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Emily Wilde zieht es im Jahre 1909 in den eisigen Norden, in das Dorf Hrafnsvik. Sie möchte an ihrer Enzyklopädie über Feen weiterarbeiten. Als ihr Kollege Bambleby aus dem fernen Cambridge auftaucht, überschlagen sich die Ereignisse. Verfolgt Bambleby eigene Ziele? Und wieso wachsen die Dorfbewohner*innen der introvertierten Forscherin ans Herz?

Ein ungewöhnliches Setting wartet in Emily Wildes Enzyklopädie der Feen auf die Lesenden: Um ihr Standardwerk um ein entscheidendes Kapitel zu ergänzen, reist die namensgebende Forscherin in Begleitung ihres Hundes Shadow in eine verschneite Landschaft im hohen Norden, genauer gesagt auf die Insel Ljosland vor der norwegischen Festlandküste. Dort erwartet sie im Ort Hrafnsvik eine eingeschworene Dorfgemeinschaft, die große Hoffnungen in die junge Akademikerin aus Cambridge setzt. Denn einige von ihnen haben bereits tragische Bekanntschaften mit dem Feenvolk gemacht. Das Vorhandensein von Feen unterscheidet die Romanwelt von der unsrigen: Feen sind real und bevölkern die Erde.

Die Feen, die in der Kälte heimisch sind, sind anders als alle bisher bekannten. Emily Wilde muss ihr ganzes Wissen einsetzen, um sich zu orientieren und einen Zugang in die Feenwelt zu finden. Das Kleine Volk hat den Bewohner*innen des Dorfes schon einiges zugesetzt und Emily verspürt den ihr unbekannten Drang, den Menschen beizustehen.

Nach einer angemessenen Eingewöhnungszeit taucht zudem ihr Kollege Bambleby auf, zu dem Emily schon in Cambridge eine freundschaftliche Konkurrenz pflegte. Zusammen mit zwei Student*innen quartiert er sich in ihr kleines Häuschen ein und verspricht, ihr sowohl bei ihrer Forschung als auch bei der Zusammenarbeit mit den Menschen beizustehen. Denn während Emily sich lieber in ihre Bücher und Forschung vergräbt, findet Bambleby an der Gesellschaft anderer Menschen einen großen Gefallen und diese an ihm. Doch sind seine Motive so ehrenhaft, wie sie scheinen? Oder verfolgt er seine eigenen geheimen Pläne?

Triggerwarnungen

Kindesentführung, Entführung, Axtverletzung, Verstümmelung, Erfrieren

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Die Feenwelt – Magisch und gefährlich

Als Feldforscherin verfügt Emily Wilde über ein fundiertes Wissen über die unterschiedlichen Arten von Feen, ihre Geschichte und die Risiken, die Menschen mit einer Begegnung eingehen. Trotzdem begibt sie sich allein auf die Expedition in den Norden, denn Emily bevorzugt ein zurückgezogenes Leben: Ohne Familie oder andere Bindungen zieht sie die Gesellschaft der Bücher derer der Menschen vor. Dementsprechend gering sind ihre sozialen Kenntnisse, wenn es um den Kontakt und die Beziehungspflege zur Dorfgemeinschaft geht.

Anders sieht es beim Kontakt zum Kleinen Volk aus: Hier weiß Emily genau, welche Taktiken sie einsetzen muss, um Berührungspunkte zu schaffen und so an Informationen über die sogenannten Verborgenen zu kommen. Sie besitzt Kenntnisse darüber, wie man Feen anlockt und auch welche Gefahren drohen können, wenn Regeln missachtet werden. Trotzdem halten die Feen in diesem Teil der Welt so einiges bereit, was die Forscherin an ihre Grenzen und darüber hinaus bringt. Als sich die Ereignisse im Laufe ihres Forschungsaufenthaltes überschlagen, gerät nicht nur sie selbst in höchste Gefahr.

Bambleby verfolgt hingegen einen anderen Ansatz: Während Emily von Erkenntnisgewinn getrieben ist, lässt er es bevorzugt locker angehen. Seine beiden Student*innen nehmen ihm häufig die praktische Arbeit ab, was es ihm ermöglicht, auszuschlafen und lange Abende im Gasthaus zu verbringen. Emily argwöhnt, dass es ihm vor allem um wissenschaftlichen Ruhm geht und sie ihm durch ihre Feldstudie zu weiterem verhelfen kann. Trotzdem lockt sie die gemeinsame Arbeit, da dadurch die Möglichkeit gegeben wird, ihre eigene wissenschaftliche Reputation weiter auszubauen. 

