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Die SPIEL ’22 hat Branche wie Fans wieder einmal zusammengebracht. Vor allem die vielen Neuheiten, die größtenteils erworben werden können, locken zahlreiche Besucher*innen aus der ganzen Welt alljährlich in die Hauptstadt des Spiels. Was hat uns dieses Jahr bewegt – welche Trends konnten wir ausmachen?

Die SPIEL – unendlich weite Hallen. Wir schreiben das Jahr 2022. Dies sind die Abenteuer der Messe Essen auf der Suche nach Spielen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat …

Nach offiziellen Angaben waren das diesmal über 1.800 Neuheiten, die es zu entdecken galt. Ganze 147.000 nationale und internationale Besucher*innen, die sich vorbildlich an die Maskenpflicht gehalten haben, kamen wieder nach Essen. Das sind zwar immer noch rund 60.000 weniger als vor Corona, aber auf einen Schlag wieder 50 % mehr als zur ersten Vor-Ort-Messe im letzten Jahr. Die Aussteller-Fläche ist sogar um 75 % gestiegen im Verhältnis zu 2021. Essen ist auf einem guten Weg – und wohin geht die Reise? Offenbar vor allem ins Weltall.

Die SPIEL greift nach den Sternen

Sage und schreibe 122 Titel und damit 10 % der auf BoardGameGeek als Essen-Neuheiten gelisteten Spiele behandeln die Themen Science-Fiction und Space Exploration. Es waren so viele spannende Projekte dabei, dass wir dieses Mal direkt zwei unserer Vorschau-Artikel (Teil 1 / Teil 2) den Themen widmen mussten. Erleben wir ein Race oder Roll for the Galaxy auf unseren Spieletischen parallel zur zweiten, privatisierten Welle der Raumfahrt (Billionaire space race)?

© Pegasus Verlag

Ein anderer möglicher Grund liegt vielleicht näher: Die großen Verlage der Brettspiel-Industrie haben erkannt, dass die Jahrhunderte der Entdeckungen von Winkeln der Erde, welche die meisten Spielenden selbst noch nicht gesehen haben, eben immer auch mit problematischen Themen wie Kolonialismus und Sklaverei belastet sind. Was einst als Garant für einen Erfolgstitel galt (Aufbau- oder Entdeckungs-Spiel in Nicht-Europa) birgt das Potenzial für Kritik. Am offenbarsten wird dies wohl an Alexander Pfisters Skymines, das uns schlicht auf den Mond statt nach Mombasa führt, dabei aber fast ein spielmechanischer Klon des Vorläufers von Alexander Pfister ist. Der Forschungsdrang der Spielendenzunft scheint ungebrochen – warum dann also nicht den Rest unseres Sonnensystems oder gar des gesamten Universums entdecken?

Dabei sind die Ansätze vielfältig: So vorsuchen wir als Starship Captains in diesem Engine-Builder mit Crew- und Droiden-Placement unseren Ruf bei drei Fraktionen zu mehren, unser Schiff auszubauen und nicht Opfer von Weltraum-Piraterie zu werden. Bei Planet B ringen wir nach Umsiedlung von der Erde als korrupte Gouverneur*innen um Präsidentschaft und Geld, während Voidfall eher die Fans klassischer 4X-Spiele erfreuen wird. Bei Spaceship Unity wird gar die eigene Wohnung zum Raumschiff und mit Twilight Inscription erhalten wir das vielleicht komplexeste Roll-and-Write-Spiel angesiedelt in der Welt des beliebten Twilight Imperium.

Zurück zur Natur

In dem Zusammenhang ist auffällig, dass der langjährige Trend der Roll-and-Writes und Konsorten abgenommen hat. Zwar gibt es noch ein paar Exemplare wie Clever 4ever, Joan of Arc – das Draw-and-Write zu Orléans – oder auch Zwergendorf, aber das ist deutlich weniger als in den Vorjahren. Während die Abreißblöcke seltener werden, kommt stattdessen der Whiteboard-Marker immer mehr zum Einsatz: nicht nur beim oben erwähnten Genre-Vertreter Twilight Inscription oder Partyspielen wie Fun Facts, bei dem wir unsere Antworten der Anwesenden auf Fragen wie „Wie viele Brettspiele besitzt du?“ in die richtige Reihenfolge bringen. Auch wirklich „große Spiele“ machen mehr und mehr von Wegwisch-Optionen Gebrauch, wie zum Beispiel eines der Messe-Highlights Astra, bei dem wir Sternenbilder entdecken. Ob Whiteboard-Marker in Kombination mit laminierten Bögen wirklich eine geringere CO2-Belastung aufweisen als Einwegpapier und Bleistift ist fraglich. Der Gedanke, wieder etwas von Einweg-Artikeln wegzukommen, ist sicherlich sinnvoll.

