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Ein spätes Genie, mysteriös verschieden – im Abenteuer Wuchernder Wahn fällt den Spielenden bei einer Beerdigung zufällig ein okkult wirkendes Buch in die Hände. Auf der Suche nach Antworten müssen sie einmal quer durch das Berlin der 1920er Jahre reisen. Die Stärken und Schwächen des Abenteuers erfahrt ihr im Spieltest.

„Eine Beerdigung mit Folgen“: So könnte die Geschichte des Szenarios Wuchernder Wahn kurz zusammengefasst werden. Im Abenteuer trifft eine eher lose verbundene Gruppe an Menschen aufeinander, welche die Trauerfeier des kürzlich verstorbenen Mathematik-Dozenten Prof. Dr. Annhäuser in Berlin besuchen. Während der Zeremonie bricht plötzlich der Sarg auf und ein mysteriöses Buch fällt den Charakteren vor die Füße.

Angetrieben von der Neugier über das okkulte Werk und die Todesumstände des Mathematikers beginnen sie, zu recherchieren. Während ihrer Suche in teils düsteren Ecken Berlins wird ihnen schnell klar, dass noch weitere Parteien ein Interesse am Buch haben: Stille Beobachter*innen scheinen sie zu verfolgen, Drohbriefe flattern ins Haus. Kann die Gruppe herausfinden, was es damit auf sich hat, bevor es zu spät ist? In einem Spieltest haben wir geprüft, ob das Abenteuer halten kann, was es verspricht.

Die Spielwelt & Regeln und Charaktererschaffung

Die im Abenteuer geschilderten Regeln beruhen auf einer älteren Fassung des Call of Cthulhu-Regelwerks. Diese können mit dem Grundregelwerk der aktuellen 7. Edition jedoch einfach umgewandelt werden und fallen kaum ins Gewicht. Die Geschichte spielt vornehmlich im November des Jahres 1925 in Berlin, einer lebendigen und teilweise verruchten Metropole.

Entsprechend frei können die Spielenden in ihrer Charakterwahl sein. Wichtig ist lediglich, einen Bezug zum kürzlich verstorbenen Mathematik-Dozenten herstellen zu können. Das Szenario schlägt vor, dass die Charaktere entweder aktuelle oder ehemalige Studierende sind, Bekannte aus dem Schachklub oder entfernte Verwandte, die versuchen, sich einen Teil des Erbes zu erschleichen. Grundlegend sind auch andere Hintergründe vertretbar, wenn diese von der Spielleitung sinnvoll eingeführt werden können. Im vorliegenden Spieltest beispielsweise wurde Annhäusers Leben um eine okkulte Komponente erweitert – immerhin schien er gerade in den letzten Wochen nahezu besessen von solchen Themen zu sein.

Um genauer auf die Stärken und Schwächen des Abenteuers eingehen zu können, werden im Artikel einige zentrale Punkte der Geschichte angedeutet. Wer das Abenteuer als Spieler*in ohne Vorkenntnisse genießen will, sollte an dieser Stelle lieber die weitgehend spoilerfreie Rezension des Abenteuerbands durchlesen. Die ungefilterte Geschichte findet ihr im Spoilerkasten:

Hinter der Fassade

Prof. Dr. Joachim Annhäuser starb, weil er sprichwörtlich zu viel wusste. Beziehungsweise, weil sein Intellekt das immense Wissen des Sapienta Maglorum nicht aufnehmen konnte. Wer das Buch vollständig liest, erhält unglaubliche geistige Fähigkeiten. Da der menschliche Verstand aber dieses Wissen gar nicht aufnehmen kann, sterben die meisten schnell an den Folgen ihrer aufgedunsenen und deformierten Gehirne.

Im Szenario sind die Charaktere eher eine zufällige dritte Partei, die in einen Kampf von zwei Antagonist*innen geraten. Da wäre einerseits das Sapienta Maglorum selbst, das als okkultes Werk über einen eigenen Willen verfügt. Es hat nur ein Ziel: In die Bibliothek seines ehemaligen Eigentümers Friedrich Maiberg zurückkehren und dort ungestört inmitten der anderen Bücher sein. Dafür verwendet es „Lebende Wörter“, erschaffen aus herausgerissenen Seiten des okkulten Werkes. Diese heften sich regelrecht an die Gruppe und versuchen, sie über Drohbriefe dazu zu bewegen, das Buch herzugeben.

