Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Familienbande statt mordende Bestien: In Die Tochter des Doktor Moreau verlegt Silvia Moreno-Garcia H.G. Wells klassisches Science-Fiction-Abenteuer in den mexikanischen Dschungel und erzählt die Geschichte von Menschen und Monstern mit Feingefühl und Empathie. Kann ihre junge Heldin sich zur Herrin des eigenen Schicksals aufschwingen?

H. G. Wells ging mit Titeln wie Der Krieg der Welten (1898) und Die Zeitmaschine (1895) als bedeutender Vorreiter in die Science-Fiction-Geschichte ein, doch sein Roman, der gegenwärtig am meisten Aufmerksamkeit erfährt, dürfte Die Insel des Doktor Moreau (1896) sein. Die Erzählung über einen verrückten Wissenschaftler, der auf einer abgelegenen Insel Vivisektionen vornimmt und absonderliche Kreaturen erschafft, scheint heute so aktuell wie eh und je. Die wissenschaftliche Basis mag sich ändern und ein moderner Doktor Moreau würde wohl eher genmanipulieren statt operieren, doch die Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier stellt sich noch immer mit der gleichen Dringlichkeit.

Entsprechend versucht sich die Science-Fiction der Gegenwart auch über 75 Jahre nach Wells Tod an Neubearbeitungen des Materials und geht dabei denkbar frei mit der Vorlage um. So lässt etwa Daryl Gregory in The Album of Dr Moreau fünf entkommene Tiermenschen eine Boyband gründen – welches Teenagermädchen kann schon fünf Paar flauschiger Ohren widerstehen? – und in Teodora Goss‘ Athena Club-Büchern gründet eine monströse Schöpfung des Doktors gemeinsam mit Frankensteins Braut, Doktor Jekylls Tochter und anderen ausgestoßenen Frauen der Literaturgeschichte ein Detektivbüro. Nun nimmt sich auch Silvia Moreno-Garcia des klassischen Stoffes an. Insbesondere seit ihrem Bestseller Mexican Gothic ist die kanadisch-mexikanische Autorin bekannt dafür, angloeuropäische Erzählungen mit einem postkolonialen Twist zu versehen. Genau das tut sie auch in The Daughter of Doctor Moreau und landete prompt auf der Shortlist der diesjährigen Hugo Awards. Beim Limes Verlag erscheint der Roman unter dem Titel Die Tochter des Doktor Moreau nun auch auf Deutsch.

Story

Verborgen im Dschungel von Yucatán, einer Halbinsel im Golf von Mexiko, liegt das Anwesen des Doktor Moreau. Hier führt der genialste Wissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts seine skurrilen Experimente durch, um dem Mysterium des Lebens selbst auf die Spur zu kommen. Hier assistiert ihm sein Haushofmeister Montgomery tagsüber bei der Arbeit, um sich nachts vor der eigenen tragischen Vergangenheit in den Suff zu flüchten. Und hier wächst umgeben von Hybridwesen auch Carlota Moreau auf, seine einzige Tochter. Was Außenstehenden als unzumutbare Hölle fernab jeder Zivilisation erscheinen würde, nennt Carlota ihr Zuhause, ein nahezu unberührtes Paradies, in dem sie mit ihren nichtmenschlichen Freund*innen sicher leben kann. Doch eines Tages wird diese Idylle vom attraktiven Eduardo gestört, dem Sohn von Moreaus Geldgeber, der während der Jagd auf den legendären Mayarebellen Juan Cumux auf das Anwesen stößt und Carlota prompt den Hof macht. Kann sie dem jungen Mann, der ihr ein neues Leben verspricht, trauen, oder werden die dunklen Geheimnisse in den Laboren ihres Vaters zwischen ihnen stehen?

Moreno-Garcia greift für Die Tochter des Doktor Moreau eine Figur auf, die im an Frauen äußerst armen Original von H. G. Wells überhaupt nicht vorkommt, aber seit der Verfilmung Insel der verlorenen Seelen von 1932 fest zum Moreau-Mythos gehört. Die unschuldige Tochter des Wissenschaftlers, oft als warmherziger Gegenpol zu seiner berechnenden Kälte konzipiert, kommt hier zu ihrem Recht als eigenständiger Charakter. Wo herkömmlicherweise ein außenstehender Betrachter auf die Insel gelangt und ihre Geheimnisse aufdeckt, ist es in dieser Neuinterpretation Carlota selbst, die lernen muss, dass ihre scheinbare Normalität jenseits der schützenden Wildnis als absonderlich oder gar monströs betrachtet würde. Wo Wells und seine Nacheifer*innen aus einer bequemen Außenperspektive fragen, was geschieht, wenn der Mensch Gott spielt, stehen Moreno-Garcias Hauptfiguren fest auf der Seite der eigentlichen Opfer einer solchen Hybris: Carlota und der ruppige Montgomery werden zu Fürsprecher*innen der im Labor erzeugten Tiermenschen, deren Perspektive sonst niemanden interessiert.

Wie in ihren anderen Romanen verlegt Moreno-Garcia die Handlung einmal mehr nach Mexiko, macht aus der Insel eine Halbinsel und lässt die Ereignisse vor dem Hintergrund des sogenannten Kastenkriegs stattfinden, in dem die Maya-Bevölkerung auf Yucatán vergeblich um ihre Unabhängigkeit kämpfte. Allerdings gelingt es ihr nicht, die Themen im gleichen Maße zu verweben, wie es beim Vorgänger Mexican Gothic (Deutsch: Der mexikanische Fluch) der Fall war, sodass das historische Setting die Geschichte zwar lebendiger werden lässt, aber keine gänzlich neue Sicht auf die Kernthemen mit sich bringt.

Schreibstil

Der Roman schildert abwechselnd die Perspektiven Carlotas und des Haushofmeisters Montgomery und unterstreicht dabei immer wieder die Anziehung zwischen den beiden Figuren, ähnlich wie in einem Liebesroman. Dies trägt nicht immer zur Aufrechterhaltung der Spannung bei, zumal Montgomerys Blick auf die heranwachsende Schönheit Carlota mitunter arg klischeehaft ist und er ihrer Selbstfindung eher im Weg steht. Ihre eigenen Kapitel sind hingegen ebenso gefühlvoll wie differenziert und erlauben uns, durch ihre Augen Konzepte von Heimat und Familie zu hinterfragen – oder auch zu festigen. Das Maya-Vokabular, welches allerdings modernisiert und nicht im Stil des 19. Jahrhunderts wiedergegeben wird, tut sein Übriges, um Die Tochter des Doktor Moreau zu einem bereichernden Leseerlebnis zu machen.

Die Autorin

Silvia Moreno-Garcia wurde 1981 in Mexiko geboren, wo sie auch aufwuchs, bis sie fürs Studium nach Kanada zog. Zu ihren bekanntesten Romanen gehören Gods of Jade and Shadow (2019) und Mexican Gothic (2020). Moreno-Garcia lebt als freie Autorin und Kolumnistin in Vancouver, British Columbia.

Erscheinungsbild

Der Limes-Verlag bringt den Roman als hochwertiges Hardcover mit dem Titelbild des englischsprachigen Originals heraus. Die junge Frau im festlichen Gewand, die im Eingang eines bunten, mit Ranken überwucherten Gebäudes steht, lässt das Buch allerdings eher wie ein Historienroman wirken als wie die Neuerzählung eines Science-Fiction-Thrillers.

© Limes

Die harten Fakten:

  • Verlag: Limes
  • Autorin: Silvia Moreno-Garcia
  • Erscheinungsdatum: 24.05.2023
  • Sprache: Deutsch (Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frauke Meier)
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN: 978-3-8090-2762-1
  • Preis: 22,00 EUR (Print) + 14,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon (auch im englischen Original), idealo

 

Fazit

Die Tochter des Doktor Moreau erzählt die klassische Geschichte von H.G. Wells neu, vor dem Hintergrund eines gescheiterten mexikanischen Bürgerkriegs im späten 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt steht dabei Moreaus Tochter Carlota, welche die geheime Laboranlage mitten im Dschungel nicht als Ort des Grauens, sondern als Heimat betrachtet. Als sich die junge Frau jedoch in einen wohlhabenden Mann aus der Stadt zu verlieben droht, tritt sie eine Lawine von Ereignissen los, die sie mit den Konsequenzen der Forschung ihres Vaters konfrontieren.

Silvia Moreno-Garcia macht in ihrem Roman die Perspektiven der von Doktor Moreau geschaffenen Hybridwesen stark und stellt sie nicht als Monster, sondern als tragische Opfer eines skrupellosen Wissenschaftlers dar, für die es keinen Platz in der Welt zu geben scheint. Das ist für sich genommen nichts Neues, gewinnt jedoch durch die Allgegenwart kolonialer Machtstrukturen eine gewisse Schärfe. Da inhaltlich die historischen und stilistisch die romantischen Aspekte im Mittelpunkt stehen, vergisst man mitunter beinahe, dass es sich um einen Science-Fiction-Roman handelt, was dem Unterhaltungswert allerdings keinen Abbruch tut. An die subtile politische Sprengkraft von Moreno-Garcias früheren Romanen reicht Die Tochter des Doktor Moreau dennoch nicht heran.

  • Feministische Neuerzählung eines bekannten Stoffes
  • Stellt die Perspektiven der Hybridwesen in den Mittelpunkt
  • Ungewöhnliches historisches Setting

 

  • Die Figur des Montgomery ist mitunter arg klischeehaft
  • Historisches Setting und die anderen Themen des Buchs ergeben nicht immer ein organisches Ganzes

 

Artikelbilder: © Limes
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Giovanna Pirillo
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein