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Das Marvel-Universum ist schon lange aus dem Schatten des „Comic-Nerdtums“ getreten und mit Filmen, Serien und Merchandise im Mainstream angekommen. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch die Brettspielwelt einige Ableger erhält. Ob der Abstecher in das Genre der Living Card Games funktioniert, erfahrt ihr in unserem Bericht.

Marvel hat es schon lange geschafft, seine Comic-Geschichten salonfähig für den Mainstream zu machen. Das Marvel Cinematic Universe hat die schon Jahrzehnte bestehenden Welten und Charaktere auch außerhalb des Fandoms und des 90er-Jahre Zeichentrickfernsehens bekannt gemacht. So ist es nunmehr nicht verwunderlich, dass die Lizenz auch für allerlei Brettspiele verwendet wird. Ob es nun mit Marvel United ein eigenständiges Spiel mit Marvel Villainous, X-Men: Aufstand der Mutanten oder Splendor Marvel nur Reskins von bekannten Spielen sind. Das kooperative Living Card Game Marvel Champions reiht sich irgendwo dazwischen ein. Mit vielen Regelanleihen von Arkham Horror – Das Kartenspiel versehen (kein Wunder, da dessen Autor Nate French auch hier mit dabei ist) und doch noch genug eigenen Ansätzen, um nicht als „Kopie“ daherzukommen. Ob das mit der großen Marvel-Lizenz auch funktioniert, haben wir uns für euch angeschaut.

© Asmodee
© Asmodee

Spielablauf

Spielvorbereitung

Das Spiel versucht die Spielenden mit seinem Regelwerk sofort abzuholen. Statt einer generischen Erklärung für Spielaufbau und dergleichen wird direkt der explizite Aufbau des Einstiegsszenarios beschrieben. Hierfür wurden auch sogleich die ersten Decks für die Charaktere Spider-Man und Captain Marvel und das erste Schurken-Szenario mit Rhino zusammengestellt, um „losspielen zu können“. Auch sonst ist die Spielvorbereitung, wenn man sich an die Standard-Decks für die Charaktere hält, schnell abgeschlossen: Szenario auswählen, Charakter-Decks mischen und das Begegnungs-Deck der Schurken zusammenstellen und schon kann es quasi losgehen. Es ist dringend empfohlen, in den ersten Partien die von der Anleitung vorgeschlagenen Deckbauten zu verwenden, um mit den Mechaniken der einzelnen Charaktere vertraut zu werden.

Komplexer wird es jedoch, wenn die Spielenden vorab ihre eigenen Decks bauen. Die Komplexität kommt jedoch nicht von den Deckbau-Regeln, diese sind vermeintlich simpel gehalten:

Es muss exakt eine Identitätskarte (also ein Charakter) gewählt werden und alle Heldenkarten die zu dieser Identität gehören. Der Rest des Decks wird aus den sogenannten Basiskarten und den Karten eines zu wählenden Aspekts (Aggression, Gerechtigkeit, Schutz oder Führung) gebildet. Das Deck muss aus mindestens 40 und maximal 50 Karten bestehen. Jede Identität besitzt auch individuelle „Deckbau-Voraussetzungen“, die erfüllt werden müssen.

Ein paar Karten der vier Aspekte.
Ein paar Karten der vier Aspekte.

Phase der Spielenden

In (nach jeder Runde wechselnder) Reihenfolge führen die Spielenden ihren Zug aus. Während eines solchen Zuges kann aus unterschiedlichen Aktionen gewählt werden. Fast alle Aktionen können so oft ausgeführt werden, wie Karten oder Ressourcen es zulassen.

Lediglich der Gestaltwechsel darf nur einmal pro Runde vollzogen werden. Jede Identitätskarte besteht aus zwei Seiten: der Held*innen-Seite und dem „Alter Ego“. Je nach Gestalt stehen den Spielenden unterschiedliche Aktionen zur Verfügung, und das Handkartenlimit ändert sich. Ebenso sind manche spielbaren Karten nur für eine der beiden Seiten verfügbar.

Spideys Auslage. Um Tante May zu nutzen, müsste er zum Alter Ego wechseln.
Spideys Auslage. Um Tante May zu nutzen, müsste er zum Alter Ego wechseln.

Karten können von der eigenen Hand gespielt werden, indem die Kosten der Karte durch Ressourcen aus der eigenen Auslage oder durch das Ausspielen weiterer Karten der Hand bezahlt werden. Diese so gespielten Karten können dauerhafte Vorteile, wie zum Beispiel mächtige Verbündete, Upgrades oder ähnliches sein. Es können aber auch temporäre Soforteffekte eintreten, um dem Spielverlauf eine Wendung zu ermöglichen.

Um die Kosten von drei der Karte zu zahlen, werden die anderen Karten für die Ressourcen abgeworfen.
Um die Kosten von drei der Karte zu zahlen, werden die anderen Karten für die Ressourcen abgeworfen.

Weiterhin ist es möglich, die Basiskraft des eigenen Charakters einzusetzen. In Alter Ego-Form ist es die Erholung, um Lebenspunkte zu regenerieren. In der Held*innen-Form können wir entweder Bösewichte angreifen, um deren Lebenspunkte auf null zu bringen und die nächste Stufe zu erreichen oder zu gewinnen, oder wir können Widerstand gegen den Plan der Schurken leisten.

Eine weitere Aktionsmöglichkeit für die aktive Person ist das Aktivieren von ausliegenden Verbündeten oder Kartenfähigkeiten von Upgrades oder Vorteilen.

Waren alle Charaktere am Zug, endet diese Phase. Es dürfen beliebig viele Handkarten abgelegt und auf das aktuell geltende Handkartenlimit nachgezogen werden. Zudem werden alle zuvor aktivierten Karten wieder spielbereit gemacht.

Phase der Schurken

Nun ist es an der Zeit, dass die Bösen zurückschlagen und ihre finsteren Pläne verfolgen. Der Hauptplan des gewählten Szenarios, sollte, neben dem Draufkloppen auf die Fieslinge, das Hauptaugenmerk der Charaktere sein. Auf diesem Hauptplan wird im Laufe des Spiels und eben insbesondere in der Phase der Schurken Bedrohung platziert. Diese Bedrohung lässt den Plan voranschreiten und hat einen bestimmten Zielwert. Ist dieser Zielwert erreicht, rückt der Plan entweder zum nächsten Abschnitt vor oder, wenn er in den letzten Abschnitt vorrücken würde, ist das Spiel sofort verloren.

Der Spielbereich des Schurken Rhino.
Der Spielbereich des Schurken Rhino.

Neben dem Platzieren der Bedrohung wird die gewählte Nemesis einmal pro Teilnehmer aktiviert. Ist man in der Supermenschen-Form, erfolgt ein Angriff auf den Charakter, gegen den man sich selbst oder mit Hilfe von Verbündeten verteidigen kann. Hierzu wird der Charakter oder die Verbündeten-Karte erschöpft und kann somit in der nächsten eigenen Phase nicht für eine Basisaktion verwendet werden. Sollte nicht verteidigt werden, erleidet man den vollen Schaden, ansonsten den reduzierten. Sollten die Lebenspunkte eines Charakters auf null sinken, scheidet dieser Charakter aus der aktuellen Partie aus. Befindet man sich in der Alter Ego-Form wird der Plan vorangetrieben und es wird noch mehr Bedrohung platziert. Sollte es aktive Schergen auf dem Spielfeld geben, werden auch diese in derselben Art aktiviert.

Anschließend wird allen Spielenden eine Begegnungskarte ausgeteilt und abgehandelt. Neue Handlanger werden mit dem eigenen Charakter in einen Kampf verwickelt, Verratkarten werden sofort abgehandelt. Ein Anhang wird an die Schurken angehangen und verstärkt diese oder stattet sie mit neuen Fähigkeiten aus. Zudem können Nebenpläne ins Spiel kommen. Diese haben von vornherein eine gewisse Bedrohung und müssen vereitelt werden. Sonst werden die durchaus dramatischen Effekte der Nebenpläne zu einer echten Gefahr.

Zum Ende dieser Phase wandert der Startmarker im Uhrzeigersinn weiter.

Ende des Spiels

Das Spiel endet siegreich, wenn die Lebenspunkte der letzten Phase der Schurken auf null reduziert wurden. Die Lebenspunkte skalieren, wie auch viele andere Aspekte des Spiels (beispielsweise Bedrohung), mit der Zahl der Spielenden.

Verloren ist die Partie, wenn alle Charaktere aus dem Spiel ausgeschieden sind oder der Hauptplan in seiner letzten Stufe voranschreiten würde. In diesem Fall heißt es dann zurück an den Skizziertisch und ein neues, effektiveres Deck bauen.

Ausstattung

Die Box kommt prall gefüllt daher. Über 300 Karten, eine Vielzahl an Markern und schicke Lebenspunktezähler erwarten uns beim Öffnen der Box, ebenso wie die Spielanleitung und das für Living Card Games mittlerweile fast obligatorische Referenzhandbuch.

Die beiden Hefte sind haptisch sehr ansprechend und auch der Inhalt lässt keine Wünsche offen. Die Spielregel versteht sich mehr als eine Art „Losspiel-Begleiter“ und erfüllt diesen Zweck absolut. Tiefergehende Regelfragen, Begriffserklärungen und die Anatomie einer Karte finden sich dann im Referenzhandbuch sehr genau erklärt.

Die Karten sind bei einem solchen Spiel das Herzstück und erfüllen diese Anforderungen vollends. Die verantwortlichen Layouter haben gute Arbeit geleistet die Karten sehr übersichtlich zu gestalten und durch die klare Struktur den Spielfluss positiv zu beeinflussen. Texte sind sehr gut lesbar, auch wenn man sich bei dem schönen Artwork der Karten rein ästhetisch mehr „Sicht“ auf die hübschen Bilder gewünscht hätte. Für das Spielen an sich ist es so natürlich besser. Stichwort Artwork: Hier scheinen die Illustratoren einen Mittelweg gesucht zu haben, um sowohl der Comicvorlage als auch dem MCU gerecht zu werden. Und man darf getrost behaupten, dass es ihnen in den meisten Fällen gelungen ist. Lediglich die Ikonografie bei den Ressourcen wirkt im Vergleich zu allem anderem seltsam lieblos.

Was stört, aber leider bei den meisten Spielen der Fall ist, ist das Inlay. Bei einem Spiel mit so vielen Karten, bei dem es wichtig wäre, diese Karten vernünftig zu separieren, ist das beigefügte Inlay zwar besser als vieles, was man sonst „ab Werk“ vorfindet, aber immer noch mangelhaft.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Asmodee
  • Autor*in(nen): Michael Boggs, Nate French, Caleb Grace
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 45 bis 90 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: 1 2 3 4
  • Alter: ab 14 Jahren
  • Preis: ca. 65 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Auf der Webseite von Asmodee gibt es die Regeln und das Referenzhandbuch zum kostenlosen Download.

Fazit

Marvel Champions ist ein hervorragender Einstieg in die Welt der Living Card Games. Gerade der Service der Einstiegspartie mit den vorgefertigten Decks für Spider-Man und Captain Marvel bietet Neulingen eine gute Möglichkeit ohne große Deckbau-Hürden einfach loszuspielen. Aber auch erfahrene Genre-Fans können sich auf diese Weise mit den Gepflogenheiten dieser Marvel-Variante vertraut machen. Der Schwierigkeitsgrad ist motivierend und selten unfair oder zu leicht. Der Deckbau-Aspekt ist für diese Art von Spielen ein wesentliches Herzstück. Mit den fünf zu Beginn verfügbaren Charakteren Spider-Man, Captain Marvel, Iron Man, She-Hulk und Black Panther werden direkt einige Möglichkeiten geboten, die lediglich durch die, im Grundspiel limitierte, Anzahl an Aspekt-Karten eingeschränkt wird.

Die Charaktere, ihre Alter-Egos und die Erzfeind*innen.
Die Charaktere, ihre Alter-Egos und die Erzfeind*innen.

Die Regeln sind schnell erlernt, insbesondere Kenner vom Arkham Horror-Kartenspiel werden im Zug der Spielenden keine Probleme haben sich zurechtzufinden, da es sich fast eins zu eins um dieselbe Mechanik handelt, mit leicht abgewandeltem und vereinfachtem Ressourcenmanagement.

Ein großer Wermutstropfen sind im vorliegenden Grundspiel jedoch die Szenarien. Für ein Living Card Game muss man hier einfach mehr „Leben“ erwarten, auch der Flavour-Text der meisten Karten ist so kurz und unbedeutend, dass es die Zeit nicht wert ist, diese zu lesen. Hier ruht ganz klar die Hoffnung auf den Szenario-Packs und den großen Erweiterungen.

Alles in allem bleibt festzuhalten, dass wir hier einen tollen Vertreter des Genres vor uns liegen haben, der in Sachen Zugänglichkeit und Gestaltung seiner Vorlage mehr als nur gerecht wird.

  • Super Einstieg in das Living Card Game-Genre
  • Artwork sehr stimmig
  • Regeln schnell verinnerlicht
 

  • Szenarien hätten mehr Geschichte vertragen können
  • Für Veteran*innen möglicherweise zu leicht

 

Artikelbilder: © Asmodee, © Marvel
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Giovanna Pirillo
Fotografien: Tim Billen
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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