Auf der anderen Seite steht Maiberg, der durch das Lesen des Werks schrecklich entstellt wurde und in einer Irrenanstalt sitzt. Als ominöser „Turbanträger“ verfolgt er die Gruppe mit magischen Kräften, indem er sich auf Spiegelflächen projiziert. Sein Ziel ist es, in den Besitz des Buches zu gelangen, um es fertig zu lesen und unvorstellbare Mächte zu erhalten. Es liegt an den Charakteren, die Reise des Sapienta von Maiberg bis zu ihnen aufzudecken und beide Parteien unschädlich zu machen. Idealerweise, bevor sie selbst dem wuchernden Wahn erliegen.

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Spielbericht

Da das Abenteuer bis zur Fertigstellung des Artikels noch nicht abgeschlossen wurde, gibt es nur eine Übersicht über die bisherigen sechs Spielabende. Diese sollten aber einen guten Eindruck vermitteln, was im Szenario möglich ist. Für die Spielrunde hatten die Spieler*innen im Vorfeld die freie Charakterwahl, sofern sie den Besuch bei der Beerdigung rechtfertigen konnten. Diese Offenheit nahmen sie dankend an und belohnten die Spielleitung mit vier eher ungewöhnlichen Investigator*innen.

Die Einladung zur Beerdigung wirkt anfangs recht harmlos.
Die Einladung zur Beerdigung wirkt anfangs recht harmlos.

Die Gruppe bestand aus zwei Studierenden, einem nervösen jungen Mann aus den Vereinigten Staaten mit Mythoserfahrung aus einem vorherigen Abenteuer sowie einem Berliner mit völkischer Gesinnung. Hinzu kamen ein alter Rabbi und eine rumänische Wahrsagerin. „Ein Amerikaner, ein Faschist, ein Rabbi und eine Rumänin treffen sich auf einer Beerdigung“, klang anfangs mehr wie ein zotiger Witz. Schnell begannen die Charaktere aber, trotz ihrer jeweiligen Vorurteile übereinander, doch ins Gespräch zu kommen.

Die Einleitung mit dem sich plötzlich öffnenden Sarg funktionierte problemlos, das Interesse der Gruppe war geweckt. Gemeinsam sammelten sie Informationen über das mysteriöse Ableben des Professors und begannen, Vermutungen aufzustellen. Beim Gespräch mit der Haushälterin am kommenden Tag kam es doch zu einigen Reibereien unter den SC. Dabei verließ der deutsche Student, der als einziger das in Latein geschriebene Sapienta Maglorum lesen konnte, mitsamt dem Buch die Gruppe.

Die anderen wurden bei dem Notar des Toten, einem Herrn Graulich, vorstellig. Graulich freute sich über das Interesse an dem Fall und übergab den SC gerne Schlüssel, einen Brief an den Erben und Verantwortung für die Abwicklung der Testamentsvollstreckung.

Im Haus des Mathematik-Dozenten angekommen, wurde den Charakteren der Wahnsinn seiner letzten Tage bewusst. Schockiert von den bemalten Wänden und Unterlagen im obersten Stockwerk, fanden sie sein Tagebuch. In der folgenden Recherche konnten sie die Herkunft des Sapienta Maglorum über eine adrette Buchhandlung und einem Aktionshaus bis zu einem ominösen Künstler zurückverfolgen.

Abseits der Ermittlungen blieb Zeit, um einige private Alltagsszenen auszuspielen. Beispielsweise beging der Rabbiner den Schabbat und plauderte mit seiner Frau über den neuesten Klatsch und Tratsch, während die Wahrsagerin für ihre Kundschaft eine kurze Séance abhielt. Der Austauschstudent wiederum besuchte mit dem jungen Fräulein vom Amt, das er während der Recherche kennengelernt hatte, gemeinsam einen Jahrmarkt. Eine besondere Herausforderung, da er bei einem früheren Kirmes-Besuch in Kontakt mit dem Mythos gekommen war. Der deutsche Student hingegen widmete sich der Lektüre des Sapienta Maglorum, was für große Erkenntnisse sorgte, jedoch auch einige plötzlich auftretende Kopfschmerzen verursachte.

Die Recherche sorgte bei so manchen Charakteren für Kopfschmerzen.
Die Recherche sorgte bei so manchen Charakteren für Kopfschmerzen.

