mond ist auf die Erde herabgestürzt und hat den in ihm einst verbannten Drachen Tsukuyumi befreit. Und der Drache sinnt auf Rache! Dies hat die Welt auf links gedreht, vom Pazifik blieb nur noch eine Pfütze zurück, die Menschheit sowie Flora und Fauna wurden nahezu ausgelöscht. Der lange verbannte Drache macht mit einer Armee sogenannter Oni – gesichtsloser, kriegerischen Kreaturen – Jagd auf die letzten Überlebenden. Diese geben sich jedoch nicht kampflos geschlagen. Hochevolutionäre Tiere und Insekten, aufgerüstete Soldaten oder neuartige Mensch-Maschinenkrieger setzen sich den zerstörerischen Absichten von Drachen und Oni entgegen. Neuartige Technologie trifft auf mutierte Natur. Im Grundspiel stehen den Spielern fünf Fraktionen zur Verfügung; die Wildschweinkrieger Boarlords, die insektenartigen Dark Seed, Cybersamurai, Roboter namens Kampfgruppe 03 und menschliche Soldaten, die Nomads. So kämpft jeder Spieler als eine dieser Fraktionen um die Vorherrschaft auf dem ungewohnt trostlosen Angesicht der Erde.

Tsukuyumi, an dem Autor Felix Mertikat, bekannt etwa als Comiczeichner von Steam Noir, zwei Jahre lang gefeilt hat, begann als ambitioniertes, aber erfolgreiches Kickstarterprojekt. Insbesondere in das Ausklügeln des Spielprinzips sind nach eigenen Aussagen mit über 200 Testspielern viele Stunden geflossen. Und das alles für ein simples Area-Control-Spiel? Trotz der ähnlich klingenden Ausgangsanmutung steckt bei Tsukuyumi jedoch mehr dahinter als der x-te Aufguss des Risiko-Prinzips. Dies bezieht sich nicht nur auf das postapokalyptisch-fantastische Spieldesign, sondern auch auf die Spielmechanik. Tsukuyumi ist für echte Strategen und entscheidet die Schlachten nicht mit dem besseren Würfelglück, denn es gibt keine Würfel oder großartig Zufallsmechanismen. Der Glücksanteil tendiert gegen Null. Wir haben es außerdem mit einem asymmetrischen Spielprinzip zu tun, sprich die fünf gegeneinander antretenden Fraktionen spielen sich jeweils komplett anders, haben unterschiedliche Ziele und Fähigkeiten, Stärken und Schwächen.

Kann das funktionieren? Wir haben uns angeschaut, wie gut ausbalanciert das Ganze geworden ist.

Spielablauf

Vorweg: Das Regelwerk von Tsukuyumi ist umfangreich. Allerdings folgen die Regeln dem bewährten Prinzip von einigen Strategiespielen: „Einfach zu erlernen, schwer zu meistern“, und die Grundregeln für eine erste Partie sind wahrlich schnell erklärt. Eine Angelegenheit für Eilige ist Tsukuyumi dennoch nicht. Allein der Spielaufbau frisst einiges an Zeit. Das nach Belieben modular zusammensetzbare Spielfeld muss aufgebaut werden, inklusive dem Startaufbau jeder Fraktion. Das Spielfeld bietet hier im Übrigen mehr als nur ein gutaussehendes Schaufeld, es gibt blockierte Stellen und verschiedene Gebietstypen, wie radioaktives oder instabiles Gelände, das je nach Spielerfraktion und Situation vor- oder nachteilig sein kann.

Neben dem Gebiet des Mondes und der Platzierung der Oni hat jede Fraktion ein Heimatgebiet mit individuellen Platzierungsregeln für die Starteinheiten. Übrige Einheiten und alle notwendigen Marker werden am Spielfeldrand als Vorrat bereitgelegt. Ereigniskarten und Aktionskarten werden getrennt gemischt und kommen ebenfalls an die Seite. Zusammen mit den Fraktionsbögen für jeden Spieler und dem Initiativebrett, das die Zugreihenfolge der Fraktionen festlegt, ist selbst ein großer Spieltisch dann schon ziemlich voll. 

