Geschätzte Lesezeit: 16 Minuten

Es ist wieder Hugo-Zeit. Vergangene Woche wurde auf der Worldcon in Chicago die nach Hugo Gernsback benannte silberne Rakete verliehen. Es gab zwischen Mönchen und Robotern, Kunstballaden und Erstkontakten viele gute Gründe zum Feiern, unter anderem, dass einer der Preise verdienterweise nach Bremen ging. Ein Rückblick auf die nominierten Romane.

Zum 69. Mal wurde vergangenen Sonntag der älteste heute noch vergebene Preis für phantastische Literatur verliehen. Wie jedes Jahr prämierten die Mitglieder der World Science Fiction Society, die aus Besucher*innen und Förder*innen der diesjährigen Worldcon besteht, die besten Romane und Kurzgeschichten, aber auch Lektor*innen, Fanzines und das Engagement von Fans. Moderiert wurde die Verleihung, die in den vergangenen Jahren nicht immer ganz unproblematisch verlief, von Charlie Jane Anders und Annalee Newitz, die mit Witz und Charme ohne größere Pannen durch den Abend führten.

Anzeige

Das hyperproduktive Autor*innenpaar konnte überdies gleich mehrere der begehrten silbernen Raketen mit nach Hause nehmen: Sie gewannen für den gemeinsamen Podcast Our Opinions Are Correct sowie für Anders‘ Buch Never Say You Can’t Survive, das sich in der Kategorie „Best Related Work“ unter Anderem gegen Elsa Sjunnesons autobiographischen Appell Being Seen: One Deafblind Woman’s Fight to End Ableism und Abraham Riesmans Stan-Lee-Biographie True Believer

Zählte die Romankategorie selbst dieses Jahr zu den stärksten der jüngeren Zeit, hielten auch die anderen Shortlists einige Highights bereit. Der Hugo für die beste Kurzgeschichte ging wenig überraschend an Sarah Pinskers Where Oaken Hearts do Gather, dessen Spiel mit digitalen Textformen bereits mit einem Nebula Award belohnt wurde. Ebenso erwartbar wie erfreulich war auch der zweite Hugo-Award für Becky Chambers, die bereits 2019 für ihre Wayfarers-Reihe ausgezeichnet wurde. Deren letzter Band war zwar auch für den besten Roman nominiert, doch ausgezeichnet wurde die 37-Jährige für die Solarpunknovelle A Psalm for the Wild-Built, in der ein Mönch und ein Roboter Freundschaft schließen und mit einem Teewagen durch die Welt ziehen.

In ihrer berührenden Dankesrede, die in Abwesenheit vorgetragen wurde, sprach Chambers über ihre Post-Covid-Erschöpfung und die Notwendigkeit, sich Raum für Erholung zu geben. Das tröstet beinahe darüber hinweg, dass der Hugo für die Beste Buchreihe dieses Jahr weder an Ada Palmers brillante Terra Ignota-Bücher noch an Fonda Lees innovative Green Bone-Trilogie ging, sondern an Seanen McGuires im Übrigen auch exzellente Wayward Children-Novellen.

Alle guten Dinge sind drei: Nach zwei Nominierungen gewann Cora Buhlert dieses Jahr den Hugo-Award in der Kategorie „Best Fan Writer“. © Paul Weimer
Alle guten Dinge sind drei: Nach zwei Nominierungen gewann Cora Buhlert dieses Jahr den Hugo-Award in der Kategorie „Best Fan Writer“. © Paul Weimer

Ein besonderer Moment war dieses Jahr die Kategorie „Best Fan Writer“, in der die Bremerin Cora Buhlert sich nach zwei Nominierungen nun endlich darüber freuen durfte, in die Reihe der wenigen Gewinner*innen aufgenommen zu werden, die nicht aus dem angloamerikanischen Raum stammen. Per Video dazugeschaltet, ließ die Übersetzerin und Englischlehrerin auch ihre den Twitterfollowern wohlbekannten He-Man-Figuren zu Wort kommen, bevor sie liebenswürdig aber bestimmt eine Lanze für die weitere Internationalisierung der ja immerhin großspurig selbstbetitelten Worldcon brach. Neben ihrem eigenen Blog, auf dem sie alles rezensiert und kommentiert, das in den Bereich internationale Phantastik fällt, und insbesondere ihrer Liebe zum klassischen Pulp Novel Ausdruck verleiht, kuratiert Buhlert gemeinsam mit Jessica Rydill auch das Speculative Fiction Showcase, wo  kleine und selbstverlegte Publikationen vornehmlich in den Blick genommen werden. Zu ihren besonderen Verdiensten der letzten Jahre gehört der Einsatz für die kleineren Hugo-Kategorien, in denen oft weniger abgestimmt wird.