Schließlich kamen alle Charaktere wieder an einer Polizeiwache miteinander in Kontakt. Mit legalen Dokumenten des Notars sowie Zuspruch der Haushälterin konnte erwirkt werden, dass das Sapienta Maglorum bis auf weiteres bei der Polizei bleiben solle. Der deutsche Student, der zuvor alles versucht hatte, das Buch bei sich zu behalten, trennte sich im Anschluss erneut von der Gruppe. In seiner Verzweiflung nach mehr Wissen brach er in das Haus des verstorbenen Dozenten ein. Dort begann er, dessen wirre Notizen zu studieren. Dies kostete ihn eine lange Nacht und einen Teil seines Verstands. Inwiefern sich das Rätsel um den Turbanträger und die mysteriösen leeren Briefe, die einige aus der Gruppe erhielten, noch lösen lassen, werden die kommenden Spielabende zeigen.

Spielbarkeit aus Spielleitungssicht

Wuchernder Wahn zu leiten, ist mit einiger Vorbereitung verbunden. Das Abenteuer vermittelt im grundlegenden Aufbau einerseits die Form einer simplen Schnitzeljagd, die weitgehend geradlinig vom Start bis zum Ziel führen soll. Nur mit den zentralen Hinweisen und Eigenrecherche kann die Gruppe es schaffen, die ominösen Gefahren abzuwenden. Andererseits lebt die Geschichte gerade von den Pausen in der Handlung, die Zeit für Überlegungen lassen.

Im Abenteuer selbst werden der Spielleitung Beispiele gegeben, wie private Szenen ausgeschmückt werden können und der Alltag der Charaktere eingebaut werden kann. Sollte das Szenario als Teil einer laufenden Kampagne eingebaut werden, sind diese Details eventuell schon etabliert. Für eine alleinstehende Runde hingegen sollten alle am Tisch eine grobe Vorstellung über die Lebensumstände ihres Charakters mitbringen.

Je mehr die Charaktere herausfanden, desto stärker fühlten sie sich beobachtet.
Je mehr die Charaktere herausfanden, desto stärker fühlten sie sich beobachtet.

Die Pausen helfen zudem dabei, den Antagonist*innen im Spiel Zeit für Aktionen zu geben. Da gleich mehrere Gruppen aktiv sind und es auch zum Konflikt innerhalb der Gruppe kommen kann, sollte die Spielleitung sich darauf einlassen können, mehrere Stränge parallel ablaufen zu lassen. Grundsätzlich muss sichergestellt werden, dass die Gruppe nicht das Interesse am Buch verliert.

Schließlich handelt es sich nicht um ihre Hauptarbeit, sondern soll bewusst nur ein spannender Krimi im sonstigen Alltag der Charaktere sein. Für Spaß bei der Recherche sorgen gerade die wirren Notizen sowie ein Brief des Professors, in denen die Spielenden viele Hinweise zur Geschichte mit der Zeit entdecken können. Leider sieht es abseits davon eher mau mit Spielmaterial aus. Eine grobe Karte von Berlin hätte zur besseren Orientierung der einzelnen Orte nicht geschadet.

Im Abenteuer gibt es einzelne Stimmungsbilder, eine Karte fehlt jedoch.
Im Abenteuer gibt es einzelne Stimmungsbilder, eine Karte fehlt jedoch.

Was die Übersicht angeht, kann die Spielleitung sich gut im Abenteuer zurechtfinden. Gerade die Kapitelmarken in der PDF-Datei helfen dabei, schnell zum jeweiligen Punkt zu springen. Neben Texten finden sich weitere hübsche Übersichten, etwa ein Zeitstrahl der bisherigen Geschichte oder ein möglicher Handlungsverlauf. Ein paar Sätze noch zu den NSC: Diese entsprechen eher bekannten Klischees der Zeit. In Details bietet sich jedoch das Potenzial, einen bleibenden Eindruck bei den Spielenden zu erzeugen und bewusst gegen Stereotype vorzugehen. Während beispielsweise die Haushälterin zu Beginn des Abenteuers eher konservativ wirkt, beweisen gerade eine junge Buchhändlerin und eine selbstbewusste Nackttänzerin das neue und modernere Frauenbild in der Weimarer Republik.

Spielbarkeit aus Spieler*innensicht

Wie bereits erwähnt, konnte die Testgruppe bis zur Fertigstellung des Artikels den Fall noch nicht vollständig lösen. Die Zeit war jedoch ausreichend, um einige Lob- und Kritikpunkte anzumerken. Als Pluspunkt wurde beispielsweise die Spannung erwähnt, die durch die Verfolgung des „Turbanträgers“ und die ominösen Briefe entstand.