Grundsätzlich werden vier Runden gespielt, und am Ende gewinnt der Spieler, der durch die Eroberung von Gebieten und das Erfüllen von Missionen die meisten Siegpunkte erreichen konnte. Von denen lassen sich manche während des Spiels verdienen, manche erst ganz am Ende oder durch optionale Erfüllung individueller Fraktionsziele.

Achtung: Vier Runden hört sich hierbei wenig an, mit mehreren Phasen pro Spieler summiert sich das jedoch schnell zu einer Spielzeit pro Partie von zwei bis drei Stunden. Die Spieler treten hier nicht nur gegeneinander an, sondern auch gegen die kriegerischen Oni. Diese werden sozusagen vom Spiel gespielt, ähnlich wie der Virus in Pandemie. Das heißt, jeder Spieler setzt die Platzierung und Bewegung der Oni-Einheiten in einer der Spielphasen.

Sind Spielfeld und Einheiten aufgebaut, werden nach einem Draftingprinzip Aktionskarten an jeden Spieler ausgeteilt und die nicht gewählten an den nächsten Spieler weitergegeben. (Auf diese Art und Weise hat man zumindest die theoretische Möglichkeit zu wissen, wer welche Aktionskarten hat, da jede einmalig ist, um auch hier das Element des Zufalls sehr gering zu halten.)

Dann kann die Partie starten. Beginnend mit derjenigen Fraktion, die an erster Stelle auf dem Initiativebrett steht, wird die erste Runde gespielt.

Jede Runde besteht aus vier Phasen:

Weiße Phase: Zwei freie Aktionen durchführen

Blaue Phase: Ereigniskarten und Fraktionseffekte ausführen

Grüne Phase: Herstellen und Platzieren von neuen Einheiten (oder Aufwertung von vorhandenen) und Bewegung der neutralen Oni

Rote Phase: Bewegung der Einheiten, sowie Kampf und Gebietseroberung

Aktionsmöglichkeiten, die einem die Karten bieten, gibt es einige; etwa die Effekte der eigenen Fraktionen benutzen, die Initiativreihenfolge ändern, Oni steuern, kämpfen, sich bewegen oder Ereigniskarten ziehen. Ereigniskarten erweitern die Möglichkeiten jedes Spielers noch weiter, man kann zum Beispiel Einfluss auf das Gebiet nehmen, seine Armee aufwerten oder aufstocken oder eine Reihe von Sofortaktionen ausführen. Das Bewegen und Kämpfen mit neutralen Oni macht das Spiel hier besonders interessant, da man sie einerseits, wenn man selber an der Reihe ist, gerne für die eigenen Zwecke gebraucht, aber andererseits im Kopf haben sollte, dass man sich damit nicht im Zug des Gegners eine Grube gräbt, wenn dieser wiederum die Oni steuert. Überhaupt ist das strategietypische Vorausdenken auch bei Tsukuyumi hoch im Kurs. Es gibt keine per se überlegene Fraktion, man muss seine eigenen Stärken und Schwächen kennen und idealerweise den Gegnern geistig einige Schritte voraus sein.

Interessant ist bei Tsukuyumi das Kämpfen, was weder besonders lange braucht noch sonderlich kompliziert ist. Grundsätzlich können mit Aktionen Gebiete erobert oder feindliche Einheiten vernichtet werden. Gebiete werden erobert, wenn die darauf stehenden Einheiten einen höheren oder gleich hohen Eroberungswert haben. Schon gehört das Gebiet euch und wird mit einem sogenannten Hoheitsmarker markiert. Beim Vernichten muss der eigene Angriffswert den Lebenspunktewert der gegnerischen Einheit übertreffen oder gleich sein. Doch auch ein erfolgreicher Angriff wird vom Gegner mit einem Konter beantwortet, den dieser selbst auswählt, zum Beispiel ob ein Gegenschlag erfolgen soll, ein Rückzug der anderen Einheiten oder eine Ereigniskarte benutzt werden darf. Die Kämpfe sind somit angenehm einfach durchführbar, lediglich die Bewegung eigener Einheiten durch feindliche hindurch, die sofort beendet wird, wenn diese beim Wert der Lebenspunkte höherwertig sind, kann manchmal den Betrieb aufhalten. Durch die dazu benötigten klein gedruckten Zahlen auf den Aufstellern kann es gerade bei schummrigem Licht schon mal fummelig werden, dies richtig zu erkennen und entsprechend seine Taktik danach planen zu können.

