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Samuraispiele, gerade solche mit einem historischen Hintergrund, sind auf dem europäischen Markt eher Randerscheinungen. Nach diversen Blockbuster-Previews waren die Erwartungen an Sucker Punch Studios allerdings hoch. Jetzt ist es nach einer Corona-bedingten Verschiebung endlich da. Kann Ghost of Tsushima die hohen Erwartungen erfüllen?

Man kann nicht behaupten, dass die US-Amerikaner von Sucker Punch unerfahren wären in Sachen Action-Adventures. Tatsächlich war ihr letztes, mittlerweile an die sechs Jahre zurückliegendes, Projekt die solide Infamous-Reihe. Aber das Mammutprojekt Ghost of Tsushima scheint eine ganz neue Größenordnung zu haben. Eine gewaltige Open World, mit zahllosen Aktivitäten und einer stark in Optik und Handlung von den berühmten Samuraifilmen Akira Kurosawas inspirierten Geschichte hat Sucker Punch da abgeliefert. Aber reichen gute Vorbilder und großer Umfang aus? Einer der heiß erwartetsten Titel des Jahres 2020 ist jetzt da, werfen wir also einen Blick darauf!

Wir sind Jin Sakai, der Geist von Tsushima.
Wir sind Jin Sakai, der Geist von Tsushima.

Eine aussichtslose Lage

Ghost of Tsushima wirft uns auf die namensgebende Insel ins Jahr 1274. Die mongolische Invasion unter dem fiktiven Khan Khotun nimmt ihren Lauf. Der niederträchtige Feldherr gibt den todesverachtenden Samurai zwei Optionen: Kapitulation oder Tod. Einer dieser Samurai ist der Protagonist Jin Sakai. Lord Sakai ist der Neffe des örtlichen Herrschers, den wir als Lord Shimura kennenlernen. Die beiden sind untrennbar verbunden, auch im Angesicht einer Übermacht. Was aber 80 Samurai, so wütend sie auch sein mögen, gegen tausende Mongolen ausrichten, lässt sich auch ohne Doktortitel in Mathematik problemlos ausrechnen.

Die mongolische Übermacht erfordert unkonventionelle Taktiken.
Die mongolische Übermacht erfordert unkonventionelle Taktiken.

Eine gute Story? Dutzende!

Die Samurai werden in die Flucht geschlagen, die Mongolen unterjochen die Insel grausam, Widerstandsnester flackern nur hier und da auf. Die Suche nach Verbündeten gestaltet sich als schwierig, und es gibt allerhand zu tun. Dabei lernen wir unterschiedlichste Charaktere kennen, etwa die alternde Samuraikriegerin Masako Adachi, deren traurige Familiengeschichte wir nach und nach entschlüsseln, oder den legendären Bogenschützenmeister Ishikawa, der mit den Geistern seiner Vergangenheit ringt. Die Geschichten, denen wir begegnen, sind wunderschön und meistens ernsthaft bis würdevoll inszeniert. Das Beste ist: Die Welt quillt davor über. Zwar ist nicht jede kleine Aufgabe ein erzählerisches Meisterwerk, aber man stößt immer wieder auf tolle Geschichten. Eine davon ist etwa die Geschichte einer Banditenbande, die wir beschatten und die die Schreine einer größeren Stadt ausrauben. Als wir die Sache genauer untersuchen, stellen wir fest, dass die Banditen die Güter nur vor den Mongolen beschützen, und wir tun uns mit Ihnen zusammen. Charmant! Unter dem Strich kann das Storytelling begeistern.

Die Geschichte von Masako Adachi hat uns besonders begeistert.
Die Geschichte von Masako Adachi hat uns besonders begeistert.

Das Ringen mit dem eigenen Gewissen

Ein Geschichtsstrang hat einen besonders präsenten Platz verdient. Denn nach der verheerenden Niederlage am Strand vom Komoda sind unsere Mittel begrenzt und die Lage erdrückend. Wir sind gezwungen mit dem strikten Ehrencode zu brechen, den Jin durch seinen Onkel beigebracht bekommen hat. Dieser ist schon in jungen Jahren an Vaters statt getreten und hat den Neffen mit viel Zuneigung erzogen. Dass wir also nach und nach zum namengebenden Ghost of Tsushima werden und auch vor unehrenhaften Taktiken nicht zurückschrecken, stellt einen wunderschön inszenierten inneren Widerstreit dar.

Etwas für Liebhaber: Der Kurosawa-Modus!
Etwas für Liebhaber: Der Kurosawa-Modus!

Eine Verneigung vor Kurosawa

Apropos Inszenierung: Dass die Macher Verehrer der großen Samuraifilme á la Kurosawa waren, sieht man dem Samuraispiel an jeder Ecke an. Fast fühlt sich Ghost of Tsushima wie eine Hommage an das Filmgenie an. Im einstellbaren Kurosawa-Modus fühlen wir uns sogar, als wären wir direkt in einen Film hineingeworfen worden: Japanische Sprachausgabe, englische Untertitel, körniges Schwarz-Weiß-Bild. Ganz großes Rasentennis und eine spannende Option! Die musikalische Untermalung, die Shigeru Umebayashi beigesteuert hat, tut ihr Übriges. Im Allgemeinen ist das Klangerlebnis mit Sicherheit eines der vielen Highlights des Spiels. Spannende Kabuki-Musik, Orchesterklänge, ruhige Flötenlieder: Es ist für jeden etwas dabei.  

