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Marvels Serie Moon Knight gehört zu den wenigen Beispielen in Film und TV, die Personen mit Dissoziativer Identitätsstörung positiv inszenieren. Jetzt ist die erste Staffel abgeschlossen und wir fragen eine Expertin: Wie realistisch ist Marc Spectors Zustand aus therapeutischer Sicht? Und wie bewerten Betroffene die Serie?

Warnung: Dieser Artikel enthält Spoiler für die erste Staffel von Moon Knight. Zudem werden psychische Traumata, Gewalt und Missbrauch thematisiert.

Moon Knight sorgte schon vor dem Start für Aufmerksamkeit durch seine heroische Hauptfigur mit Dissoziativer Identitätsstörung (DIS). Das ist in der Popkultur selten, das Klischee von gefährlichen, gewaltbereiten Kriminellen mit „gespaltener Persönlichkeit“ ist dank Filmen wie Psycho oder Split immer noch weit verbreitet. Zur Vermeidung solcher Stereotypen zog das Produktionsteam von Moon Knight einen klinischen Psychiater der University of California als Experten zu Rate. Jetzt ist die erste Staffel abgeschlossen und wir wissen, wie sich Marc Spectors Leben entwickelte und sein Alter Ego Steven Grant zustande kam. Doch wie realistisch ist diese Entwicklung? Wir haben die Serie zusammen mit einer Psychologin geschaut und nach ihrer Meinung gefragt. Außerdem haben wir auf YouTube eine Person mit DIS gefunden, die dort ihre Reaktion auf die Moon Knight-Episoden wiedergibt.

Story (Episoden 5+6)

Nachdem er von Arthur Harrow erschossen wurde, findet sich Marc Spector im Jenseits wieder, das er als kafkaeske Psychiatrieeinrichtung wahrnimmt. Dort wird er mit Steven Grant wiedervereint, trifft aber auch auf Harrow als sanftmütigen Therapeuten, der ihm vormacht, sein Leben als Moon Knight sei nicht real gewesen. Marc und Steven stoßen in den Räumen der Klinik auf schmerzhafte Weise auf ihre verborgenen Erinnerungen: Marcs Mutter gab ihm die Schuld am Unfalltod seines Bruders Randall und übte psychische sowie körperliche Gewalt gegen den Jungen aus. Als Bewältigungsmechanismus erschuf der Amerikaner Marc unbewusst ein Alter Ego: Steven Grant, ein gutgelaunter britischer Nerd, der scheinbar ein glückliches Familienleben in London führt. Marc war sich des wahren Traumas bewusst, versteckte es aber zunehmend hinter Steven. Als Erwachsener trat Marc in den Dienst von Khonshu ein, nachdem der Gott ihn vor dem sicheren Tod bewahrte.

Marc und Steven begegnen der Göttin Taweret, die die toten Seelen auf einem Schiff durch das Sandmeer Duat transportiert. Bei der Fahrt geht Steven verloren, doch Marc entscheidet sich, seine andere Identität zu retten, anstatt im Jenseits ewigen Frieden zu genießen. In der Welt der Lebenden hat Harrow das Ushabti von Ammit gefunden – eine Steinstatue, in der die Göttin gefangen ist. Das Artefakt verleiht dem Fanatiker zusätzliche Macht, er tötet die Avatare der anderen ägyptischen Gottheiten und befreit Ammit.

Die Kultist*innen fangen an, in Kairo all jene zu töten, die Ammit für böse hält. In der Notlage entscheidet sich Osiris dafür, die Tore des Jenseits für Marc und Steven zu öffnen. Die beiden finden sich in ihrem wiederbelebten Körper wieder. Doch auch Layla El-Faouly wird aktiv: Sie willigt ein, vorübergehend als Avatar von Taweret zu dienen und verwandelt sich in die geflügelte Heldin Scarlet Scarab. Die beiden Avatare bekämpfen Harrow und seine Anhänger*innen, während Khonshu Ammit in Schach hält.