Zu den kontroverseren Momenten gehörte hingegen der Lodestar Award for Best Young Adult Book, der gemeinsam mit den Hugos verliehen wird, aber strenggenommen ein eigenständiger Preis ist. Er ging an Naomi Noviks The Last Graduate, das, wie einige verärgerte Stimmen rasch anmerkten, nicht als Jugendbuch vermarktet wurde. Es ist allerdings leicht zu erkennen, wie der Roman als zweiter Band der Scholomance-Trilogie in dieser Kategorie gelandet ist, denn von der genervten Icherzählerin bis zum Zauberschulsetting hat er alle Eigenschaften eines typischen bis klischeehaften YA-Romans. Es wäre daher wünschenswert, dass sich die weitere Diskussion nicht an einer Formalität aufhängt, sondern sich das Fandom hier selbst hinterfragt: Bei allem Respekt vor Novik als oft herausragender Autorin, hat hier der mit Abstand schwächste Titel auf einer ansonsten starken Shortlist gewonnen, sodass ich persönlich mich ehrlich frage, wie viele Worldconmitglieder die zur Auswahl stehenden Romane tatsächlich gelesen haben.

Im Zentrum des Interesses steht aber natürlich weiterhin die Frage, welcher Roman denn nun nach Ansicht der World Science Fiction Society der beste des Jahres 2021 war?

Die Nominierten:

Project Hail Mary – Andy Weir (Ballantine/Del Rey)

Geschwächt und ohne Erinnerung erwacht Ryland Grace zwischen mumifizierten Leichen an Bord eines Raumschiffs. Bruchstückhafte Flashbacks offenbaren ihm seine verzweifelte Lage: Sein Team ist auf einer Forschungsmission, von der alles Leben auf der Erde abhängt, und als einziger Überlebender des Kälteschlafs ist er nun die letzte Hoffnung für unsere verlöschende Sonne. Doch nicht nur wir Menschen sind vom mysteriösen Sonnensterben betroffen, und am Ziel der Reise findet sich Ryland unvermittelt in einer Erstkontaktsituation wieder. Es ist der Beginn einer gewagten wissenschaftlichen Zusammenarbeit und der unwahrscheinlichsten Freundschaft der gesamten Milchstraße …

Bereits mit dem Erfolgsroman Der Marsianer, der 2011 im Selbstverlag erschien und 2014 neu veröffentlicht wurde, bewies Andy Weir ein Talent dafür, harte Science-Fiction und leichte Unterhaltung zu vereinbaren. Project Hail Mary ist offensichtlich darauf angelegt, ein ähnlicher Publikumsliebling zu werden. Wie der auf dem Mars gestrandete Mark Watney muss sich Ryland Grace in einer hyperindividualistischen Robinsonfantasie aus dem Schlamassel macgyvern – nur, dass diesmal zusätzlich das Schicksal der ganzen Erde auf seinen genialen Schultern lastet. Dieser Heroismus wäre an sich schwer zu ertragen, doch glücklicherweise stellt die entzückende Bromance zwischen Mensch und arachnidem Steinwesen in der zweiten Hälfte ein dringend benötigtes emotionales Gegengewicht dar. Auch im Hinblick auf die Darstellung von Wissenschaft ist der Roman gut ausbalanciert und arbeitet primär mit angewandtem Schulwissen, sodass man sich beim Lesen klug fühlt, ohne selbst knobeln zu müssen. Kein Wunder also, dass die Filmrechte bereits vor Buchveröffentlichung verkauft waren.

Eine große Schwäche sind allerdings die Flashbacks, in denen Rylands Erinnerungen wiederkehren. Die zwischenmenschlichen Szenen wirken künstlich und driften gelegentlich ins Lächerliche ab. Auch tragen sie nur unwesentlich zur Handlung bei und enthalten ein paar Passagen, die geradezu unzeitgemäß wirken. Es drängt sich der Gedanke auf, dass Weir seine Bekanntheit nicht umsonst mit einer Geschichte verdankt, in der ein Mann allein auf dem Mars strandet.