Schönheit, die zum Verweilen einlädt.
Schönheit, die zum Verweilen einlädt.

Schönheit, die manchmal erschlägt

Im Zusammenspiel mit den wie gemalt wirkenden Landschaften entfaltet sich eine Atmosphäre, die die ein oder andere Gänsehaut hervorruft. Ghost of Tsushima ist schlichtweg erschlagend schön und hat uns einige Male sprachlos zurückgelassen. Der Moment, in dem wir in einen Kirschblütenhain reiten, Blätter durch den Wind wehen und sanfte Flötenklänge ertönen, hat uns selbst nach stundenlanger Spielzeit noch dazu gebracht, das Reittempo zu reduzieren und einfach mal den Ausblick zu genießen. Es ist allerdings – so viel sei gesagt – oftmals kitschig bis klischeehaft, so gut es auch gemacht sein mag.

Mag klischeehaft sein, sieht aber dennoch gut aus: Duelle bei fallendem Herbstlaub.
Mag klischeehaft sein, sieht aber dennoch gut aus: Duelle bei fallendem Herbstlaub.

Klischee vs. Realismus

Klischees sind im Allgemeinen ein großes Motiv. Die Mimik der Charaktere ist oftmals so überzogen beherrscht, dass irgendwann der Eindruck aufkommt, die Entwickler hätten hier schlichtweg nichts investiert. Auch die Story ist – so schön sie sein mag – so ernst, dass es manchmal aufgesetzt dramatisch wirkt. Das ist zugegebenermaßen Meckern auf hohem Niveau, aber ein wenig Augenzwinkern hätte dem Spiel gutgetan. Eine Randbemerkung: Ein übertrieben realistisches oder authentisches Spielerlebnis sollte man nicht erwarten. Die Rüstungen und Waffen sind zwar schön und für Laien absolut passend, aber am Ende ist es ein Samuraispiel, kein Kingdom Come: Japan, genauso wie ein Samuraifilm keine Doku übers feudale Japan sein wird.

Über zu wenig zu tun kann man sich wirklich nicht beschweren.
Über zu wenig zu tun kann man sich wirklich nicht beschweren.

Viel zu tun auf Tsushima

Obwohl das Samuraispiel so detailreich und beeindruckend schön ist, hat man am Umfang nicht gespart. Gerade Wenigspieler stehen hier vor einem Zeitmonstrum, das das Potenzial hat, ein echter Wochenendkiller zu werden, wenn man es darauf anlegt, das Spiel wirklich auszuschöpfen. Wer es nicht darauf anlegt, die Story in Rekordzeit zu beenden, kann hier gut und gerne 50 Stunden versenken. Die reine Menge an soliden, charmanten und oft genug wirklich mitreißenden Aufgaben laden dazu ein, sich Zeit zu lassen. Damit ist es aber noch lange nicht getan. Kleine Minispiele in Form von dem Dichten von Haiku, dem Durchschlagen von Bambusstangen oder dem Erklettern von Schreinen bieten durchaus Abwechslung, auch wenn die reine Menge an Spielchen sich nach dem 10. Minispiel manchmal wie eine lästige Pflicht anfühlt. Auch Innovationspreise gewinnen diese Spiele nicht unbedingt, sind aber stets nett eingebunden. Ähnliches gilt für die Kletter- und vor allem die Schleichpassagen, die in Missionen manchmal verpflichtend, aber sonst optional sind.

Ein Highlight ist definitiv der Herausforderungsmodus.
Ein Highlight ist definitiv der Herausforderungsmodus.

Kämpfe, die begeistern

Das Feature-Highlight ist definitiv der Kampf. Das Trefferfeedback ist phänomenal, das Kampfsystem geht gut von der Hand und ist schnell zu lernen. Wir kämpfen hier vor allem mit Haltungen, die es schnell zu wechseln gilt, je nachdem, gegen wen wir kämpfen, ansonsten noch mit den üblichen Ausweich-, Parade- und Angriffsoptionen. Ein überragendes Feature ist die Möglichkeit, Gegnergruppen, die uns noch nicht bemerkt haben, herauszufordern, wodurch wir die wertvolle Entschlossenheitsressource regenerieren können und einen oder mehrere Gegner noch vor Kampfbeginn ausschalten. Ein netter Nebeneffekt: Frontale Konfrontation wirkt wie eine absolut valide Option, die den Spieler belohnt. Wer also nicht schleichen will, muss das meist auch nicht.

Lebensretter, die gut aussieht: Schwere Rüstung!
Lebensretter, die gut aussieht: Schwere Rüstung!

Sinnvolle Lernkurve

Neben den Lebenspunkten, der offensichtlichen Hauptressource, dient Entschlossenheit uns dazu, Lebenspunkte zu regenerieren oder Spezialfähigkeiten einzusetzen. Am Anfang ist der Schwierigkeitsgrad aufgrund der fehlenden Optionen manchmal happiger als erwartet, aber mit Levelanstiegen dürfen wir neue Techniken erlernen. Großartig dabei: Wir haben nie das Gefühl, sinnlos Punkte zu versenken. Jeder Fortschritt macht sich bemerkbar und hilft weiter. Die zweite Möglichkeit stärker zu werden ist bessere Ausrüstung. Diese ist aber meist schnell aufgerüstet und ausgebaut, die unterschiedlichen Rüstungen sind eher als unterschiedliche Optionen zum Kämpfen, Erkunden und Schleichen zu betrachten.

Waffenvielfalt mag nicht gegeben sein, aber die Techniken sind dafür umso besser!
Waffenvielfalt mag nicht gegeben sein, aber die Techniken sind dafür umso besser!

Der lustige Holzfäller-Samurai

Dass das Aufrüsten mal wieder über ein schnödes Ressourcensystem verwaltet wird, ist ein wenig enttäuschend. Eine tragische Samuraigestalt, die nach dem Erschlagen seiner zahlreichen Feinde Haikus über Verlust und den Tod schreibt, und dann auf einmal Bambus und Eisen einsammelt, wirkt unfreiwillig komisch. Die Vielfalt, die wir rüstungstechnisch haben, vermissen wir manchmal in Sachen Bewaffnung. Außer dem Daisho, zwei verschiedenen Bögen und kleineren Gimmicks haben wir keine andere Hauptbewaffnung. Zwar funktioniert das Katana traumhaft, aber als taktische Optionen noch ein Naginata oder Tetsubō, nur um zwei Beispiele zu nennen, wären wirklich spannend gewesen.

Grundsolide Technik, grafischer Genuss: <em>Ghost of Tsushima.
Grundsolide Technik, grafischer Genuss: Ghost of Tsushima.

Technisch absolut solide

Es bleibt aber dabei: Die Kämpfe sind auch ohne perfekt durchdachtes Aufrüstungssystem und große Waffenvielfalt ein Highlight, das einem auch nach dutzenden Stunden noch Spaß macht. Die Kamera ist zwar manchmal zickig, aber ansonsten funktioniert sie technisch ohne Probleme. Im Allgemeinen konnten wir beim Test keine großen Performance-Probleme ausmachen. Die Grafik mag nicht bis ins letzte Kleindetail hochpoliert sein, aber aus dem mittlerweile recht alten Playstation-Setup wird durch die gute Komposition das Beste herausgeholt. Was uns besonders positiv aufgefallen ist: Die Ladezeiten gehen allesamt klar.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: Sucker Punch Productions
  • Publisher: Sony Interactive Entertainment
  • Plattform: PlayStation 4
  • Sprache: Deutsch, Englisch, Japanisch
  • Genre: Action-Adventure
  • Releasedatum: 17. Juli 2020
  • Spielstunden: 40
  • Spieleranzahl: Einzelspieler
  • Altersfreigabe: USK 18, PEGI 18
  • Preis:  65 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo
Wer schön länger auf ein Samuraispiel wartet, der wird hier definitiv glücklich.
Wer schön länger auf ein Samuraispiel wartet, der wird hier definitiv glücklich.

 

Fazit

Ghost of Tsushima ist ein großartiges Spiel. Wer seit Jahren auf ein schönes Samuraispiel wartet, das zwar episch ist, aber auch etwas Bodenhaftung hat, der hat hier seine große Liebe gefunden. Wer Open Worlds und spannende Stories mag, der wird hier glücklich, und wer ein gutes Kampfsystem mag, der kommt ebenfalls nicht zu kurz! Wir sprechen hier eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aus, gerade wegen des großen Umfangs, der den Preis mehr als rechtfertigt. Die filmreife Atmosphäre, die uns Grafik und Ton verschaffen, und die dazu passende Story haben uns begeistert.

Natürlich hat das Spiel seine Macken. Es ist storytechnisch nicht unbedingt immer auf dem Niveau eines Witcher 3, und ein Hardcore-Soulslike-Spieler wird hier auch nicht bedient. Die Abwechslung könnte größer sein und ein bisschen weniger Pathos hätten wir manchmal begrüßt. Aber all diese Punkt sind nicht mehr als Kleinigkeiten, gemessen daran, wie viel Spaß uns das Spiel bereitet hat.

Mit Tendenz nach Oben

Artikelbilder: © Sucker Punch Productions, 
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Rick Davids
Screenshots: Stephan Köhli
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

1 Kommentar

  1. Ich finde das Spiel schlichtweg genial und bin äußerst happy damit. Ich habe selten in Spielen so viele Screenshots gemacht wie hier.
    Was ich super finde, ist das du nicht alle 5 Pixelmeter kämpfen musst. Das ging mir bei the Witcher oder Horizon Zero Dawn viel mehr auf den Keks.
    Was nicht heißen soll, das es nicht genug Kämpfe gibt :)
    Aber ich finde es besser dosiert.

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