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Mark Millar ist wieder in aller Munde. Während seine Kingsman-Reihe im Kino Erfolge feiert, hat Netflix die Rechte für ein ganzes Millarverse Jupiter’s Legacy soll dabei den Auftakt machen, eine Superhelden-Saga, die von Gewalt und Gesellschaftskritik strotzt. Die Comic-Vorlage lohnt definitiv einen Blick.

Mark Millar – dieser Name löst meist entweder Begeisterungsstürme oder ein abfälliges Schnauben aus. Kaum eine andere kreative Gestalt der Comic-Szene polarisiert so sehr. In letzter Zeit erfreuen sich die Werke des Erschaffers von Kick Ass und Kingsman großer Beliebtheit, was sogar den Streaming-Giganten Netflix auf den Plan rief. Diese Plattform dürfte Millars Ruf noch weiter verbreiten und festigen.

Das Millarverse brachte nun mit Jupiter’s Legacy bereits eine Serienumsetzung eines sehr bedeutenden Millar-Titels hervor. Grund genug, sich einmal die Comic-Vorlage zu dieser fulminanten Serie vorzunehmen und einen tiefen Blick hinein zu werfen. Die Lesenden erwarten die typischen Elemente, die Millars Werk durchziehen: Gewalt, Gesellschaftskritik, Drama und eine gehörige Menge Philosophie.

Haupthandlung/Metaplot

Jupiter’s Legacy ist eine Reihe um die Union of Justice, ein sechsköpfiges Superheld*innen-Team, das in den 1930er Jahren auf einer geheimnisvollen Insel entstand. Denn dort erhielten sechs Freund*innen besondere Kräfte, die ihnen von außerirdischen Mächten verliehen wurden. Sheldon Sampson, der Kopf der Truppe, wurde zum Utopian, einem Charakter, der stark an Superman erinnert. Sein Bruder Walter entwickelte telepathische Kräfte und nannte sich fortan Brainwave, Grace Kennedy, Sheldons zukünftige Frau, entwickelte sich zur amerikanischen Ikone Lady Liberty. Hinzu kommen die Helden Flare, Blue-Bolt und George Hutchence, genannt Skyfox. Diese bunte Palette von Held*innen kämpfte fortan gegen Verbrecher, Magier, Aliens und Schurken und für den amerikanischen Traum.

Prequel: Jupiter’s Legacy – Wie alles begann

In diesem Artikel werden die einzelnen Titel nicht nach ihrer Entstehungs- und Veröffentlichungsreihenfolge betrachtet, sondern nach der Chronologie der Handlung. Daher macht Jupiter’s Legacy – wie alles begann den Anfang. Nach den Ereignissen auf der Insel, die zur Entstehung der Union of Justice führten, versehen die neuen Held*innen Amerikas patriotisch ihre Pflicht. Sie prügeln und kämpfen sich in bester Pulp-Manier durch die Gegner*innen, die den American Way of Life bedrohen. Das Team wirkt einig und fast übermenschlich heroisch.

Doch unter der Oberfläche brodelt es. Zwischenmenschliche Beziehungsprobleme, Sexualität und sehr persönliche Ängste und Überzeugungen belasten die Helden stark, zerren am inneren Gefüge der Union und drohen, die Einigkeit zu zerfetzen. Als in den 1950er Jahren auch noch niemand geringerer als der FBI-Direktor J. Edgar Hoover versucht, mit aller Macht die Gesichter und Namen hinter den Masken der Held*innen in Erfahrung zu bringen, treiben Misstrauen und Eifersucht die Union of Justice der Katastrophe entgegen und vermeintliche Übermenschen stellen sich als allzu menschlich heraus.

Millar gelingt es, seinen Figuren eine einzigartige Stimme zu geben. Er verbindet spielend leichte, pulpige Passagen mit tiefen Emotionen und Ereignissen, die die Lesenden sprachlos machen können.

Zeichnerisch unterstützt Wilfredo Torres in diesem Band die Erzählkunst Millars. Der Stil orientiert sich an den Comics der 1930er bis 1950er Jahre, was künstlerisch sehr gelungen ist, Ästhet*innen aber im Lesevergnügen beeinträchtigen kann. Einfache, knallige Farben auf großen, recht konturlosen Flächen prägen die Zeichnungen und die Linienführung ist entsprechend schlicht. Es kommen Erinnerungen an die ersten Superman-Zeichnungen auf. Die Intention, die Handlung durch den Zeichenstil noch fester in das interne Zeitgeschehen zu verketten, ist zwar klar erkennbar, über einen so langen Band hinweg aber sehr ermüdend.

Die harten Fakten

  • Autor: Mark Millar
  • Zeichner:Wilfredo Torres
  • Seitenanzahl:300
  • Preis:29,90 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Panini, Amazon, idealo

 

Jupiter’s Legacy – Familienbande und Intimfeinde

Die 1950er Jahre liegen mittlerweile lange in der Vergangenheit. Ein neues Jahrtausend ist in vollem Gange und die Sorgen und Nöte Amerikas haben sich genauso verändert wie die der Union of Justice. Sheldon Sampson, genannt Utopian, ist Familienvater, doch seine Anverwandten entsprechen so gar nicht seinen Erwartungen. Seine Kinder Brandon und Chloe ziehen das Leben im Scheinwerferlicht, den Glamour und die Dekadenz scheinbar dem strengen Ehrenkodex ihres Vaters vor. Und Utopians Bruder Brainwave sieht die Rolle moderner Held*innen in der aktiven Lenkung und Gestaltung von Politik und Gesellschaft. Zu allem Unglück beginnt Chloe auch noch eine Affäre mit Hutch, dem Sohn eines abtrünnigen Mitgliedes der Union of Justice. Es beginnt ein Kampf der Überzeugungen, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, was Held*innen sind und dürfen. Wo endet das Gute und wo beginnt der Weg des Bösen? Und wie soll eine Familie eine solch bittere Auseinandersetzung überstehen?

Millar läuft in dieser auf zwei Bände aufgeteilten Geschichte zur Höchstform auf. Menschliche Dramen stoßen auf knallharte Action. Jede Handlung erzeugt schonungslose Konsequenzen. Millar lässt uns tief in die seelischen Abgründe der Superwesen schauen. Immer wieder werden die Lesenden in ihrer eigenen Wahrnehmung in Frage gestellt, scheint mal die eine und mal die andere Konfliktpartei verständlicher. Im Gegensatz zu The Boys, wo Gut und Böse zwar auch changieren, aber grundsätzlich recht gut definiert sind, lässt Jupiter’s Legacy die Lesenden in einem stetigen emotionalen Taumel. Millar hat in Kick Ass ja bereits einmal die Superheld*innen-Welt auf den Kopf gestellt. Wer hier nun aber Dopplungen oder gar Redundanz befürchtet, der sei beruhigt. Kick Ass hatte deutlich stärkere satirische Elemente und die Gewaltdarstellungen fast zum Selbstzweck erhoben. In Jupiter’s Legacy zeigt Millar, dass er reifer, erfahrener und erwachsener geworden ist. Die Geschichte ist nicht schrill und punkig, sondern tiefgehend und stellenweise stark schockierend. Man merkt die Jahre, die zwischen der Entstehung der Erzählungen liegen. Tatsächlich ist Millars Erzählkunst gut gealtert und trägt die angenehm einnehmende Reife eines guten, schweren Weines in sich.

Diesmal leiht Frank Quieley der Geschichte seine Zeichenfeder. Frank hat schon in All-Star Superman und Batman and Robin sowie zahlreichen anderen Comicprojekten seine Künste unter Beweis gestellt und enttäuscht auch hier nicht. Seine dynamischen Zeichnungen sind gleichzeitig erfüllt von Energie und Kraft, aber auch von Emotionalität und sensiblem Feingefühl für die Figuren. Seinen Charakteren haftet neben aller Muskelmasse und Gewalttätigkeit auch immer etwas Zartes an. Damit passen seine Zeichnungen ausgezeichnet zu dieser Familiensaga mit ihren abgründigen Themen und aufwühlenden Verläufen.

Die harten Fakten – Familienband

  • Autor: Mark Millar
  • Zeichner: Frank Quietly
  • Seitenanzahl: 140
  • Preis: 16,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo, Panini

 

 

Die harten Fakten – Intimfeinde

  • Autor: Mark Millar
  • Zeichner: Frank Quitely
  • Seitenanzahl: 140
  • Preis: 17,00 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo, Panini

 

Fazit

Jupiter’s Legacy ist keine leichte Kost, aber das ist bei einem Autor wie Mark Millar ja auch nicht zu erwarten. Mit seinem üblichen, leicht zynischen Augenzwinkern zerfetzt Millar alle Erwartungen, die Lesende an das Superheld*innen-Genre haben könnten, in der Luft, um aus den Trümmern eine bewegende Saga zusammenzusetzen. Dabei jongliert er ganz nebenbei mit Bausteinen der Gesellschaftskritik und des Zeitgeistes und wirft große Fragen auf, die unsere heutige Gesellschaft dringend beantworten muss. Welchen Werten möchten wir uns verschreiben? Was ist der Traum unserer Zeit? Und welche Stellung hat Familie heute noch?

Das Prequel Wie alles begann ist ein gelungener Band, der erzählerisch zwar mitreißen kann, jedoch durch die Optik in den Augen mancher Lesender deutlich an Zugänglichkeit verlieren könnte. Zugegeben, der Zeichenstil entspricht der Zeit, in der die Handlung angesiedelt ist. Das macht ihn aber leider nicht attraktiver. Das Prequel ist also vor allem für solche Lesende geeignet, die richtig tief in die Welt der Union of Justice vordringen und wirklich alle Hintergründe erfahren wollen.

Ganz anders ist dies bei der zweibändigen Kerngeschichte. Hier sind die Zeichnungen von Frank Quitely sensibel und feinfühlig, aber zugleich dynamisch und kraftvoll. Dieses Spannungsverhältnis passt hervorragend zu Millars Erzählung, sodass ein packendes Gesamtwerk entsteht. Mir gefiel es sogar deutlich besser als das, was die Streaming-Serie bisher zu bieten hatte.

 

  • Große Emotionen
  • Harte Gesellschaftskritik
  • Erzählungen mit Anspruch
 

  • Zeichenstil in Wie alles begann

 

 

Artikelbilder: © Panini Comics
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Katrin Holst
Diese Produkte wurden kostenlos zur Verfügung gestellt.

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