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Das Marvel Cinematic Universe hat einen neuen dunklen Rächer: Moon Knight kämpft als Avatar des ägyptischen Mondgottes gegen eine übernatürliche Verschwörung. Doch leider existiert er im Körper eines harmlosen Museumsangestellten, der von alldem nichts ahnt und zunehmend an seinem Verstand zweifelt …

Moon Knight steht in der guten alten Tradition von Marvel-Held*innen, die ursprünglich als Bösewichte eingeführt wurden, siehe Scarlet Witch oder Punisher. Wie Kollege Kai in seiner Charaktervorstellung erwähnt hat, war Moon Knight in seinem Debüt der Gegenspieler des Werwolfs Jack Russell. Im Marvel Cinematic Universe bekommt die Faust Khonshus jetzt seine eigene Serie, wo er sich zwar (noch?) nicht mit Lykanthropen herumschlagen muss, dafür aber mit seinem eigenen Verstand und der Erkenntnis, dass die altägyptischen Gottheiten real sind.

Story

Steven Grant lebt in London und arbeitet im Souvenirladen eines großen Museums, würde aber lieber Besucher*innen durch die Exponate führen. Vor allem die Ausstellung zum antiken Ägypten hat es ihm angetan, da er sich ein umfangreiches Wissen zur altägyptischen Kultur angeeignet hat. Sein Bücherwissen kommt von zahlreichen durchgelesenen Nächten, denn Steven hat eine Schlafstörung. Obwohl er sein Bein mit einer Fessel fixiert und sich mit Büchern und Puzzles wachhält, kommt es immer wieder zu unerklärlichen Lücken in seiner Erinnerung. Ein solcher Filmriss führt ihn abrupt von seinem nächtlichen Schlafzimmer ins oberbayrische Alpenland am helllichten Tag, wo ihn bewaffnete Fanatiker*innen verfolgen. Ist es ein Traum oder Realität? Steven muss zu seinem Schrecken feststellen, dass er ein gewalttätiges Doppelleben im Auftrag einer höheren Macht führt …

Darsteller*innen

Der bereits aus Star Wars, X-Men: Apocalypse und Dune bekannte Oscar Isaac ist unbestritten die wichtigste Person in Episode 1 von Moon Knight. Die Folge lässt sich viel Zeit, Steven und seine Lebensverhältnisse vorzustellen. Gegenspieler Harrow bekommt vergleichsweise wenige Szenen, die anderen Hauptcharaktere tauchen noch gar nicht auf. Isaac, der sonst immer sehr charismatische Personen verkörpert, schafft es hier, eine Hauptperson zu spielen, die das Rampenlicht scheut: Steven ist ein schusseliger Versager, der immer leicht gebückt geht und dessen Haare von Szene zu Szene strubbeliger werden. Man sympathisiert mit diesem armen Tropf, der unfreiwillig ein Date vergeigt und partout nicht aus seinem frustrierenden Ladenjob herauskommt.

© Marvel Studios

Nur über seinen britischen Akzent ist das Fandom gespalten: Die einen halten ihn für glaubwürdig, die anderen mäkeln, dass Isaac zu den vielen amerikanischen Schauspieler*innen gehört, denen partout kein britischer Zungenschlag gelingt. Doch Isaac hält dagegen, dass Stevens Akzent gar nicht authentisch sein soll. Die andere Persönlichkeit in Stevens Körper, Marc Spector, spricht mit Isaacs eigenem amerikanischen Akzent. Ist Steven etwa gar keine eigenständige Identität?

Wo Isaac sein Charisma unterdrücken muss, darf Ethan Hawke als Sektenführer Arthur Harrow auftrumpfen. Der zu Selbstkasteiung neigende Fanatiker scheint ganze Armeen versteckter Anhänger*innen zu kontrollieren und sieht sich als Werkzeug einer Macht, die über die Menschheit richten soll – ein wohlmeinender Extremist, ähnlich wie Thanos? Beide MCU-Bösewichte haben einen gewissen moralischen Pragmatismus gemeinsam. Harrows genaue Ziele bleiben noch verborgen, aber sie kollidieren mit denen von Marc Spector, der Steven unfreiwillig mit in die Sache zieht. Die ruhige, weltentrückte Art, mit der Harrow seine Mitmenschen in Gut und Böse unterteilt, ist dabei der verstörendste Aspekt an Hawkes Darbietung.