Ein Auszug aus dem Tagebuch Annhäusers, das seinen geistigen Zustand zeigt.
Ein Auszug aus dem Tagebuch Annhäusers, das seinen geistigen Zustand zeigt.

Große Zustimmung gab es für die eingestreuten Alltagsszenen, die für eine bessere Immersion in das Szenario sorgten. Die Charaktere wirkten dadurch vielschichtiger und realer als in anderen One-Shots. Zudem ermöglichten sie es, die Geschichte wie in einer Sandbox offener mitzugestalten, selbst bei der eigentlich linearen Abenteuerstruktur. Zuletzt sei das beigesteuerte Spielmaterial mit den gekritzelten Aufzeichnungen des Herrn Annhäuser erwähnt. Diese sind stimmig mit der Szene im Arbeitszimmer und sehr detailliert, was zum Rätseln und Recherchieren anregt.

Kritik gab es dagegen auf der Meta-Ebene des Spiels. Hin und wieder fühlten die Spieler*innen sich unsicher, ob sie gerade dem roten Faden des Abenteuers folgten oder in eine andere Richtung arbeiteten. Einige fragten sich, welche Motivation nun von der Gruppe gefordert sei: Ist das Ziel, das Buch wieder an den vermeintlichen Platz zurück in den Sarg zu legen oder sollten sie es für sich behalten?

Immerhin gibt es keinen direkten Grund, die Problematik nicht an Autoritäten wie den Notar oder die örtliche Polizei abzugeben. Trotz dieser Fragen waren sie mit dem Verlauf zufrieden und wollen gerne das Mysterium lösen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Pegasus Press
  • Autor*in(nen): Mirko Bader, Michel Bernhardt, Peter Schott
  • Erscheinungsjahr: 2014
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover, PDF
  • Seitenanzahl: 80
  • ISBN: –
  • Preis: 9,95 EUR (Softcover), 8,95 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG

 

Fazit

Wie bereits im Spielbericht erwähnt, ist Wuchernder Wahn eher für erfahrenere Spielleitungen gedacht. Denn für eine gute Darstellung eines Berlins der 1920er Jahre ist einiges an Vorbereitung notwendig. Hinzu kommen mehrere agierende Antagonist*innen, die den Charakteren im Verlaufe des Abenteuers auf den Fersen sind. Hier den Überblick zu behalten und gekonnt Spannung zu erzeugen, fordert der Spielleitung einiges ab.

Mag die Geschichte anfangs stringent wirken, offenbart sich bei näherer Betrachtung die Chance auf eine kleine Sandbox. Auch die Spieler*innen sollten nicht völlig unerfahren sein und Spaß an Recherche mitbringen. Gerade die toll ausgearbeiteten Handouts sind schön gestaltet und laden zur Untersuchung ein, auch wenn allgemeine Kartenmaterialien nicht geschadet hätten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, neben der eigentlichen Handlung auch in den Alltag des Charakters einzutauchen. Das Abenteuer kann, wenn die Gruppe sich darauf einlässt, sehr immersiv gestaltet werden. Und es ist möglich, einmal die Konsequenzen der üblichen investigativen Arbeit bei Call of Cthulhu auf das eigene Heim oder die Familie mitzuerleben.

Bei der Erstellung der Gruppe sollte darauf geachtet werden, dass die Charaktere von sich aus ein Interesse haben, das Mysterium um das Sapienta Maglorum lösen zu wollen. Andernfalls könnte es schwierig werden, zu erklären, wieso das Buch nicht einfach an NSC abgegeben werden sollte. Abschließend kann festgehalten werden, dass Wuchernder Wahn nicht für jede Gruppe geeignet ist. Sollten die oben genannten Punkte euch aber nicht abschrecken, ist das Abenteuer zu empfehlen.

  • Spannender Krimi, tolle Handouts
  • Alltag nimmt Einfluss auf Geschichte
  • Katz-und-Maus-Spiel möglich
 

  • Viel Vorbereitung notwendig
  • Kein Material für Berlin selbst
  • Gefahr, roten Faden zu verlieren

 

Titelbild: © Pegasus Spiele, depositpohotos © muha04
Artikelbilder: © Pegasus Spiele

Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Saskia Harendt
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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