Project Hail Mary: A Novel  © Ballantine Books
Project Hail Mary: A Novel © Ballantine Books

Die harten Fakten

  • Verlag: Ballantine Books
  • Autor: Andy Weir
  • Erscheinungsdatum: 4. Mai 2021
  • Sprache: Englisch (auch auf Deutsch erhältlich )
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN: ‎978-0-5931-3520-4
  • Preis: 20,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

She Who Became the Sun – Shelley Parker-Chan (Tor/Mantle)

Autorinnen wie R. F. Kuang und Xiran Jay Zhao haben das mittelalterliche China in kürzester Zeit zu einem hyperproduktiven mythischen Ort für englischsprachige Mainstreamphantastik gemacht. Verbindendes Element ist dabei ein erfrischend freier Umgang mit historischen Vorbildern, die stets Inspiration sind, aber nie einschränken. Auch die malaysisch-australische Autorin Shelley Parker-Chan ist Teil dieser Entwicklung und erzählt in ihrem Debut den Aufstieg von Hungwu, dem ersten Kaiser der Ming-Dynastie, mit einem entscheidenden Twist: in ihrer alternativen Geschichtsschreibung voller Geister und Magie ist der rebellierende Mönch mit der großen Zukunft tatsächlich eine Frau, die sich als ihr verstorbener Bruder ausgibt.

Zhu Chongba, dem Sohn einer armen Bauernfamilie, wird ein großes Schicksal vorhergesagt. Als er überraschend stirbt, nimmt seine Schwester seine Identität an und vergisst aus Angst, das Schicksal könnte den Betrug bemerken, ihren eigenen Namen. Getrieben von einem schier unermesslichen Überlebenswillen bewahrt sie ihr Geheimnis während ihrer Lehrzeit im Kloster, schließt sich der Rebellion an und beginnt, ihren eigenen Aufstieg zu planen. Parker-Chan verbindet unterhaltsame Schlachten und melodramatische Intrigen mit Fragen nach Männlichkeit und Schicksal. Zhu Chongba ist eine großartige, aber auch abgründige (Anti-)Heldin, die in ihrer Rolle als Mann so sehr aufgeht, dass sie schließlich sogar so weit geht, einem dümmlichen Feldherrn in einem absoluten Powermove die Verlobte auszuspannen. So wird sie zur Antipodin ihres Gegenspielers und Erzfeinds, des rachebesessenen Eunuchs Ouyang, dessen Hadern mit seiner Männlichkeit ihm nicht erlaubt, seinen homosexuellen Wünschen nachzugeben. Wer von beiden die tragischere Figur ist, wird das Sequel zeigen.

So ist das Thema Geschlecht in She Who Became the Sun allgegenwärtig – kein Wunder also, dass die queere Autorin, die vorher als Diplomatin tätig war, beim Schreibprozess durch eine Otherwise-Fellowship unterstützt wurde, die an Autor*innen vergeben wird, die in ihrer Fiktion mit Genderkonzepten experimentieren. Doch auch darüber hinaus ist es ein absolutes Highlight für Fans epischer Fantasy, ebenso klug wie zugänglich, ebenso politisch wie unterhaltsam – was Parker-Chan dann auch den Astounding-Award als beste neue Autorin einbrachte. Ein zweiter Band, in dem Zhu Chongbas Reise an ihr Ende gelangt, ist bereits in Arbeit.

She Who Became the Sun © Tor Books
She Who Became the Sun © Tor Books

Die harten Fakten

  • Verlag: Tor Books
  • Autorin: Shelley Parker-Chan
  • Erscheinungsdatum: 20. Juli 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 414
  • ISBN: 978-1-2506-2180-1
  • Preis: 28,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

A Master of Djinn – P. Djèlí Clark (Tordotcom/Orbit UK)

Kairo, 1912: Fatma el-Sha’arawi, bekannt aus P. Djèlí Clarks Kurzgeschichte A Dead Djinn in Cairo, ist als Agentin des Ministeriums für Alchemie, Zauberei und übernatürliche Wesenheiten einiges gewohnt. Doch als die gesamte Bruderschaft von al-Jahiz, bestehend aus reichen Weißen Engländern mit Orientalismusfimmel, tot aufgefunden wird, bringen die Ermittlungen sie und ihre neue Partnerin Hadia Abdel Hafez an ihre Grenzen. Verdächtigt wird ein Mann mit goldener Maske, der von sich behauptet, eben jener al-Jahiz zu sein, der vor 40 Jahren der Welt die Magie zurückbrachte. Eine unglaubliche Vorstellung, die in den Straßen Kairos für Aufregung sorgt und den internationalen Friedensvertrag gefährdet, der soeben ausgehandelt werden soll. Kann Fatma das Rätsel lösen, bevor die ganze Stadt im Chaos versinkt …?