Die anderen Hauptcharaktere tauchen in Folge 1 noch nicht auf. May Calamawy als Layla ist nur als Stimme übers Telefon zu hören, der Gott Khonshu (verkörpert von Karim El Hakim und gesprochen von F. Murray Abraham) erscheint überwiegend in kurzen, bizarren Traumsequenzen. Beide werden eine größere Rolle spielen, wenn sich das Mysterium um Steven/Marc in den kommenden Episoden entfaltet.

© Marvel Studios

Inszenierung

Stevens zersplitterter Geisteszustand wird vor allem durch harte Schnitte und Perspektivwechsel portraitiert. Das passiert meistens, wenn Marc den Körper übernimmt – gerade hatte der panische Steven noch mehrere Verfolger*innen an der Backe, im nächsten Moment ist er von Leichen umgeben. Für Actionfans mag das enttäuschend sein, da die eigentliche Kampfszene nicht gezeigt wird. Doch keine Sorge, dieses Stilmittel wird nur vorübergehend genutzt. Immerhin haben Produzent Jeremy Slater und sein Team lange am Design des CGI-Kostüms von Moon Knight gearbeitet, sodass dieser sich bald häufiger mit wallendem Cape durch Actionsequenzen prügeln darf.

Dem Titel entsprechend spielen die meisten Szenen bei Nacht, entweder in Stevens Apartment, das viel zu groß für das Gehalt eines Geschenkartikelverkäufers ist (noch ein Hinweis auf sein Doppelleben), oder im Museum. Bemerkenswert ist, dass auch Arthur Harrow zu Beginn in einem schwach beleuchteten Raum gezeigt wird: Sowohl Moon Knight als auch sein Gegenspieler sind Freunde der Dunkelheit. Wer bereits bei Daredevil dramatische Tableaus in dämmrigen Korridoren und auf nächtlichen Hausdächern mochte, darf auch hier auf eine ordentliche Portion Finsternis hoffen.

© Marvel Studios

Musikalisch wird einerseits ein Score mit wiederkehrendem Leitmotiv präsentiert, andererseits werden Szenen MCU-typisch immer wieder mit ironischen Popsongs wie „Wake Me Up Before You Go-Go“ untermalt. Für die Filmmusik wurde der ägyptische Komponist Hesham Nazih engagiert, der Elemente moderner ägyptischer Musik in die Stücke einfließen ließ. So merkt man der Hintergrundmusik eindeutig ägyptisches Flair an, das aber nicht in orientalistische Klischees verfällt. Vor allem Moon Knights eigenes Thema, im Abspann zu hören, hat Ohrwurmpotential.

Erzählstil

Für eine Marvel-Serie fast schon ungewöhnlich ist die völlige Abwesenheit von MCU-Verweisen und Referenzen. Keine beiläufige Erwähnung des Snap oder der Avengers: Episode 1 von Moon Knight existiert in seiner eigenen Welt. Fans wissen natürlich, dass das nicht von Dauer sein wird, aber es ist ganz angenehm, dass sich zumindest der Anfang der Serie auf den Protagonisten und seinen Widersacher fokussiert. In sechs Wochen werden wir hier auf die gesamte Staffel zurückblicken und ich sage jetzt schon mindestens einen Cameo-Auftritt bekannter Marvel-Charaktere voraus. Vielleicht ist es Luis.