Moon Knight und Scarlet Scarab schaffen es mit einem Ritual, Ammit in den Körper des bewusstlosen Harrow zu verbannen. Letztlich weigern sich Marc/Steven jedoch, Harrow auf Aufforderung von Khonshu zu töten. Der Gott hält sein Versprechen und entlässt den Avatar aus seinem Dienst. Marc und Steven begegnen in ihren Träumen ein letztes Mal „Dr. Harrow“ und entscheiden sich dafür, seine Klinik zu verlassen. Sie finden sich in Stevens Wohnung in London wieder, wo Marc und Steven jetzt gleichzeitig in ihrem Körper aktiv sind.

In der Mid-Credits-Szene ist Harrow in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden. Er wird von einem unbekannten, Spanisch sprechenden Mann abgeholt und in eine Limousine gebracht, wo Khonshu auf ihn wartet. Harrow spottet, dass Khonshu ihm ohne Avatar nichts tun kann. Doch der Gott erwidert, dass Marc keine Ahnung hat, wie es wirklich um seinen Zustand bestellt ist. Er stellt Harrow die dritte Persönlichkeit in Marc und Stevens Körper vor: Jake Lockley, der Spanisch sprechende Chauffeur. Jake erschießt Harrow und fährt mit Khonshu durch London davon.

Wie entsteht eine Dissoziative Identitätsstörung?

Die Forschung zu DIS steht noch relativ am Anfang. Erst seit wenigen Jahrzehnten beschäftigt sich die Psychologie intensiv mit diesem Phänomen. Tatsächlich sind einige Fachleute der Meinung, es handele sich nicht um unterschiedliche Persönlichkeiten in einem Körper, sondern um nur eine Person, die sich die verschiedenen Identitäten einbilde und unbewusst schauspielere. Diese Ansicht gilt inzwischen als überholt. Zahlreiche Studien belegen, dass es sich bei den sogenannten DIS-Systemen tatsächlich um eine Art Verbund unabhängiger Persönlichkeiten handelt.

In den meisten dokumentierten Fällen entsteht DIS in der frühen Kindheit als Reaktion auf ein schweres Trauma, etwa körperliche, emotionale oder sexuelle Gewalt, Verlust oder Unfälle. Da Kinder noch keine ausgereifte Persönlichkeit haben, kann es vorkommen, dass sich zusätzliche Identitäten bilden, die für die Traumabewältigung zuständig sind. Bei Personen mit DIS werden oftmals Beschützer-Identitäten gebildet, die die vulnerablen (verletzlichen) Persönlichkeiten vor weiteren Traumata abzuschirmen versuchen.

Viele Personen mit DIS sind sich nicht bewusst, dass sie diese Störung haben, da ihr Gehirn das Trauma dissoziiert (abspaltet, loslöst). Das ist ein natürlicher Überlebensinstinkt, der in Gefahrensituationen aktiviert wird und zum Beispiel Schmerz oder Angst nach einem Unfall vorübergehend ausblendet. Bei DIS ist die Dissoziation dauerhaft und wird im Gedächtnis etwa durch Amnesien kompensiert. Es kann auch vorkommen, dass bestimmte Persönlichkeiten, etwa diejenigen, die die Traumaerinnerung hüten, über lange Zeit inaktiv sind.

Es gibt natürlich auch Fälle, die von solchen Mustern abweichen, etwa wenn DIS erst im Erwachsenenalter oder ohne erkennbaren Auslöser entstehen. Diese sind aber vergleichsweise selten.

Die Sicht der Therapeutin

Die Frankfurter Psychologin Berrit Theel arbeitet in der klinischen Psychiatrie und behandelt Patient*innen mit Persönlichkeits- und Identitätsstörungen. Sie hält viele Aspekte der filmischen Darstellung in Moon Knight für gelungen, insbesondere die Entwicklung der Beziehung der beiden Hauptidentitäten zueinander. Steven als vulnerable Persönlichkeit wird anfangs von Marc (dem Beschützer, der sich des Traumas bewusst ist) bevormundet und in Situationen, für die er nicht erschaffen wurde, als Störenfried angesehen, der passiv bleiben soll. Im Laufe der Serie entwickelt sich jedoch eine gegenseitige Akzeptanz: Marc lernt Stevens Expertenwissen und seine Friedfertigkeit zu schätzen, während Steven selbstbewusster auftritt und kämpfen lernt. „Diese Integration der Persönlichkeiten ist Teil jeder Therapie“, so Theel.