Flügelschlag und Cascadia haben vorgemacht, dass Brettspiel und Biologieunterricht phantastisch zusammenpassen, und so haben auch über 10 % aller Neuheiten das Thema Tiere. In gleich drei Titeln erschaffen wir biodiverse Ökosysteme: Rainforest, Ecosystem und Keystone: North America. Ebendort spielen auch Caldera Park und Redwood – im ersten Spiel gruppieren wir Tiere und erschließen ihnen Zugang zum Wasserloch, während wir im zweiten auf Fotosafari gehen, um das schönste Panorama zu finden. In Atiwa von Uwe Rosenberg befinden wir uns zwar in Ghana, aber wir agieren dort als lokale Bürgermeister*innen und helfen der örtlichen Flughund-Population, in Einklang mit unseren Früchte-Farmer*innen zu leben. Douc in Danger sticht besonders hervor, da wir hier nicht nur im Spiel die vom Aussterben bedrohten Doucs (auf Deutsch Kleideraffen) retten, sondern auch real. Auf der Messe gab es eine „pay what you want“-Tombola für die ersten Douc Kids-Ausgaben. Auch der angekündigte Kickstarter soll den Tieren zu Gute kommen.

Der mehr und mehr wachsende, allgegenwärtige Nachhaltigkeitsgedanke dringt immer mehr in die Spieleszene vor. Neben Corona und der drohenden Klimakatastrophe kommt jetzt mit der Energie-Krise ein Verstärker in die Gleichung, mit nachhaltigeren Materialien wieder lokaler zu produzieren. Einige Verlage tun dies bereits in Teilen oder komplett, was sich dann auf die Preise der Brettspiele in diesem Jahr auswirkt.

Schöne neue Spielewelt

Spiele werden auch immer teurer, weil die Erwartungshaltung an die Qualität des Spielmaterials, wie auch des Boxlayouts, von Jahr zu Jahr steigen. Fast schon ein Muss sind hierbei Elemente wie ein Spot-UV Finish, um Teile des Cover-Arts glänzen zu lassen, oder Dual-Layer-Boards, um ein Verrutschen unser Klötzchen zu verhindern. Zahlreiche Händler für Inserts wie auch Token-Upgrades in allen möglichen Materialien und Farben begegneten uns überall auf der Messe. Man kann auch direkt beim Verlag mal eben das Doppelte ausgeben, zum Beispiel für die Deluxe-Ausgabe des Druid*innen-Placement-Spiels Oak, in dem man die eigenen Figuren spezialisieren und bekleiden kann, oder die drei Upgrade-Packs (Drachen-Minis, Ressourcen und Münzen) für das Familienspiel Flamecraft.

Schönheit von Brettspielen geht aber vor allem von Miniaturen aus. Wenn diese jedoch grau-trist daherkommen, dann sind doch lieber Pappaufsteller oder auch, dieses Jahr immer häufiger gesehen, welche aus Acryl eine Alternative. Da vielen Tabletop-fernen Menschen das Anmalen lästig oder die Einstiegshürde zu hoch ist, haben sowohl Citadel als auch Vallejo über den ganzen Messebetrieb Workshops angeboten. Alternativ konnte man sich auch einfach eine Miniatur schnappen, sich an eine Bemal-Stationen begeben, drauflospinseln und das geschaffene Kunstwerk mit nach Hause nehmen.

Die neue Eiszeit

Ein weiteres Thema war erstaunlich präsent: ewiges Eis. Während Endless Winter uns in die Vergangenheit katapultiert, in der wir mit unserem kleinen, steinzeitlichen Stamm überleben und hoffentlich gedeihen, gibt es Frostpunk, bei dem wir in einer postapokalyptischen Zukunft harte Entscheidungen treffen müssen. Auch bei Revive werden wir in ein eisig-futuristisches Szenario geworfen und kümmern uns wiederum um unseren Stamm – in dem Euro-Game geht es vor allem auch darum, alte Technologien wiederzuentdecken. Dann gibt es da natürlich noch Frosthaven – den heiß ersehnten Nachfolger des derzeitigen Brettspielkönigs Gloomhaven. Neben den unterschiedlichen Insert-Lösungen, die präsentiert wurden, konnten wir die Startklassen in einem absurd detaillierten 3D-Gelände anspielen.

App mit der Digitalisierung

App-gesteuerte Dungeon Master, welche die Gegner-KI wie auch das Erzählen der Geschichte übernehmen, sind aus der Welt der Brettspiele nicht mehr wegzudenken – egal ob es sich um große Kickstarter-Projekte wie den epischen Boss-Battler Oathsworn handelt oder in Familiar Tales, dem neuen Spiel von Richard Hawthorne, der uns in Maus und Mystik schon in Mäuse verwandelt in den Dungeon geschickt hat. In seinem neuen, graphisch wieder äußerst ansprechenden Werk, spielen wir die tierischen und magischen Begleiter eines Zauberers und müssen durch die Lande fliehen und kämpfen; erschwert dadurch, dass wir uns gleichzeitig auch noch um ein Baby kümmern müssen, das im Laufe der Kapitel zu einem Mädchen heranwächst.

Aber eine App müssen wir noch gesondert betrachten: die Offizielle der Messe, namens SPIEL ’22. Auch wenn die Export-Funktion nur eine Namensliste ausgespuckt hat, und es fehlten Infos und Spielkartonbilder in der Datenbank, um wie 2019 der Event Badger ein Tindern mit den Neuheiten zu ermöglichen. So war der kleine Helfer zur Orientierung in der Tasche sehr hilfreich: schnell einen Titel oder Verlag eingegeben, wusste man sofort, wohin man musste. Die abzuarbeitenden Sternchen auf der Karte wieder löschen hätte etwas komfortabler direkt auf der Karte geschehen können. Wenn für die Zukunft weiter daran gearbeitet wird, freuen wir uns im nächsten Jahr vielleicht schon darauf, auf BoardGameGeek-Listen verzichten zu können.

Let the music play

Etwas überraschend war thematisch die teilweise sogar hörbare Präsenz von Musik. Besonders hervor sticht dabei Disc Cover. Ein DJ und eine DJane haben vor Ort abwechselnd die Messehalle beschallt. Zu Hause zwingen wir dann unsere Mitspielenden, einen Song von Slipknot oder Helene Fischer zu ertragen, und alle müssen dann kooperativ oder kompetitiv aus vier möglichen Plattencover-Arts wählen. Bei Hitster spielen wir ebenfalls einen Song an und müssen ihn zu den vorher gespielten in die richtige Jahresreihenfolge bringen. Bei Allstar Playlist müssen wir anhand thematischer Vorgaben die perfekte Playlist zusammenstellen, bei Come Together ein Festival planen und bei Pizza Beats im Takt unsere Pizza belegen.

Fazit

Es kommt ein wenig Bewegung in die Brettspielindustrie. Die Vorsicht mit historischen Themen bringt Autor*innen und Verlage dazu, neue Welten zu betreten und hier bieten Fantasy und dieses Jahr vor allem auch Science-Fiction einen hervorragenden Nährboden. Gut für uns Nerds, wenn wir künftig mit noch mehr phantastischen, magischen oder zukunftstechnologischen Spielen beglückt werden, aber auch schlecht für unseren Geldbeutel.

Auch die Steigerung bei Qualität, wie der Wechsel hin zu nachhaltigeren Materialien und die Rückkehr zu europäischen oder gar deutschen Produktionsstätten, wies für eine weitere Verteuerung des Hobbys sorgen – zugunsten der Umwelt. Doch oft genug gibt es spezielle Deluxe-Editionen, damit das Grundspiel erschwinglich bleibt. Und wem dies auch noch zu teuer ist, ist mit Brettspiel-Cafés oder Vereinen sicher gut beraten.

Wir sind jedenfalls gespannt auf die SPIEL ’23, die vom 05. bis 08.10.2023 stattfinden wird – egal ob mit oder ohne Maske.

 

Artikelbilder: © Friedhelm Merz Verlag, Bildbeschriftung
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur

Lektorat: Nina Horbelt
Fotografien: Daniel Hoffmann

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