Neben den beiden Hauptfiguren sind auch die Menschen des Dorfes sehr lebensnah und mit glaubhaften Stärken und Schwächen ausgestaltet. Sie alle haben unterschiedliche Erfahrungen mit und Herangehensweisen an das Feenvolk. Ihre Geschichten werden mehr oder weniger intensiv erzählt und fügen sich unterschiedlich in die Gesamthandlung ein. Während einige bereits begonnen haben, bevor die Handlung von Emily Wildes Enzyklopädie der Feen startet, finden andere ihren Anfang im Laufe des Buches. Schließlich gibt es noch solche, die nur als Anekdoten an Emily Wilde herangetragen werden. All diese Schilderungen, zusätzlich zu Emily Wildes eigener Geschichte mit dem nordischen Kleinen Volk, machen den Forschungsaufenthalt erlebbar und transportieren eine ganz eigene Magie.

Die Feen bieten eine ganze Bandbreite an Charakter- und Verhaltensweisen. Nicht nur, dass sich die verschiedenen Völker je nach Wohnort unterscheiden – Emily vergleicht die Feen in Hrafnsvik oft mit denen in Irland –, sie leben auch in einer adelsähnlichen Gesellschaftsform, die jeweils ihre eigenen Talente und Befugnisse hat. Jede Fee, die in näherem Kontakt zur Forscherin steht, ist einzigartig charakterisiert. Trotzdem ist jede ambivalent ausgestaltet, wie es bei den Verborgenen üblich ist.

Insbesondere ein Feenjunge, mit dem Emily Wilde schnell Bekanntschaft schließt, ist sehr sympathisch. Der Autorin Heather Fawcett gelingt es gerade mit seiner Figur ausgezeichnet, den Lesenden grundlegende Mechanismen der Feen-Gesellschaft näher zu bringen: die Geduld, die im Kontakt mit ihnen aufgewandt werden muss, der Tauschhandel, der eine Form der Kommunikation darstellt, und die Faszination, die unterschiedliche Gegenstände auf das Kleine Volk ausüben.

Im Laufe des Buches lernen die Lesenden durch Emilys fortschreitende Verstrickung mit allen Bewohner*innen des Dorfes viele weitere Merkmale kennen, die sie jedoch auch in Gefahr bringen. Auf diese Weise gelingt es, eine Spannung zu erzeugen, die sich durch Forschungsergebnisse aufbaut, was dieses Buch zu einem echten Highlight werden lässt.

Das Tagebuch – Wissenschaft und Gefühl

Forschungstagebücher waren zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine weit verbreitete wissenschaftliche Methode und sind es teilweise heute noch. Sie dienten dazu, Hypothesen, Methoden, Beobachtungen, Messungen und Daten festzuhalten und Arbeitsverläufe zu dokumentieren. Zudem konnten die Forscher*innen in ihnen ihre eigenen Gedanken und Ideen zu den Forschungsgegenständen vermerken.

Emily Wildes Enzyklopädie der Feen ist in Form eines solchen Forschungstagebuchs geschrieben und es gelingt Heather Fawcett sehr gut, die angesprochenen Charakteristika eines solchen umzusetzen. Gleichzeitig wird durch diese Erzählform die Protagonistin des Romans schon sehr gut eingeordnet, da ihr Forscher*innengeist und das Streben nach neuen Erkenntnissen sehr gut sichtbar werden. Persönliches findet auch seinen Platz, wird aber der Wissenschaft entweder untergeordnet oder mit dieser verknüpft. Eine für Forschungstagebücher ungewöhnliche Methode ist das Einfügen von Fußnoten. Dadurch, dass diese trotzdem verwendet werden, wird zum einen die wissenschaftliche Perspektive auf die Geschehnisse verstärkt und zum anderen weitere Kenntnisse bei den Lesenden untergebracht, die die Ausführungen der Protagonistin erklären oder untermauern. Erfreulich anachronistisch ist, dass die Tatsache, dass eine Frau zu dieser Zeit als Forscherin für ihren eigenen Broterwerb sorgt, nicht zu Problemen führt (obgleich diese Thematik auch für spannende phantastische Literatur sorgen kann).

Besonders charmant bei dieser Erzählung ist, dass sich den Lesenden die vereiste Schneelandschaft durch die Augen von Emily Wilde präsentiert: als wunderschön und zugleich gefährlich und anstrengend. Der Autorin gelingt es, durch die genau richtig dosierten Beschreibungen sowohl der Landschaft als auch der (Forschungs-)Aktivitäten ein sehr genaues Bild des Lebens auf der norwegischen Insel zu Anfang des 20. Jahrhunderts zu schaffen, das sich mit der Bedrohung durch die unwirkliche Welt der Feen arrangieren muss.

Zitat: Was er berührte, erblühte plötzlich, Blätter wie geschliffene Smaragde, rote Beeren, Weidenkätzchen und Samenzapfen ließen den Schnee stieben, ein Strom aus Farben und Formen zog sich knisternd durch die weiße Winterwelt.

Gerade der sprachliche Wechsel zwischen der nüchternen, wissenschaftlichen Perspektive und der poetischen Faszination dieser von Menschen und Feenvolk geprägten Umgebung, die so anders als alles bisher Bekannte für Emily Wilde ist, machen den Reiz dieses ungewöhnlichen Buches aus. Sicherlich ist dies auch der gelungenen Übersetzung von Eva Kemper zu verdanken, die es schafft, dass die Lesenden förmlich die Kälte spüren können.

Die Autorin

Emily Wildes Enzyklopädie der Feen ist das erste Buch von Heather Fawcett, das an ein erwachsenes Publikum gerichtet ist. Vorher veröffentlichte die auf Vancouver Island, Kanada, lebende Autorin schon einige Bücher für Kinder und Jugendliche, die auch auf Deutsch erschienen sind. Mehr Informationen über die Autorin sind auf ihrer Homepage zu finden. Auf dieser findet sich auch die Vorfreude weckende Meldung, dass im Januar 2024 eine Fortsetzung der Geschichte von Emily Wilde auf Englisch erscheinen wird.

Erscheinungsbild

Das schwarze Cover, das den Titel des Buches in weißer Schrift umgeben von Ranken präsentiert, gibt einige Hinweise auf den Inhalt, die sich im Nachhinein erschließen. Die Farbgebung wirkt sehr geheimnisvoll. Ansonsten gibt es keinerlei Zusatzmaterialien. Eine (womöglich von Emily Wilde selbst gezeichnete) Karte der Insel Ljosland hätte für etwas mehr Orientierung bei den Wanderungen der Forscherin sorgen können.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Fischer TOR
  • Autor*in: Heather Fawcett
  • Erscheinungsdatum: 24.05.2023
  • Sprache: Deutsch/Englisch (Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eva Kemper)
  • Format: Gebundenes Buch
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN: 978-3-596-70844-4
  • Preis: 22 EUR (Print) + 16,99 EUR (E-Book)
  • Bezugsquelle Fachhandel, Amazon (deutsch und englisch), idealo

 

Feen-Expedition in einer knisternden Winterlandschaft

Die Forscherin Emily Wilde begibt sich im Jahre 1909 auf eine Exkursion auf die Insel Ljosland vor Norwegen, um das dort beheimatete Feenvolk zu untersuchen, damit diese Erkenntnisse Eingang in ihre Enzyklopädie finden. Begleitet wird sie dabei von ihrem Kollegen Bambleby, der sie als befreundeter Rivale vor Ort unterstützen möchte. Doch ihn umgibt ein Geheimnis, das Emily Wilde nur allzu gerne lüften würde. Zusammen gehen sie den Eigenarten des Kleinen Volks auf den Grund und werden tiefer in die Geheimnisse eingezogen als ihnen lieb ist.

Heather Fawcett legt mit Emily Wildes Enzyklopädie der Feen einen Cozy-Fantasy-Roman vor, der jedoch durchaus spannend daherkommt. Ungewöhnlich ist, dass in Form eines Forschungstagebuches von den Erlebnissen der Feenforscherin erzählt wird. Der Weltenbau der Feen ist äußerst durchdacht und wird durch Emilys erkenntnisorientiertes Wesen in optimaler Weise an die Lesenden transportiert. Auch die Dorfgemeinschaft des Ortes, in dem Emily Wilde unterkommt, ist sehr differenziert ausgestaltet.

Richtig in Stimmung kommt man mit diesem Buch wahrscheinlich eher in den kalten Wintermonaten, doch auch im Sommer kann es zumindest für eine gedankliche Abkühlung sorgen, wenn man mit Emily durch den eiskalten Winterwald streift.

  • Forschungstagebuch
  • Knackig-kalte Winterlandschaft
  • Spannende Feenwesen

 

  • Keine Karte

 

Artikelbilder : © Fischer TOR
Layout und Satz: Milanko Doroski
Lektorat: Alexa Kasparek
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