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In Marauders werden aus X-Men Piraten; Venom verschwindet auf eine fast einsame Insel und Winter Soldier trifft auf einen jugendlichen Assassinen. Im Marvel Monthly besprechen wir wie immer spannende deutsche Neuveröffentlichungen. Diesmal gibt es einige Revivals. Können die Comics trotzdem überraschen? Und stirbt eine Titelfigur?

Dass Marvel sich immer gerne aus seiner inzwischen 80 Jahre alten Geschichte bedient, wird dieses Jahr sehr deutlich. Auch wenn Marauders eine vollkommen neue Reihe ist, so bedient sie sich wie die erste Nightcrawler-Reihe eines Piratenthemas und wählt mit dem Titel „Marauders“ den Namen der X-Men-Gegner, die einst für das Mutanten-Massaker an den Morlocks verantwortlich waren. Im aktuellen Venom-Band muss sich Eddie Brock mit den Spuren von Absolute Carnage herumschlagen. Dazu zieht es ihn auf die Insel, auf der er lebte, nachdem er dachte, er hätte Spider-Man endgültig besiegt; bis selbiger ihn von dort holt, um gemeinsam Carnage zu besiegen. Der letzte Band dreht sich um Bucky Barnes, den Winter Soldier. Eine Figur, die nur selten Titelheld einer eigenen Serie ist. In dem Band, der für sich alleine steht, taucht ein Junge auf, der ein ähnliches Kostüm trägt, wie Bucky selbst es hatte, als er noch der Sidekick von Captain America war. Kann Bucky den Jungen vor einem Schicksal als Killer bewahren, vor welchem ihn selbst niemand schützen konnte? Themen, die seit langer Zeit Teil des Kanons sind, werden immer wieder aufgegriffen. Kann auf diese Weise dennoch etwas Neues erzählt werden?

Marauders #1: X-Men auf hoher See

Seit die Mutanten auf Krakoa leben, hat sich einiges verändert. Überall auf der Welt sind Portale gepflanzt worden, die Mutanten nutzen können. Doch als die ehemalige Schulleiterin Katherine Pryde zum ersten Mal eines der Portale ausprobieren will, stößt sie sich die Nase und holt sich ein blaues Auge. Die Portale bleiben für sie geschlossen. Sie scheint kein Teil der neuen Mutantenwelt zu sein. Bevor sie sich damit beschäftigen kann, unterbreitet Emma Frost ihr ein Angebot, dass sie nicht ablehnen kann: Als Kapitän eines Schiffes kümmert sie sich um die Angelegenheiten der Hellfire Trading Company an Orten, an denen Regierungen Mutanten unterdrücken und ihnen den Zugang zu den Portalen verbieten.

Von allen neuen X-Men-Reihen ist dies diejenige, die sich noch am ehesten so wie die guten alten Geschichten von Chris Claremont anfühlt. Es gibt wilde Abenteuer, Botschaften zur Unterdrückung von Minderheiten, Kinder in Not, viele Wendungen und viel Spaß, der alles gut konsumierbar macht. Als Hauptfiguren sind Katherine Pryde (die über den Spitznamen Kitty hinausgewachsen ist), Storm, Bishop, Iceman und Pyro dabei. Pryde agiert teilweise rigoroser als erwartet, genießt aber das Dasein als Piraten-Kapitän. Ihr Drache Lockheed passt gut in das Gesamtbild. Das Fehlen von Nightcrawler ist schade, da er wunderbar zu der Truppe gepasst hätte. Dass stattdessen Iceman und Pyro ausgewählt wurden, könnte an dem unsäglichen dritten X-Men-Film liegen, in dem die beiden mit Kitty gemeinsam unterwegs waren. Doch alle Figuren harmonieren wunderbar und man fragt sich, warum Lockheed und Pyro nicht schon längst zusammen agiert haben.

An Antagonisten tauchen sehr viele Figuren aus der langen Marvel-Historie auf. Da fällt es teilweise schwer, den Überblick zu behalten. Doch viele dieser Charaktere sollen den Protagonisten nur als Gegner für actionreiche Kämpfe dienen und brauchen daher keine gute eigene Motivation. Allein dadurch wirkt dieser Band ein wenig altmodisch.

Piraten! Mutanten! Was soll da schon schief gehen?

Gerry Duggan, der jahrelang für Deadpool verantwortlich war, versteht sich wunderbar auf humorvolle Geschichten. Angenehm ist, dass es auch immer wieder ernst sein darf und es wirkliche Entwicklungen gibt. Der Humor ist weniger auf Pointen als eine grundlegend optimistische und positive Stimmung ausgerichtet. Das ist unterhaltsam, führt aber auch dazu, dass die Handlung etwas seichter ist, als sie eigentlich sein könnte. Die übergeordnete Erzählung ist noch nicht völlig greifbar. Die bei Mutantentiteln momentan üblichen weißen Textseiten werden hier für Geheimdienstdokumente benutzt. Hieraus hätte sich wunderbar eine übergeordnete Handlung spinnen lassen. Die Machenschaften von Sebastian Shaw geben dagegen bisher noch nicht viel her.