Auch die Entstehung von Steven hält die Psychologin für wirklichkeitsgetreu. Das emotional überforderte Kind Marc konnte mit dem doppelten Schock durch Brudertod und gewalttätiger, schuldzuweisender Mutter nicht umgehen. In der fiktiven Filmfigur Steven Grant fand das fantasievolle Kind ein kompetentes, unerschrockenes Vorbild, das als eigenständiger Mensch das Leben führen durfte, das Marc nicht hatte. Theel vergleicht die Entstehung Stevens mit einer anderen Marvel-Figur: Mary Walker in der zweiten Staffel von Iron Fist bildete ebenfalls DIS als Reaktion auf ihre Kriegsgefangenschaft. Die Psychologin hält die Darstellung in Moon Knight allerdings für authentischer, da sich Walkers Störung in einem deutlich kürzeren Zeitraum entwickelt hat.

Die Klinikszenen sieht Berrit Theel zwiegespalten. Einerseits findet sie es erfreulich, dass Marc und Steven sich quasi selbst therapieren, also aktiv an ihrer Heilung mitwirken. Andererseits stört sie sich an der klischeehaft negativen Darstellung von psychiatrischen Einrichtungen und Therapiesitzungen. Die Klinik in Marc/Stevens Gedankenwelt ist ein alptraumhafter, verwirrender Ort voller labyrinthartiger Gänge, unwirschem Personal und schrecklicher Erinnerungen. Der Therapeut trägt das Gesicht des fanatischen Bösewichts Harrow und zeigt wenig Verständnis für die Sorgen seiner beiden Patienten. Solche Inszenierungen erinnern Theel an den Filmklassiker Einer flog übers Kuckucksnest und helfen ihrer Meinung nach nicht dabei, dass Patient*innen Vertrauen in Therapiebehandlungen fassen. (Auch in neueren Filmen wie Matrix: Resurrections gibt es immer noch Klischees wie den Therapeuten als Gegenspieler, dessen Behandlung einer Gehirnwäsche gleichkommt, Anm. d. Red.). Theel wünscht sich oft eine bessere Schilderung psychologischer Heilmethoden in der Phantastik.

Dass die dritte Persönlichkeit, Jake Lockley, vor den anderen beiden verborgen bleibt, findet die Psychologin schwer nachvollziehbar. Gerade nach dem Endkampf müssten Marc und Steven genügend Hinweise haben, dass sie ihren Körper mit einem zusätzlichen Charakter teilen. Allerdings könnte dies auch der knappen Episodenlaufzeit geschuldet sein oder als Rätsel für Staffel 2 aufbewahrt werden. Die Fähigkeit von Marc und Steven, zeitgleich kommunizieren zu können, ist allerdings nach Theels Einschätzung nicht typisch. Unterschiedliche Identitäten kommunizieren entweder über Erinnerungen oder zeitversetzt über physische Nachrichten.

Alles in allem hat Berrit Theel die erste Staffel von Moon Knight gut gefallen. Dass auch in anderen MCU-Serien wie WandaVision oder The Falcon and the Winter Soldier der Umgang mit der Psyche behandelt wird, hält sie für begrüßenswert.

Die Sicht der Betroffenen

Der YouTube-Kanal braiDIDbunch wird von einem amerikanischen DIS-System präsentiert, also mehreren Persönlichkeiten in einem Körper. Das System besteht aus mehreren Alters (in der deutschen Fachsprache als Fragmente oder Anteile übersetzt) mit unterschiedlichen Eigenschaften und Geschlechtern. Die häufigste Moderatorin ist Charlie, eine extrovertierte und fröhliche Frau. In den meisten der Videos erzählt Charlie von ihrem Leben mit DIS. Sie ist sich erst vor wenigen Jahren ihres Zustands bewusst geworden, nicht alle ihrer Alters sind zeitgleich entstanden. Aus persönlichem Interesse hat sie angefangen, Moon Knight zu rezensieren und mit ihren eigenen Lebenserfahrungen zu vergleichen. Auch sie zieht ein größtenteils positives Fazit.