Jeremy Slater legte bei der Konzeptionierung der Serie viel Wert darauf, den Charakter von Moon Knight von überflüssigem Comic-Ballast und eventuellen Vergleichen mit Batman zu befreien. Daher sehen wir nicht Marc Spector als reichen Lebemann, sondern vorwiegend Steven, dessen bloße Existenz ein Hindernis für Spectors Missionen darstellt. Zudem war es den Macher*innen der Serie wichtig, sowohl die ägyptische Kultur als auch Persönlichkeitsstörungen klischeefrei darzustellen. Marvel Studios heuerte dafür den ägyptischen Regisseur Mohamed Diab und seine Frau Sarah Goher an, die Leitlinien kreierten, um hollywoodtypische Orientalismen zu vermeiden. Ägypten und seine Bewohner*innen sollten in der Handlung als normale Menschen abgebildet werden, weswegen zudem wurden ägyptische Crewmitglieder und Berater*innen angeheuert wurden. Diese Authentizität wird sogar von Fachleuten wie der Ägyptologin und Autorin Roxane Bicker gelobt. 

© Marvel Studios

Auch für die Darstellung von Steven/Marcs dissoziativer Identitätsstörung (DIS) wurde Fachwissen zu Rate gezogen. Ein Psychiater von der University of California in Los Angeles beriet die Autor*innen darin, diese Persönlichkeitsstörung realistisch abzubilden. Der Produktionscrew war wichtig, dem sensiblen Thema der psychischen Gesundheit mit Respekt zu begegnen. Angesichts des Hollywoodklischees, Personen mit DIS als furchterregende Bösewichte zu präsentieren (siehe Psycho oder Split), ist diese Entwicklung sehr begrüßenswert. Es bleibt abzuwarten, wie sich Steven mit seiner anderen Hälfte Marc und der Stimme Khonshus arrangieren wird.

Die harten Fakten:

  • Regie: Mohamed Diab
  • Darsteller*innen: Oscar Isaac, Ethan Hawke, Karim El Hakim, F. Murray Abraham etc.
  • Erscheinungsjahr: 2022
  • Sprache: Englisch (Rezension), verschiedene Sprachoptionen auf Disney+
  • Format: Streaming-Serie
  • Preis: Disney+ Monatsabo EUR 6,99, Jahresabo EUR 69,99
  • Bezugsquelle: Disney+

 

Fazit

Die Macht des Mondlichts ist mit Oscar Isaac! Halt, falsche Superheldin. Immerhin bekommt Moon Knight auch eine Verwandlungssequenz, aber ohne Musik und Glitzer. Hier erschöpft sich dann schon der Vergleich zu Sailor Moon. Nein, Moon Knight ist definitiv nicht bunt und kinderfreundlich, was er aber auch nie war. Als Vertreter der Horror-Sparte von Marvel zusammen mit Charakteren wie Werewolf by Night oder Blade (der demnächst auch seinen eigenen MCU-Film bekommt) durfte Marc Spector in den Comics sowohl gegen reale Monster als auch gegen Wahnvorstellungen kämpfen.

Die Umsetzung im Live-Action-Format ist dabei gut gelungen, vor allem dank des Drehbuchs, das geschickt Realität und Fiktion verschwimmen lässt. Anders als in WandaVision, wo die Fernseh-Scheinwelt von der Wirklichkeit durch eine Barriere getrennt war, ist hier nicht immer ersichtlich, was sich in Stevens Kopf abspielt und was nicht. Ein Kritikpunkt, den man Moon Knight vorwerfen könnte, ist die bereits in mehreren MCU-Serien verwendete „Mystery Box“-Handlung, die das große Rätsel über die gesamte Staffel ausbreitet, bevor es im Finale aufgelöst wird. Marvel könnte hier Gefahr laufen, ein eigenes Klischee zu erschaffen, denn auf Dauer mag nicht jede*r Zuschauer*in, Hinweise wie Brotkrumen aufzusammeln.

Aber das ist Meckern auf hohem Niveau angesichts der hohen Produktionsqualität von Moon Knight. Ob diese über sechs Folgen gehalten werden kann und wie zufriedenstellend die Auflösung des Rätsels ist, besprechen wir in einem weiteren Artikel nach dem Staffelfinale.

 

  • Spannender Hauptcharakter und Gegenspieler
  • Authentische Darstellung ägyptischer Kultur
  • Oscar Isaac
 

  • „Mystery Box“-Rätselhandlung ist Geschmackssache

 

Artikelbilder: © Marvel Studios
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Alexa Kasparek

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