Zeichnerisch wird wenig falsch gemacht. Der Band ist so nah am typischen Marvel-Stil, dass man selbst die Zeichner*innenwechsel gar nicht bemerkt. Zwar gibt es keine Seite, die man sich eingerahmt an die Wand hängen würde, aber jedes Bild unterstützt die Erzählung und Leser*innen behalten bei schnellen Actionsequenzen stets den Überblick.

Als großer X-Men– und Piraten-Fan habe ich diesen Band sehnlichst erwartet. Vielleicht lag es auch an den zu hohen Erwartungen, dass ich nicht mit einem vollkommen positiven Bild abschließen konnte. Dieser Comic ist im guten Sinne ein klassischer Superhelden-Comic mit Figuren, die ehrbare Ziele haben und sich Gegnern gegenüberstellen, die aus Egoismus und Hass handeln oder einfach nur Kanonenfutter sind. Der Band macht Spaß, ist aber nicht eigenständig oder originell genug, um aus der Masse herauszuragen. Wer an einem wilden Piratenabenteuer seinen Spaß hat und die Charaktere mag, sollte dennoch zugreifen, denn es darf auch manchmal in seichte Gewässer gehen.

Die harten Fakten

  • Autor: Gerry Duggan
  • Zeichner: Lucas Werneck, Matteo Lolli, Michele Bandini
  • Seitenanzahl: 164
  • Preis: 19 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Panini-Comics, Amazon, idealo

 

Venom #6: Insel des Grauens

Absolute Carnage ist vorbei. Doch das Event endete mit einem Cliffhanger: Knull wurde befreit, als Eddie Carnage besiegte. Doch noch weiß außer ihm selbst und seinem Sohn Dylan niemand davon. Eddie wird nun zu den Avengers eingeladen. Plötzlich merkt er, dass Cletus Kasady zwar getötet wurde, aber Carnage noch lebt. In ihm. Also zieht sich Eddie an den sichersten Ort zurück, den er kennt: Isla de Huesos, die Knocheninsel, auf die er einst Spider-Man verschleppte, um ihn endgültig zu besiegen. Während es zum Showdown zwischen Venom und Carnage kommt, versucht Dylan gemeinsam mit Sleeper, seine Fähigkeiten genauer zu erkennen. Denn seine Verbindung zu den Symbionten wird immer stärker.

Neben den bereits angesprochenen Figuren ist auch Captain America dabei. Er will Venom ins Avengers-Team holen und ist für Eddie Projektionsfläche für den großen Helden, der er gerne wäre. Hatte er in Absolute Carnage noch die Wahl getroffen, seinen Sohn statt die ganze Welt zu retten, regt sich hier nun sein schlechtes Gewissen. Kann er ein Avenger sein, wenn er nicht einmal in der Lage ist, Opfer zu bringen?

Daneben besteht der größte Teil dieses Comics aus dem Kampf zweier Symbionten. Das ist immer wieder originell, zieht sich aber etwas lange hin. Hier fühlt man sich ein wenig an eine alte Anime-Serie erinnert, bei der sich ein Kampf über mehrere Folgen zieht und ein großer Teil der Zeit für Zusammenfassungen verschwendet wird.

Zwischen Absolute Carnage und dem König in Schwarz

In diesem Comic war der alte Spider-Man-Zeichner Mark Bagley für die Bilder verantwortlich. Das ist besonders erfreulich, da Bagley damals Carnage maßgeblich mitgestaltet hat und die meisten seiner großen Auftritte gezeichnet hat. Hier sieht man wunderbar, dass sein Stil gar nicht veraltet ist und er immer noch mit aktuellen Publikationen mithalten kann. Darüber hinaus ist es faszinierend, wie wenig sich sein Stil von den anderen Venom-Ausgaben unterscheidet, wodurch die Reihe ein rundes Gesamtwerk ergibt.

Weiterhin wird in diesem Band Eddies Weg von Antihelden zum Helden gezeigt, der alles für seinen Sohn tut und Verantwortung übernimmt. Dabei ist die Handlung in sich geschlossen und man könnte diesen Comic auch gesondert von den anderen Ausgaben lesen. Im Vergleich zu den anderen Ausgaben fehlt es  immer wieder am richtigen Knall und zu oft fühlt man sich beim Lesen hingehalten. Dennoch schafft es die Handlung erneut, zu überraschen und die Spannung so hoch zu halten, dass man direkt weiterlesen möchte.

Die aktuelle Venom-Reihe bleibt eines der spannendsten Produkte, das aus dem Marvel-Portfolio bei Panini erscheint. Die Insel des Grauens ist ein Comic, der wie eine Brücke zwischen zwei großen Events fungiert. Es gibt viele Anspielungen und Berührungspunkte zu der bevorstehenden Ankunft von Knull, ohne dass dieser Handlungsstrang in den Vordergrund rückt. Wie diese Teaser aber eingebaut werden, fühlt sich frisch an und sorgt für immer neue spannende Momente. Es bleibt die Frage, wie oft Leser*innen diesen Kniff mitmachen, bis sie die Geduld verlieren.

Die harten Fakten

  • Autor: Donny Cates
  • Zeichner: Mark Bagley
  • Seitenanzahl: 140
  • Preis: 17 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Panini-Comics, Amazon, idealo

 

Winter Soldier: Zweite Chancen

Bucky Barnes hat ein Programm aufgebaut, bei dem er Menschen hilft, die einen anderen Weg einschlagen wollen. Er hilft Verbrechern, auszusteigen oder Doppelagenten, eine neue zivile Identität anzunehmen. Dabei will er Anderen das Leben ermöglichen, das er selbst nie haben konnte. Als dann mit RJ ein Spiegelbild seiner Vergangenheit auftaucht, ist ihm klar, welches Projekt er auf jeden Fall angehen will. Nur dumm, dass RJ von Hydra angesetzt wurde, ihn umzubringen.

Im Grunde haben wir hier eine Vater-Sohn-Geschichte, auch wenn die Protagonisten nicht verwandt sind. Als Antagonist ist Bucky auch gleich eine weitere Vaterfigur für RJ gegenübergestellt. Ich denke, es ist kein Spoiler, wenn ich sage, dass auch RJs leiblicher Vater eine Rolle spielt. Dementsprechend stellt sich dieser Comic Fragen wie: Was macht einen guten Vater aus? Können Leute sich ändern? Und: Kann man ein Leben vermitteln, dass man nicht einmal selbst leben kann?

Auch wenn solche Geschichten bereits zu Genüge erzählt wurden, fasziniert dieser Band auf seine eigene Art. Das wird besonders am Ende deutlich, wenn sich Bucky sein eigenes Leben in Frage stellen muss. Trotz der Ernsthaftigkeit und des Schwermuts weiß der Comic auch zu unterhalten. So muss sich der Winter Soldier unter anderem Spot stellen, einem von Spider-Mans eher albernen Gegnern. Und auch Tony Stark ist für kleinere Gags dabei.

Das Verhältnis zwischen Bucky und RJ ist glaubwürdig und funktioniert. Hier merkt man aber, wie klassisch die Figurenkonstellation ist. Bucky kennt RJs Verhalten aus seiner eigenen Vergangenheit und RJ füllt die Rolle des rebellierenden Teenagers aus. Dass das Ende überrascht, führt dazu, dass ein positiver Gesamteindruck zurückbleibt.

Ein spannender Zeichenstil

Bei den Zeichnungen sieht man jeden Strich. Fast wirkt dieser Band wie ein koloriertes Skizzenbuch. Dabei bleibt die Anatomie stets realistisch und die Emotionen werden perfekt eingefangen. Die Kolorierung hebt die Bilder auf eine ganz neue Stufe. Auch hier ist jeder Pinselstrich erkennbar, doch schaffen die Bilder dadurch Atmosphäre und eine Tiefe. Der Stil erinnert mich ein wenig an Phil Noto, dessen Bilder ich mir auch lange anschauen kann.

In der Summe haben wir eine Geschichte, die schon oft erzählt wurde und hier auch nicht wirklich origineller ist als in beispielsweise Grant Morrisons Batman-Run. Dennoch schafft es die Handlung, zu fesseln, auch, weil früh zu erkennen ist, dass es diesmal nicht in einer doppelten Katharsis und einem fröhlichen Schlusspunkt enden wird. Dabei bleibt der Band immer ganz Superheldencomic und versucht gar nicht mehr zu sein. Durch die fantastischen Bilder von Rod Reis hebt sich dieser Band von der immer gleichförmiger werdenden Masse der Marvel-Comics ab und bekommt deshalb eine besondere Empfehlung.

Die harten Fakten

  • Autor: Kyle Higgins
  • Zeichner: Rod Reis
  • Seitenanzahl: 116
  • Preis: 14 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Panini-Comics, Amazon, idealo

 

Artikelbild: Panini Comics
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Lukas Heinen
Diese Produkte wurden teilweise kostenlos zur Verfügung gestellt.

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