So hält Charlie in ihrer Einschätzung zu Episode 5 die Entstehung von Steven für korrekt. Nach ihren Erfahrungen und denen anderer Personen mit DIS in ihrem Freundeskreis entsteht die Störung durch wiederholtes Trauma, nicht durch ein einzelnes auslösendes Ereignis. Der jahrelange Missbrauch Marcs sorgte so erst für die Notwendigkeit eines weiteren Alters. Charlie ist der Ansicht, dass DIS nur entstehen kann, wenn die traumatisierte Ausgangspersönlichkeit bereits eine starke Fähigkeit zur Dissoziation hat.

Laut Charlie lehnen viele in der DIS-Community festgelegte Zuschreibungen wie „Beschützer“ ab, da sich die Rollen von System zu System unterscheiden und im Laufe der Zeit auch ändern können. Das erkenne man gut an den Eigenschaften von Marc und Steven, die sich zum Ende hin grundlegend wandeln. Dass die beiden anfangs gegeneinander arbeiten und sich als Eindringlinge im eigenen Körper wahrnehmen, ist laut Charlie für viele DIS-Systeme ein normaler Ausgangspunkt, bevor gegenseitige Akzeptanz und Integration erreicht wird – eine oftmals lebenslange Anstrengung. Die Bereitschaft des dominanteren Marc, auf Steven zu hören und dessen Ansichten zu akzeptieren, sieht Charlie als wichtige Botschaft der Serie.

Dass Steven beim Fall in den Duat „stirbt“, ist für Charlie der übernatürlichen Handlung geschuldet, aber nicht authentisch. Alters können vorübergehend inaktiv werden oder zu einer Person verschmelzen, aber sie könnten nicht sterben, da sie Teil des Gehirns sind, so die YouTuberin. Auch die Integration von Marc und Steven geht ihrer Meinung nach zu schnell am Ende. Sie hat allerdings Verständnis dafür, dass die Serie sich nicht über eine ganze Staffel hinweg mit dem langwierigen Heilungsprozess aufhalten will.

Auch die Emanzipation Marcs/Stevens von Khonshu hält Charlie für positiv. Diese stehe symbolisch für die Selbstermächtigung von DIS-Menschen, die sich von Bevormundung (oft durch ihre Peiniger*innen) loslösen. Die beiden durchbrechen die Logik von Gewalt und Rache, die Ammit und Khonshu motiviert hat, um ihren eigenen Weg zu finden.

Zu Jake Lockley hat Charlie eine ambivalente Meinung. Sie ist besorgt, dass der Charakter in das Klischee des gewalttätigen Alters hineinspielt. Allerdings gibt sie zu bedenken, dass wir kaum etwas über Jake wissen und die Serie ansonsten typische Hollywoodklischees zu DIS vermeidet. Sie hofft, dass eine potenzielle zweite Staffel mehr über diese Identität erzählt. Dass der Chauffeur fließend Spanisch spricht, ist für Charlie durchaus plausibel. Oft hätten sich Alters bestimmte Kenntnisse angeeignet, deren Ursprung durch die Amnesie für andere Identitäten nicht mehr nachvollziehbar ist.

Auch Charlie findet nach Episode 6, dass Moon Knight zu den besseren Darstellungen von DIS in den Mainstreammedien gehört. Sie ist gespannt, ob die zweite Staffel offene Fragen beantworten und das Thema vertiefen wird.

YouTube

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Fazit

Dissoziative Identitätsstörung ist ein komplexes und nur teilweise erforschtes Phänomen. Daher sind die beiden hier abgebildeten Meinungen nur ein Ausschnitt aus zahlreichen Therapeut*innen- und Patient*innen-Erfahrungen. Dass das Produktionsteam von Moon Knight sich Mühe gegeben hat, ein überwiegend authentisches Bild von DIS zu zeichnen, ist auf jeden Fall ein gutes Signal. Wenn ein Laienpublikum durch Unterhaltungsmedien ein größeres Interesse an DIS zeigt, könnte es bald umfangreichere Forschung auf diesem Gebiet geben.

Moon Knight gehört definitiv zu den ungewöhnlicheren MCU-Einträgen und man darf auf weitere Staffeln oder Auftritte in anderen Titeln gespannt sein.

Artikelbilder: © Disney Studios
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Jessica Albert

 

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