Das Grundspiel von Tsukuyumi wird mit drei bis fünf Spielern gespielt. Zwar existiert eine (nicht im Umfang enthaltene) Erweiterung für die Spielbarkeit von zwei Spielern mit zusätzlichen Fraktionen und Karten, jedoch entfaltet das Grundspiel eher mit ab vier Spielern und nicht als zu duellartiger Schlagabtausch seine faszinierende Dynamik.

Der Wiederspielwert ist hoch, der Reiz steigt eher, je länger man sich mit Spiel und Regelwerk beschäftigt hat. Auch mit den gleichen Fraktionen und dem gleichen Gelände spielt sich keine Partie wie die andere. Bis man die taktischen Feinheiten einer Fraktion so heraus hat, dass man sich dort richtig zuhause fühlt, können einige Abende vergehen. Der asymmetrische Ansatz funktioniert geradezu verblüffend gut und wirkt vollständig ausbalanciert. Jede Fraktion hat ihre Stärken und Schwächen, am häufigsten gewinnen wird unter dem Strich tatsächlich das beste, möglichst vorausschauende Taktieren. Und die Alternierungsmöglichkeiten des Spiels sind durch Gebiets- oder Fraktionswechsel gigantisch.

Mit Tsukuyumi bekommt man ein Paket voller spielerischer und taktischer Möglichkeiten an die Hand, allerdings ist dies nur für Hobbystrategen zu empfehlen, denn der fast gänzlich fehlende Glücksfaktor wird polarisieren. Bei der Wahl seiner Mitspieler sollte man dies definitiv berücksichtigen.

Ausstattung

Viel Umfang, viel Story und auch viel Inhalt. Tsukuyumi bringt in jeder Hinsicht eine Menge mit, so wurde auch beim Material alles andere als gespart und eine brandneue Box sorgt erst einmal für einigen zeitlichen Aufwand beim Materialplöppeln.

Es gibt allein 41 doppelseitige Gebietsplättchen, aus denen sich immer wieder neu die Spielumgebung zusammensetzt, sowie ein großes Gebiet, welches den Krater des abgestürzten Mondes, das Heimatgebiet der Oni, darstellt, und einen Mondmarker zum Aufstellen. Des Weiteren ist eine Vielzahl an Markern, Karten und natürlich das Material der Fraktionen vorhanden.

Zu dem Material der Fraktionen gehören, neben einem Fraktionsbogen und den allgemeinen Markern für die Anzeige der Initiative, teilweise auch spezielle fraktionseinzigartige Marker: So gibt es etwa bei den insektenartigen Dark Seed Marker, die das Ablegen von Eiern darstellen. Außerdem finden sich jeweils eine Vielzahl von Aufstellerplättchen, die auf mitgelieferte Ständer gedrückt die verschiedenartigen Kämpfer der Fraktionen darstellen. Einziges Manko in Sachen Qualität hierbei: Die Plastikständer zum Hineinquetschen der 2D-Spielfiguren aus Pappe sind doch sehr eng, bei einigen Figuren besteht die Gefahr, den Aufdruck an der aufgesteckten Seite leicht zu beschädigen. Fällt zwar nicht stark auf, ist aber trotzdem schade.

Insgesamt ist das Material jedoch von guter Qualität und Haptik. Positiv zu bewerten ist außerdem die kreativ erdachte und schön illustrierte Optik, die sich durch das gesamte Design von Tsukuyumi zieht. Gut gezeichnet und auch farblich aufeinander abgestimmt, dass es trotz verschiedener Spielerfarben auf dem dominierenden Mondgrau des Spielfelds nicht zu bunt und unübersichtlich wirkt.

