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Absurder Spaß im Wahnsinn – so lässt sich Everyone is John zusammenfassen. Im Erzählrollenspiel ist der fast gesichtslose Protagonist den Stimmen in seinem Kopf ausgeliefert, welche um die Kontrolle kämpfen. ProIndie hat kürzlich eine deutsche Übersetzung mit vorgefertigten Szenarien herausgebracht. Was das kurzweilige System ausmacht, erfahrt ihr hier.

Das Leben von John ist ziemlich anstrengend. Immer wieder erwacht er an unbekannten Orten ohne Erinnerung, wie er dort gelandet ist. Auch sonst ist sein Wissen über sich und die Welt begrenzt. Charakterliche Eigenschaften jedweder Form sind nicht vorhanden. Er ist die metaphorische Personifikation einer weiß gestrichenen Wand.

Was Johns Leben noch anstrengender macht, sind die Stimmen in seinem Kopf. Diese erzählen ihm ständig, was er tun und lassen soll – und zwar oftmals im kompletten Gegensatz zueinander! Das innerlich gespaltene Verhalten bringt John immer wieder in Schwierigkeiten. Sein einziger Trost: Meist kann er sich nach dem Aufwachen nicht mehr an die Konsequenzen erinnern …

Im von Michael Sullivan gestalteten Erzählrollenspiel Everyone is John wird seine Geschichte immer wieder neu erzählt. Die Spielenden versuchen, als oben erwähnte Stimmen, die Kontrolle über Johns Verhalten zu erlangen. Nur so können sie ihre eigenen Zwänge ausleben und Punkte sammeln. In der deutschen Neuauflage von ProIndie wurden die handlichen Regeln übersetzt. Zudem werden weitere beispielhafte Szenarien mitgeliefert, um sofort mit dem Spiel starten zu können.

Das Konzept von Everyone is John orientiert sich an dem Verhalten von Menschen mit psychischen Störungen. Für die Handlung wird angenommen, dass John lediglich Spielball der Stimmen in seinem Kopf ist, und keine eigenen Motivationen oder Eigenschaften besitzt. Dies spiegelt aber nicht unsere Realität wider. Ziel des Systems ist es nicht, sich über Menschen lustig zu machen, die an psychischen Störungen leiden.

Triggerwarnungen

Psychose, psychische Störung, Wahnsinn

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Die Regeln – Kontrolle im Chaos

Anders als in typischen Rollenspielen arbeitet die Gruppe bei Everyone is John häufig gegeneinander. Jede Stimme verfügt über individuelle Ziele, die sie im Laufe der Sitzung erreichen möchte und das möglichst häufig. Diese werden Zwänge genannt. Dazu ist es nötig, die Kontrolle über John zu erlangen. Als Einheit werden Willenskraftpunkte verwendet, die beispielsweise über Spielsteine oder Zettelchen mit Zahlen dargestellt werden können. Als Standard starten alle Stimmen mit zehn Punkten. Für eine schnellere oder längere Runde kann diese Menge aber variiert werden.

Um John in dem jeweiligen Szenario steuern zu dürfen, werden während des Spiels regelmäßig Kontrollproben verlangt. Dazu suchen sich die Spielenden verdeckt eine Anzahl an Willenskraftpunkten aus, welche sie setzen wollen. Wenn alle sich entschieden haben, werden die gesetzten Punkte gemeinsam aufgedeckt.

Die Person mit den meisten Punkten erhält die Kontrolle, muss aber im Gegenzug diese Menge an die Spielleitung abgeben. Das verringert automatisch die Chance, im Verlauf des Spiels erneut die Kontrolle zu übernehmen. Alle anderen dürfen ihre Punkte behalten. Bei einem Gleichstand müssen die betroffenen Personen würfeln. Wer das höhere Ergebnis erreicht, übernimmt die Kontrolle und bezahlt die Zahl an Willenskraftpunkten. Die anderen Personen behalten ihre Punkte. Es ist auch möglich, beim verdeckten Setzen zu flunkern und keinen Punkt einzusetzen. Manchmal kann es von Vorteil sein, das Feld einer anderen Stimme zu überlassen, damit sich später mehr Gelegenheiten ergeben, den eigenen Zwängen nachzugehen. Sollte keine der Personen einen Willenskraftpunkt gesetzt haben, obwohl noch welche im Spiel vorhanden sind, wird ebenfalls gewürfelt und die Person mit dem höchsten Wurf erlangt die Kontrolle über John.

Zwänge und Würfelproben

Jede Stimme verfolgt im Laufe des Spiels eigene Ziele, sogenannte Zwänge. Diese versucht sie im Laufe des Abenteuers so oft wie möglich zu befriedigen. Aufgeteilt werden die Zwänge in drei Stufen. Die erste Stufe ist relativ harmlos und klappt ohne Würfelprobe, etwa „etwas trinken“ oder „Türen öffnen“. In der zweiten Stufe gilt es meist eine Aufgabe zu lösen, die eine Gefahr für John darstellen können, und daher einen Würfelwurf erfordert. Dazu zählt beispielsweise „einen Streit anfangen“ oder „eine Verfolgungsjagd erleben“. Die dritte Stufe an Zwängen bringen John vermutlich in Lebensgefahr. Das können unter anderem Tätigkeiten sein wie „ohne Waffen gegen ein Raubtier kämpfen“ oder „ein Gebäude in die Luft jagen“. Für jeden erfüllten Zwang notiert sich die Spielleitung jeweils einen bis drei Punkte für die Person.