Aufmerksamen Hugo-Beobachter*innen ist P. Djèlí Clark schon wegen seiner früheren Novellen The Black God’s Drum und The Haunting of Tram Car 015 ein Begriff. Mit A Master of Djinn, dem ersten Roman aus dem sogenannten „Dead Djinn Universe“ gewann er dieses Jahr bereits den Nebula und den Locus Award. Die postkoloniale Krimireihe mit Fantasy- und Steampunkelementen ist auch deswegen so wohltuend zu lesen, weil die klassischen Ermittler von Holmes bis Poirot sich allzu oft in ihren kolonialistischen Settings zurücklehnen, die Städte wie Kairo lediglich als exotische Kulisse für ebenjene wohlhabenden Brit*innen sehen, die Clark bereits im ersten Kapitel aus der Geschichte streicht.

Die Figuren sind liebevoll gezeichnet und brechen in ihrer Unterschiedlichkeit mit allen gängigen Klischees von muslimischen Frauen. Auch Fatmas geheimnisvolle Liebhaberin Siti und Nachwuchsagent Hamed Nasr dürfen wieder mit von der Partie sein, und das durch seine magische Bevölkerung unabhängig gebliebene Ägypten ist ein unglaubliches Setting mit tausend Möglichkeiten für kommende Geschichten. Da ist es beinahe egal, dass die Lösung des Falls dann fast ein bisschen zu einfach und der finale Twist etwas zu offensichtlich ist.

A Master of Djinn – P. Djèlí Clark  © Tordotcom/Orbit UK
A Master of Djinn – P. Djèlí Clark © Tordotcom/Orbit UK

Die harten Fakten

  • Verlag: Tordotcom
  • Autor: Djèlí Clark
  • Erscheinungsdatum: Mai 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 392
  • ISBN: 978-1-2502-6768-9
  • Preis: 26,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

The Galaxy and the Ground Within – Becky Chambers (Hodder&Stoughton)

Der Planet Gora hat keine Atmosphäre und ist wegen seiner Nähe zu einem intergalaktischen Verkehrsknotenpunkt ein beliebter Halt für Raumschiffe, die darauf warten, zu ihrem jeweiligen Wurmloch gelotst zu werden. Hier betreiben Ouloo und ihr kleiner Sohn Tupo die Raststätte „Five-Hop, One Stop“ und beobachten interessiert das Kommen und Gehen unterschiedlichster Reisender. Als ein technischer Fehler die Satelliten über Gora lahmlegt, finden sie sich gemeinsam mit drei Gästen vom Rest der Welt abgeschnitten. Es ist ein Clash widersprüchlicher Alienkulturen, aber auch eine einzigartige Gelegenheit für neue Freundschaften …

Dass Becky Chambers die lose zusammenhängende Wayfarers-Reihe mit Record of a Spaceborn Few doch nicht beendet hat, sondern in ihrem vierten Roman die verschiedenen Aliens in den Blick nimmt, die ihr Universum bevölkern, ist eine mehr als positive Überraschung. Mit dem wachen Blick für soziale Situationen und der wohligen Warmherzigkeit, die inzwischen ihr Markenzeichen ist, kreiert die Tochter einer Astrobiologin konzise Momentaufnahmen, die beinahe Kammerspielcharakter haben. Jäh aus ihren Zeitplänen gerissen und gezwungen, innezuhalten und sich in Geduld zu üben, kommen die Figuren nach und nach ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass sie alle an einem möglichen Wendepunkt stehen oder eine schwierige Entscheidung zu treffen haben. Die Art, auf die sie schließlich beginnen, sich einander zu öffnen, hat dabei nichts Schicksalhaftes. Hier werden keine Leben miteinander verflochten oder Gemeinschaften gegründet. Es entsteht vielmehr jene besondere Nähe, die man nur mit zufälligen Reisebegegnungen erleben kann und deren Intimität auf dem Bewusstsein fußt, dass bald alle wieder ihrer Wege gehen. Chambers feinsinnige Liebeserklärung an diese Begegnungen vergisst dabei nicht, wie viel Dank wir jenen schulden, die sie ermöglichen, und so ist der Roman zugleich ein Loblied auf die Kunst des Gastgebens. Eine menschlichere Geschichte kann man sich kaum vorstellen – und vergisst beim Lesen völlig, dass in The Galaxy and the Ground Within gar keine Menschen vorkommen.

The Galaxy and the Ground Within – Becky Chambers © Hodder&Stoughton
The Galaxy and the Ground Within – Becky Chambers © Hodder&Stoughton

Die harten Fakten

  • Verlag: Hodder&Stoughton
  • Autorin: Becky Chambers
  • Erscheinungsdatum: 18. Februar 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN: 978-1-4736-4766-4
  • Preis: 19,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon (auch in deutscher Übersetzung), idealo

 

Light From Uncommon Stars – Ryka Aoki (Tor/St. Martin’s Press)

Eine Violinistin, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Eine Raumschiffkapitänin vom anderen Ende der Galaxie, die Donuts verkauft. Ein trans Mädchen auf der Suche nach einer Zukunft. In einer unwahrscheinlichen Wendung verknüpfen sich mitten in LA die Schicksale dieser drei Figuren, als die weltberühmte Musiklehrerin Shizuka Satomi auf die verzweifelte Ausreißerin Katrina trifft und sie unter ihre Fittiche nimmt. Noch eine letzte Seele schuldet sie der Hölle, dann ist sie frei – und die Seele ihrer neuen Schülerin strahlt besonders hell. Doch als Shizuka sich in die geheimnisvolle Donutverkäuferin Lan Tran verliebt, regt sich ihr Gewissen …

Entgegen gängiger Vergleiche mit Gaiman oder Chambers eröffnet Light From Uncommon Stars in der Gegenwartsphantastik eine eigene Kategorie, vergleichbar höchstens mit Charlie Jane Anders‘ All the Birds in the Sky, das in seiner Coming-of-Age-Geschichte ähnlich unverkrampft Science-Fiction- und Fantasyelemente vermischt. In musikalischer Sprache und mit großem Feingefühl geht Aoki der Körperlichkeit von Identitätsfragen nach und fügt Fragmente von Gewalt und Schmerz, Genuss und Glück zu außergewöhnlichen Figuren zusammen. Dabei verleiht sie Essen eine Schlüsselfunktion und zeigt in einem genialen Kunstgriff die Fluidität von personaler und kultureller Identität durch die ständig wechselnden kulinarischen Hot Spots in LA. Es ist schier unmöglich, den Roman zu lesen, ohne Heißhunger auf Donuts, Bratnudeln oder Mandarinensaft zu bekommen.

Ein besonderer Fokus liegt aber natürlich auf dem Thema der trans Identität. Die ungeschönte Darstellung des Horrors, durch den die Gesellschaft trans Frauen zwingt, gehört zu seinen größten Stärken. Die Figur der Katrina ist herausragend geschrieben, wird in ihren Facetten so fühlbar, dass sie das emotionale Zentrum der ganzen Geschichte bildet. Nichts wiegt beim Lesen so schwer wie die Hoffnung, dass sie am Ende einen sicheren Ort in der Welt findet. So treten die Höllenboten immer weiter in den Hintergrund, während die unvergesslichen Figuren Aokis sinnliche Welt zu ihrer Bühne machen. Was als symbolischer faustischer Pakt begann, endet als eine Geschichte über Menschen, die wunderschön zu erleben ist.