Eine besondere Erwähnung sollte außerdem die Spielanleitung bekommen. Zunächst einmal gibt es nicht nur ein schnödes Regelbuch, sondern gleich zwei. Ein eher schlankes Regelheft, das die wichtigsten Spielregeln, den grundsätzlichen Aufbau und einige Szenarien beinhaltet und ein dickeres namens „Codex“. Letzteres erläutert sämtliche Regeln, Begriffe und Karten bis ins Detail. Und bietet sogar mehr als das: Zu jeder Fraktion gibt es Taktiktipps, Erklärungen und die Hintergrundgeschichten als wunderschön gezeichnete und erzählte Comicstorys! Selten brachte das Regelwerk eines Taktikspiels derart viel Liebe mit sich.

Für Ungeduldige und Neulinge wurde bei den Spielregeln an eine gut gemacht Schnellstartanleitung gedacht, in der auch hilfreiche Vorschläge gegeben werden, welche Spielelemente man für die allererste Partie vielleicht lieber außer Acht lässt, um sich nach und nach heranzutasten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Asmodee Deutschland/King Raccoon Games
  • Autor(en): Felix Mertikat
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 180+ Minuten
  • Spieleranzahl: 3 4 5
  • Alter: Ab 12 Jahren
  • Preis: ca. 70 Euro
  • Bezugsquelle: Fachhandel, idealo, Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Asmodee bietet auf der Landingpage zu Tsukuyumi die vollständigen Spielregeln als PDF.

Auf der gut gemachten, umfangreichen Webseite zu Tsukuyumi kann man sich außerdem ein Bild vom Spiel, dem Gameplay, den Fraktionen und allem anderen machen, wo man etwa auch die bereits erwähnten Comics online findet.

Im Kickstarterprojekt findet man außerdem einige Print’ n’ Play-Dateien verlinkt, zum Erstellen von ganz eigenem Material plus jede Menge Artwork, einem Artbook und vielem mehr.

Mit After the Moonfall gibt es außerdem bereits eine Erweiterung mit weiteren Fraktionen, die Tsukuyumi dann auch mit sechs Fraktionen gleichzeitig spielbar macht. (Wohlgemerkt wurden diese zusätzlichen Fraktionen schon bei der Entstehung des Grundspiels berücksichtigt, nicht nachträglich „aufgesetzt“.)

Und wer total begeistert von der Welt von Tsukuyumi ist, kann in das Buch Jadeträne – Die Insignien des Kaisers: Ein Tsukuyumi-Roman von Anja Bagus einen Blick werfen.

Fazit

Tsukuyumi richtet sich definitiv an Kenner, Strategen und Vielspieler. Auch kostet es nicht nur viel Platz, sondern auch Zeit und spielt sich nicht mal eben so. Jedoch ist Tsukuyumi zwar komplex, aber nie kompliziert. Meine ersten Bedenken, auch als fortgeschrittener Spieler vom Umfang erschlagen zu werden, bestätigten sich nicht, da man Schritt für Schritt vom Regelwerk eingeführt und alles kleinteilig beschrieben und erklärt wird. Sobald man selbst und die Mitspieler nach einigen Partien den großen Umfang der Spielwelt geschluckt haben, kann man den eigentlichen Genuss des Spiels empfinden und die Vor- und Nachteile jeder Fraktion nach und nach kennenlernen. Und daraufhin immer neue Taktiken zum Sieg ersinnen. In der Tat spielt sich keine Partie wie die vorherige.

Man fühlt förmlich beim Spielen die Liebe und Zeit, die hier in die Spielentwicklung und die vor Kreativität sprühende, gezeichnete Optik geflossen ist. Mit einer Runde motivierter Hobbystrategen kann man viel schöne Zeit in dem vielseitigen Brettspiel versenken – wenn auch nur mit ausreichend großem Spieltisch!

Artikelbilder: © Asmodee Deutschland
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Rick Davids
Fotografien: Thekla Barck
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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