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Ein Spiel, bei dem man als Personal eines Krankenhauses kooperativ die Geschichte des Lebens eines im Sterben liegenden Menschen ergründet. Mutig und ungewöhnlich, aber auch gut? Wir haben uns Holding On – Das bewegte Leben des Billy Kerr von Hub Games und Asmodee für euch angeschaut.

Billy Kerr wird sterben. Und das am Ende dieses kooperativen Brettspiels! Daran können wir nichts ändern. Wir können ihn pflegen und seinen Tod somit hinauszögern, und wir können mit ihm reden und dadurch Schritt für Schritt seine Lebensgeschichte ergründen – und nebenbei auch noch einiges über eine bestimmte Phase historischer Unruhen lernen. Denn auch, wenn dieser Fremde zunächst nur zögerlich Details seiner bewegten Vergangenheit mit uns teilen mag, so gibt es doch Dinge, die ihn belasten. Somit ist das Ziel dieses Spiels, Billy Kerr in zehn Szenarien lange genug am Leben zu halten und gleichsam sein Vertrauen aufzubauen, damit er sich die Seele freireden und unbeschwert aus dieser Welt scheiden kann.

Spielablauf

So weit, so ernst. Zwei bis vier Spieler übernehmen also die Rolle je einer Pflegekraft. Zusätzlich gibt es noch Aushilfen und für besonders brenzlige Situation Aushilfen auf Abruf. In jeder Spielrunde (einem Tag im Krankenhaus) muss der reihum wechselnde Schichtleiter diese Figuren in drei Schichten einteilen. Wie bei kooperativen Spielen üblich, entscheidet man tendenziell gemeinsam – das letzte Wort hat jedoch der jeweilige Schichtleiter.

In einem Teil dieses Spiels gegen die Zeit wird dann nacheinander jeweils für die Früh-, Spät- und Nachtschicht eine Patientenkarte aufgedeckt. Unter diesen 39 Karten gibt es drei Kategorien: Billys Zustand verschlechtert sich, er bleibt stabil oder es ist ein Notfall. In jeder Schicht müssen zudem ein bis drei Mitarbeiter eingesetzt werden. Ist dies dem Schichtleiter nicht möglich, so gibt es eine Verwarnung, und bei der zweiten Verwarnung ist das Spiel verloren.

Das Spielbrett mit Billys Zustandsleiste oben, dem Personal unten rechts. Alle Karten sowie Marker liegen bereit.
Das Spielbrett mit Billys Zustandsleiste oben, dem Personal unten rechts. Alle Karten sowie Marker liegen bereit.

Figuren können dabei auch weitere Schichten übernehmen oder bei Vakanzen aushelfen, für beides gibt es jeweils einen Stressmarker. Diese Marker verliert man nur durch einen komplett freien Tag, den der Schichtleiter verordnen kann oder der automatisch eintritt, wenn eine der Pflegekräfte drei oder eine Aushilfe zwei Stressmarker angesammelt hat. Dann ist die Figur erschöpft und geht umgehend nach Hause.

Außerdem sammelt man im Spiel Versorgungsmarker. Diese kann man nun ausgeben, indem man eine Verschlechterung von Billys Zustand (der auf einer Punkteleiste bei 28 startet) um eins bis drei Felder mit je einem Marker aufhält. Bei einem Notfall müssen dann direkt zwei bis drei Mitarbeiter zwei bis fünf Marker aufbringen, um jeweils einen Verschlechterungsschritt aufzuhalten. Sollte dies komplett gelingen, erhält man für die Bewältigung der Krise allerdings auch einen Versorgungsmarker zu Belohnung.

Bei einer Stabilisierung kann man sogar eine Verbesserung von einem Feld herbeiführen. Diese medizinische Versorgung ist dabei aber immer die exklusive Alternative zur sogenannten palliativen Versorgung – also das Verbringen von Zeit mit Billy Kerr. Hierdurch generiert man Versorgungsmarker (Vertrauen) oder erhält vage Erinnerungskarten.

Die drei verschiedenfarbigen Pflegekräfte (Spielercharaktere) sowie die Aushilfen warten im Pausenraum auf ihren Einsatz. Zwei Aushilfen auf Abruf stehen bereit – können aber nur jeweils für einen einzigen Tag eingesetzt werden.
Die drei verschiedenfarbigen Pflegekräfte (Spielercharaktere) sowie die Aushilfen warten im Pausenraum auf ihren Einsatz. Zwei Aushilfen auf Abruf stehen bereit – können aber nur jeweils für einen einzigen Tag eingesetzt werden.

So kommt der Geschichtsteil ins Spiel. Diese Erinnerungskarten zeigen ein Zitat und Bilder, auf denen man Billy in einer schemenhaft gezeichneten Szene seines Lebens sieht. Insgesamt gibt es fünf Lebensabschnitte mit jeweils sechs Karten zu entdecken. Eine Partie gewinnt man zumeist, indem man noch aktiv mit Billy spricht, was nur möglich ist, wenn sich sein Zustand in der Schicht nicht verschlechtert hat. Dann kann man sich aus dem Stapel der konkreten Erinnerungen für jeden Versorgungsmarker die erste Karte aus einem bestimmten Stapel (I-V) heraussuchen.

Am Ende jeden Tages erhält man einen Versorgungsmarker und zwei für jede gar nicht eingesetzte Figur (die den Tag quasi im Pausenraum rumgelümmelt hat). Weiterhin deckt man die Karten auf. Zunächst ordnet man die vagen Erinnerungen an, soweit man das Puzzle schon zusammenfügen kann. Dann prüft man, ob die konkreten Erinnerungen, die man gezogen hat, vagen Erinnerungen entsprechen. Wenn ja, überdeckt man sie, wenn nein, kommen sie zurück in den Stapel. Das erste Szenario ist gewonnen, wenn man aus jedem der fünf Abschnitte eine konkrete Erinnerung ausliegen hat, bevor man zwei Verwarnungen erhält (die es für unzureichende Personaldichte, erschöpfte Schichtleiter oder einen Tag komplett ohne medizinische Versorgung gibt) oder bevor Billy stirbt, also die Null auf der Zustandsleiste erreicht hat.

Es gibt in beiden Erinnerungsdecks jeweils noch fünf Aktionskarten, die das Ziehen von mehr oder weniger Karten erlauben, Billys Erzählung intensivieren oder andere Bahnen einschlagen lassen oder auch seinen Zustand konkret beeinflussen können. Diese sind wiederum abhängig davon, wie es Billy gerade geht, denn die Zustandsleiste ist in vier Farben eingeteilt. Außerdem kommt für spätere Szenarien noch die Option hinzu, Personen aus Billys Vergangenheit telefonisch zu kontaktieren, was zu einer leichten Varianz der Zielbedingungen führt.

Bei zwei Spielern, also auch nur zwei Pflegekräften, darf der Schichtleiter eine Extraschicht übernehmen, bei vier Spielern macht der Schichtleiter nur jeweils die Disposition, darf aber selbst keine Schicht übernehmen.

Ausstattung

Schichtleitertableau: Der „Startspielermarker“ einmal anders. Er bietet Platz für Versorgungsmarker der Aushilfen, Karten und auch ggf. den gefürchteten Verwarnungsmarker.
Schichtleitertableau: Der „Startspielermarker“ einmal anders. Er bietet Platz für Versorgungsmarker der Aushilfen, Karten und auch ggf. den gefürchteten Verwarnungsmarker.

Das Spielmaterial ist thematisch in einem klinischen Türkis-Mint-Ton gehalten. Besonders das Schichtleitertableau im Clipboard-Look verbindet stimmungsvolles Design mit Funktionalität, da dort auch Bereiche für Token, Karten und Spielfiguren ist.

Die pastellfarbenen Püppchen wirken vielleicht nicht wie die zeitgemäßeste Lösung, aber Miniaturen würden hier vielleicht auch zu niedlich oder auch realistisch wirken, und so ist die etwas abstraktere Eleganz doch gut gewählt.

Das eigentliche Kernelement liegt allerdings in den liebevoll gestalteten 30 Karten, die es einmal als vage Erinnerung eher schemenhaft umrissen und einmal als konkretes Abbild einer Situation aus Billys Leben gibt. Hier sehen wir schöne Phasen, Jugendsünden, wichtige Momente, aber auch Schicksalsschläge und düstere Zeiten.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Hub Games, Asmodee
  • Autor(en): Michael Fox & Rory O’Connor
  • Erscheinungsjahr: 2018
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 45–60 Minuten, 10 Szenarien
  • Spieleranzahl: 2 3 4
  • Alter: 14+
  • Preis: 27 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Bonus/Downloadcontent

Im Download-Bereich von Hub Games gibt es die deutschen und englischen Regeln sowie ein Icon- und ein Runthrough-Sheet, letztere allerdings nur auf Englisch.

Fazit

Fast ebenso schwierig wie das Thema dieses Spiels ist es, das Spiel zu bewerten. Es ist liebevoll gestaltet, es erzählt eine interessante, etwas tragische Geschichte und vor allem geht es sensibel mit diesem sehr ernsten Thema um, das schwierig sein kann, vor allem für Menschen, die ein Elternteil oder einen anderen nahestehenden Menschen verloren haben, vielleicht plötzlich, vielleicht auch nach langer Krankheitsgeschichte.

Neben der traurig-schönen Idee und dem Mut und der Aufmachung gilt es für uns eben auch, das Spiel hinter der Geschichte zu bewerten, und das ist ein wenig zweigeteilt. Der erste Aspekt ist das Krankenhausmanagement: im Sinne eines reduzierten Worker-Placement-Spiels Personal einteilen und als Ressource nicht (zu sehr) verausgaben. Auf der anderen Seite stehen die Erinnerungsstapel, mit denen man in jedem Szenario eine Set-Collection-Variante betreibt. Beides für sich genommen funktioniert und fügt sich auch ganz gut zusammen: die harte Realität überarbeiteter Pflegekräfte auf der einen und die vagen, unzusammenhängenden Erinnerungen, die sich nur mit etwas Glück zu einem sinnhaften Gesamtbild formen, auf der anderen Seite.

Doch hier kommt der erste große Knackpunkt. Die Verknüpfung der beiden Elemente geschieht durch die Entscheidung zwischen medizinischer ODER palliativer Betreuung. Entweder halte ich Billy so lange wie möglich am Leben, indem ich ihm den ganzen Tag Arzneien und Therapien verabreiche, ODER ich sitze da und lausche seinen zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen, damit ich ihn später auf seine Lebensphasen ansprechen und damit das Spielziel erreichen kann. An manchen Tagen wird man nichts anderes als das Erste machen können, an anderen ist es entspannter und die Spieler erhalten viele Karten. Was für den Bereich der Notfälle noch Sinn hat, bedeutet aber irgendwie grundlegend, dass ich mich entscheiden muss, ob ich dem hippokratischen Eid folge oder schlichtweg nichts tue und nur so der Geschichte und dem Spielziel näher komme, eben nur durch unterlassene Hilfeleistung.

Der zweite große Kritikpunkt liegt in der Art, in der uns die Geschichte erzählt wird. Man zieht die vage Erinnerung und liest das Zitat, wenn man es dann aber mit der Bildseite nach oben hinlegt und dann ggf. das ausgefüllte passende Bild drauflegt, fehlt ein wenig dieses Textelement. Man könnte die untere Karte noch einmal umdrehen, um den oft doch eher generisch wirkenden Text zu lesen, aber dazu müsste man im ausliegenden Grid herumfummeln – das ist unhandlich. Und so sind die Karten letztlich doch nur ein funktionales Element.

Die Geschichte geht hauptsächlich durch die Storykarten der Szenarien voran, und irgendwie bleibt das Gefühl, dass man sich doch eigentlich mehr mit dem Kernelement der Erinnerungen beschäftigen müsste – aber man tut es nicht. Zwar braucht man in jedem Szenario andere konkrete Erinnerungen, aber zumindest bei den vagen Erinnerungen cycled man ziemlich durch, und am Ende liegt ein 60-80-prozentiges mehr oder minder gleiches Puzzle-Spiel aus. Wenn man hier Karten erst sukzessive zugeführt hätte und somit immer noch mehr zu entdecken hätte, als zehnmal mit einem fast unveränderten Deck zu spielen, wäre der Wiederspielbarkeitswert deutlich höher.

Es gibt hier viele gute Ideen und auch Mechaniken, aber am Ende hätte es eben ein besseres Spielerlebnis werden können. Mit etwas mehr Text, mit episodischerem Aufbau nicht nur der Rahmengeschichte, sondern auch der kleinen Erinnerungs-Kunstwerke, und vor allem einem Grundmechanismus, der mich nicht dafür belohnt, wenn ich medizinische Unterversorgung leiste, könnte das Spiel noch weit runder daherkommen. So ist das Spiel in den ersten Partien wirklich interessant und gibt letztlich interessante Einblicke in eine hierzulande relativ unbeleuchtete historische bedeutsame Phase. Die Motivation, zehn erfolgreiche Szenarien des durchaus herausfordernden Spiels zu bestehen, wird allerdings nicht jeder aufbringen.

Wer Spiele wie Pandemie liebt und durchaus häufiger spielt und dabei noch eine sich langsam und liebevoll entfaltende Geschichte entdecken mag, für den kann das Spiel genau das Richtige sein.

mit Tendenz nach oben

 

Artikelbild:Hub Games, Fotografien: Daniel Hoffmann, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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