Am Tisch spielen alle jeweils eine Stimme in Johns Kopf.

Die aktive Stimme kann John Dinge einflüstern, die er tun soll. Dafür ist es häufiger notwendig, dass John eine Würfelprobe mit einem sechsseitigen Würfel ablegt. Jede Stimme verfügt über eigene Fertigkeiten, welche John in diesem Moment übernehmen kann, beispielsweise Werfen. Passt eine Fertigkeit zu der aktuellen Herausforderung, gelingt die Probe bei einer drei oder höher. Ohne Fertigkeit gelingt die Probe nur mit einer sechs. Spielende haben die Möglichkeit, Willenskraftpunkte auszugeben. Für jeden ausgegebenen Punkt wird die benötigte Würfelzahl um eine Stelle herabgesetzt.

Die Herrschaft über John zu behalten, kann sich oftmals als schwierig erweisen. Immer, wenn John verletzt wird oder eine Probe nicht schafft, wird eine Kontrollprobe fällig. Das gleiche passiert ebenfalls, wenn einer der Zwänge erfüllt wird oder John monotone Dinge tut, die ihn einschlafen lassen. Diese Mechanik erlaubt es, dass die Spielenden dynamisch in das Geschehen eingreifen können, und nicht eine Person durchgängig aktiv ist. Wenn alle Stimmen ihre Willenskraftpunkte ausgegeben haben, endet das Spiel. Die Person, welche die meisten Punkte erreicht hat, gewinnt.

Charaktererschaffung – Nur Stimmen in meinem Kopf

Aufwendige Charakterwerte werden in dem erzählerischen System nicht benötigt. Tatsächlich dürfen sich die Spielenden am Anfang zwei Fertigkeiten aussuchen, welche sie (und damit John) beherrschen. Diese sollten nach Möglichkeit in das Szenario passen, und nicht zu allgemein gehalten sein, wie beispielsweise „reden“. Außerdem sollten sie dabei helfen, die eigenen Zwänge zu erfüllen.

Die einzelnen Abschnitte im Regelwerk sind übersichtlich gestaltet.

Eine Beispieltabelle im Regelwerk gibt eine schöne Liste an möglichen Fertigkeiten, etwa Boxen, Erste Hilfe, Gymnastik, Parcour, Tiere bändigen oder Zaubertricks. Die Spielenden können sich zusätzlich entscheiden, eine dritte Fertigkeit zu wählen. Dafür starten sie das Spiel jedoch mit drei Punkten Willenskraft weniger. Alles weitere zu den Stimmen bleibt den Spielenden selbst überlassen. Es steht ihnen frei, sich beispielsweise lustige Akzente auszudenken oder andere exzentrische Merkmale zu nutzen. Wahrnehmbar sind diese Dinge lediglich in Johns Kopf.

Die Kürze und Übersichtlichkeit erlaubt eine sehr spontane Charaktererschaffung innerhalb weniger Minuten. Die gewählten Fertigkeiten müssen in letzter Instanz aber von der Spielleitung erlaubt werden.

Die Spielwelt – Unbegrenzte Möglichkeiten

Eine feste Spielwelt gibt es bei Everyone is John nicht. Mit seinen mentalen Krankheiten kann der sonst farblose Protagonist in vielen unterschiedlichen Settings auftauchen. Klassischerweise wird von der realen Welt ausgegangen, in der John versucht, den Ansagen der Stimmen nachzugehen. Im deutschen Regelwerk finden sich unterschiedlichste Szenarien, die mit leichten Anpassungen ebenfalls funktionieren.

So spricht beispielsweise nichts dagegen, John in einem mittelalterlichen Fantasy-Setting aufwachen zu lassen, in dem Drachen und magiebegabte Wesen existieren. John könnte sich ebenfalls zum Beginn der Geschichte in einer Science-Fiction-Welt befinden, etwa auf einer Raumstation im Kontakt mit Aliens. Der Spielleitung werden in den Beschreibungen einige hilfreiche Tipps gegeben, wie sie diese Welten sinnvoll etablieren können. Fantasievolle Erweiterungen erlauben den Stimmen auch, für John zusätzliche Fähigkeiten zu wählen. Beispiele dafür sind Blitze schießen, mit Tieren sprechen, Raumschiffe reparieren oder Aliens verstehen.

Es lassen sich auch Welten wie SciFi und Horror darstellen.

Ein tieferer Einblick in die Welten wird nicht vorgegeben. Auch wird im Regelwerk dazu geraten, sich nicht allzu lange mit dem Hintergrund einer Welt aufzuhalten. Schließlich kann John sich kaum an Dinge erinnern, die selbst vor wenigen Stunden oder Minuten passiert sein könnten. Getreu dem Motto „weniger ist mehr“ sollten Spielleitung und Spielende sich mehr auf den Spaß in der Runde konzentrieren, anstatt über mögliche Logiklöcher in der Handlung nachzudenken.

Spielbarkeit für die Spielleitung

Das Softcover ist handlich und übersichtlich gestaltet. Das erleichtert das Nachschlagen bei Regelfragen. Die mitgelieferten Szenarien sind gerade für Neulinge eine gute Vorlage, um das System erstmals auszuprobieren. Ebenso wird in der deutschen Übersetzung erklärt, wie Spielleitungen eigene Szenarien erschaffen können, und wie sie das Spiel für alle in der Runde spannend und unterhaltsam gestalten können.

Alle Bilder von John im Buch sind KI-generiert.

Eine wichtige Aufgabe der Spielleitung im Erzählrollenspiel ist die Moderation. Die Spielenden sollten das Gefühl bekommen, die Geschichte aktiv mitzugestalten und nicht nur zu warten, während eine Stimme allein alles entscheidet. Das offene System erfordert zudem viel Improvisation der Spielleitung. Wer eher feste Strukturen im Abenteuer braucht oder sich ungern spontan neue NSC ausdenkt, könnte mit Everyone is John daher Anfangsschwierigkeiten haben.

Erscheinungsbild

Mit insgesamt 64 Seiten ist das Regelwerk im Vergleich zum Original deutlich erweitert worden. Rund die Hälfte des Softcovers besteht aus Beschreibungen für die unterschiedlichen Genres sowie Szenario-Ideen. Die gute Übersicht der einzelnen Seiten und Kapitel wird um ein Inhaltsverzeichnis am Anfang ergänzt. Für die Bebilderung wurde KI-generierte Kunst verwendet, in denen meist unterschiedliche Versionen von John gezeigt werden, etwa als Hitman, Superheld oder ganz normaler Typ. Bis auf das Cover und die Rückseite, die farbig bedruckt sind, wird das restliche Heft in einem minimalistischen Schwarz-Weiß-Stil präsentiert. Die Schmucklosigkeit passt thematisch zum Protagonisten – Farbe bringen erst die Spielenden mit an den Tisch. Die Texte in den einzelnen Kapiteln sind deutlich voneinander getrennt und gut lesbar.

 

Die harten Fakten:

  • Verlag: ProIndie
  • Autor*in(nen): Michael Sullivan, David Villegas, Christopher Witt, u. a.
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Softcover, PDF
  • Seitenanzahl: 64
  • Preis: 14,95 EUR (Softcover)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, DriveThruRPG, Sphärenmeister

 

Fazit

Everyone is John wird auf der Titelseite als „ein ungewöhnliches Rollenspiel“ beschrieben. Und das stimmt, denn viele Mechaniken aus anderen Systemen werden in diesem Erzählspiel über Bord geworfen. So sind die Spielenden etwa keine eigenen Charaktere, sondern nur Stimmen in Johns Kopf. Diese verfügen über eine jeweils eigene Agenda an Zwängen, welche teils im kompletten Gegensatz zu den Zielen der anderen Personen in der Runde stehen können.

John kann ebenso eine Joanne sein.

Diese absurd klingende Mischung macht den Reiz des sonst regelarmen Rollenspiels aus. Nach der Charaktererschaffung und Festlegung der Zwänge mit der Spielleitung kann innerhalb von Minuten die neue Runde beginnen.

In der deutschen Übersetzung sind mehrere Szenarien als Vorschläge enthalten, die John in ganz unterschiedlichen Welten aufwachen lassen. Dazu zählen unter anderem Fantasy, SciFi oder Horror, was die Möglichkeiten für unterhaltsame kurze Runden nochmal erweitert. Das kurzweilige System ist dabei nicht auf lange Runden ausgelegt, sondern eher auf Oneshots. Wer nach einer kurzfristigen Absage noch eine Alternative für den Spieleabend braucht, sollte einen Blick in Everyone is John werfen.

 

  • Übersichtliches Regelwerk
  • Schneller Einstieg möglich
  • Unterhaltsame Szenarien und Ideen

 

  • Wenig Charaktertiefe möglich
  • Erfordert viel Improvisation

 

 

Artikelbilder: © ProIndie
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Sabrina Plote
Fotografien: Andreas Schellenberg

Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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1 Kommentar

  1. Naja. „Deutlich erweitert“ worden ist das Spiel nicht. Das Original aus dem CF aus 2019 hat ebenfalls die Szenarien an Bord und hat auch 64 Seiten. Die deutsche Ausgabe hat aber hübschere Illus. Ich habe das Spiel bereits mehrfach geleitet und kann es nur empfehlen. Ich habe auch Spielberichte online, falls sich das mal jemand an schauen möchte.

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