Light From Uncommon Stars – Ryka Aoki © Tor St. Marton’s Press
Light From Uncommon Stars – Ryka Aoki © Tor / St. Martin’s Press

Die harten Fakten

  • Verlag: Tor
  • Autorin: Ryka Aoki
  • Erscheinungsdatum: 28. September 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: Gebunden
  • Seitenanzahl: 372
  • ISBN: 978-1-2507-8906-8
  • Preis: 24,60 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Der Gewinner

A Desolation Called Peace – Arkady Martine (Tor)

Da Arkady Martine mit ihrem Debutroman A Memory Called Empire bereits 2020 gewann, war es keine große Überraschung, dass auch der Nachfolger es auf die Shortlist schaffte. In dieser Fortsetzung der Space Opera bekommt das zentrale Problem der kulturellen Identität eine neue Variable in Form eines Erstkontaktszenarios mit der feindlichen Alienmacht, die das teixcalaanische Imperium bedroht. Als die Beamtin Three Seagrass den Auftrag erhält, mit den mörderischen Fremden, die offenbar nicht davor zurückschrecken, ganze Stationen mit einem Schlag auszulöschen, in Kontakt zu treten, weiß sie sofort, dass sie hierfür die Hilfe der Botschafterin Mahit Dzmare benötigt. Diese ist inzwischen auf Lsel Station zurückgekehrt und muss feststellen, dass man ihr in der ehemaligen Heimat mit Misstrauen begegnet. Ein hervorragender Zeitpunkt also, um sich in ein weiteres halsbrecherisches Abenteuer zu stürzen und herauszufinden, wie man mit etwas kommuniziert, das zwar intelligent ist, aber keine erkennbare Sprache hat.

Wie schon der Vorgänger entwirft A Desolation Called Peace ein lebhaftes Panorama kultureller Differenzen und Hegemonien, die sich durch den drohenden Krieg nur noch verschärfen. Dabei lässt sich der Roman viel Zeit damit, das große moralische Dilemma vorzubereiten, auf das die Geschichte unweigerlich zusteuert. Dennoch macht er einem den Einstieg, wenn die Lektüre von Memory zwei Jahre und 100 Bücher zurückliegt, nicht besonders leicht. Insbesondere Mahits pikante Situation auf Lsel Station braucht einiges an Vorwissen bezüglich der sabotierten Imago-Übertragung.

Dafür werden die Unübersetzbarkeiten zwischen Three Seagrass‘ teixcalaanischer Kultur und Mahits Raumstationshintergrund auf neutralem Boden an den Rändern des Imperiums besonders greifbar, und der möglichen Romanze, die sich zwischen den beiden anbahnte, stehen ganz klassisch Stolz und Vorurteil im Weg, sodass mitunter die Kommunikation mit den Aliens die einfachere Aufgabe scheint. Eine erfreuliche Überraschung sind außerdem die kleinen Momente von bösem Weltraumhorror, die der Geschichte eine besondere Note verleihen.

Seien wir ganz ehrlich: In jedem weniger herausragenden Jahr hätte dieser Roman einen Daumen nach oben bekommen. Fünf von fünf Sternen. Aber irgendwo muss man Unterscheidungen treffen, und während A Desolation Called Peace eine der größten Fragen überhaupt verhandelt, lassen die sich überschlagenden Ereignisse nicht immer den nötigen Raum, um das, was auf dem Spiel steht, nicht nur zu wissen, sondern auch zu fühlen. Ganz anders ist es dann plötzlich, wenn Arkady Martine auf die Bühne tritt und ebenso eloquent wie bescheiden über die Hintergründe des Romans spricht. Ihre Faszination für Situationen gegenseitiger Bedrohung und deren Auswegslosigkeit, ihr Wunsch, in ihrer Fiktion eben doch eine Lösung zu finden, macht die Teixcallan-Reihe zu einem direkten Gegenentwurf zu Cixin Lius ultrapessimistischen Annahmen in Der dunkle Wald, nach denen ein Frieden zwischen intelligenten Spezies nicht möglich ist. Martines Hoffnung auf Lösbarkeit, auf Verständigung, auf Frieden gilt eben nicht nur für intergalaktische, sondern auch für internationale Konflikte. Sich hinter diesem Buch zu versammeln, steht der mit jedem Jahr internationaler werdenden World Science Fiction Society gut an.

A Desolation Called Peace – Arkady Martine (© Tor)
A Desolation Called Peace – Arkady Martine © Tor

Die harten Fakten

  • Verlag: Tor
  • Autorin: Arkady Martine
  • Erscheinungsdatum: 04. März 2021
  • Sprache: Englisch
  • Format: gebunden
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN: 978-1-5290-0162-4
  • Preis: 21,55 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon (auch in deutscher Übersetzung), idealo

 

Artikelbilder: Wie gekennzeichnet
Titelbild: 
Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Rick Davids

 

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein