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Mit Anthem versucht BioWare nach Mass Effect: Andromeda das Vertrauen seiner Kunden zurückzugewinnen. Seit 2014 warten wir nun auf den Lootshooter, und die Anlagen scheinen erstmal vielversprechend: Markige Kampfanzüge, dicke Wummen, ein traumhaft schöner Dschungel und fette Monster. Aber reicht das wirklich aus?

Mass Effect: Andromeda war – bei dieser Meinung bleibe ich eisern – kein schlechtes Spiel. Legen wir allerdings den Maßstab anderer großer BioWare-Titel an, musste das Spiel dennoch eine Menge gerechtfertigte Kritik einfahren. Diese Erfahrung macht das kanadische Entwicklerstudio dabei nicht zum ersten Mal. Wer große, bahnbrechende Blockbuster wie Mass Effect oder Dragon Age: Origins auf den Markt bringt, der wird ständig an ihnen gemessen werden. So war es bei dem von Fans oftmals verschrienen Dragon Age II oder teilweise auch bei Mass Effect 2. Konnten sich die Spiele bisher aber trotzdem durchsetzen, sahen Mass Effect: Andromeda viele als den Abgesang eines einstmals großen Entwicklerstudios.

Das 2014 angekündigte Anthem sahen gerade treue Fans als Rettungsanker und letzte Chance. Als Studio versuchte man an der Stelle einmal etwas Neues. Anstelle eines Rollenspiels durften wir uns auf einen Lootshooter mit Gameplay-Fokus freuen. Anthem versucht in große Fußstapfen zu treten. Warframe hat sich mittlerweile einen ordentlichen Namen gemacht, Destiny war gewissermaßen ein Meilenstein des Genres und auch seinen Nachfolger kann ich nach mehreren DLCs getrost empfehlen. Aber wie es bei großen Fußstapfen so ist: Überall lauert die Gefahr ausgetretener Wege und zu oft beschrittener Pfade.

Die Welt zum Feind

Lange vor unserer Zeit wurde die Welt, auf der Anthem spielt, durch die Gestalter erschaffen. Sie nutzten dazu die Hymne der Schöpfung, die an vielen Orten in der Welt – metaphorisch gesprochen – noch zu hören ist. Die Götter dieser Welt, deren Relikte sich noch überall finden lassen, scheinen unserer Welt aber vorzeitig den Rücken gekehrt zu haben. Sie hinterließen eine unfertige Welt, in der Naturkatastrophen und gewaltige Monster an der Tagesordnung sind.

Im Allgemeinen schien es lange Zeit für die Menschheit nicht allzu gut zu laufen, schließlich kann sie nur in gewaltigen Festungsstätten überhaupt überleben und war bis vor einigen hundert Jahren noch ein Sklavenvolk. Dann befreite General Tarsis mit ihren Javelins – so nennen sich die Kampfanzüge, die das maßgebliche Feature des Spiels sind – die Menschen. Die Javelins, die Tarsis’ Legion der Dämmerung als Waffe einsetzte, sind offenbar immer noch der neueste Stand der Waffentechnik. Wächter und Freelancer – zwei der „guten“ Fraktionen, aber auch unsere Feinde wie beispielsweise das diktatorische Dominion aus dem Norden oder Gesetzlose, kämpfen damit.

Ein vielversprechender Ansatz mit mittelmäßiger Inszenierung

Die Charaktere wie Freelancer Yarrow bleiben weitgehens gesichtslos.
Die Charaktere wie Freelancer Yarrow bleiben weitgehens gesichtslos.

Wir selbst sind einer der Freelancer, eine Art Cyber-Soldritter, der gegen Entlohnung Menschen in Not hilft. Nachdem wir es vor einigen Jahren versäumt haben, einen gewaltigen Cataclysm zu beruhigen, haben viele Menschen das Vertrauen in die Freelancer verloren. Cataclysms – um das kurz zu erklären – sind gewaltige, künstliche Stürme, die dadurch verhindert werden können, dass wir das Gestalter-Relikt in ihrem Inneren entschärfen. Wo wir grade bei „Erklärungen“ sind: Das Spiel liefert ziemlich wenige davon. Meist fällt nur ab und zu nebenbei ein Informationsbrocken an. Das Meiste landet lieblos als Text im obligatorischen Journal.

Auch die große Katastrophe – unser Tutorial – fällt eher lieblos aus. Wir haben kaum Zeit, die Welt einmal zu betrachten, wir wissen gar nicht, was die Freelancer sind, ehe wir in den Javelin steigen, wir verlieren die ersten Kameraden, ehe wir Zeit haben, sie kennenzulernen, und machen andere Freunde zu Feinden, ehe uns deren Verlust überhaupt wehtun könnte. Das ist alles furchtbar ärgerlich, denn schlecht ist diese Story nicht! Sie ist zwar weit davon entfernt, ein großes dramaturgisches Meisterwerk zu sein, aber mit einem anderen Pacing hätte man hier Wunder bewirken können. Sogar Spiele mit deutlich weniger technisch-inszenatorischem Potenzial wie World of Warcraft schaffen das mittlerweile.

Einfluss? Fehlanzeige.

An und für sich birgt der Hintergrund wenig Neues, ein bisschen Warhammer 40.000, ein bisschen Mass Effect: Andromeda, ein bisschen Horizon Zero Dawn, ein bisschen Iron Man. Das Rad lässt sich nun mal nicht jeden Tag neu erfinden, und das stört auch nicht weiter. Es ist eher die Art des Erzählens, die stört. Die solide animierten Gesichter und guten Sprecher bringen halt wenig, wenn die Dialoge zu lang und nichtssagend sind und unsere Gesprächsoptionen keinerlei Einfluss auf die Story haben. Wenn wir schon keine Wahl und keinen Einfluss haben, dann sollte zumindest die Inszenierung stimmen, und das tut sie hier leider nur bedingt.

Dass wir nahtlos zwischen Tauchen und Fliegen wechseln können, lässt uns flexibel bleiben.
Dass wir nahtlos zwischen Tauchen und Fliegen wechseln können, lässt uns flexibel bleiben.

Schlechte Technik, gutes Gameplay

Die Technik des Spiels scheint unausgereift. Die langen Ladebildschirme auf einer SSD, selbst wenn wir nur die Schmiede – ein glorifiziertes Inventar – betreten wollen, nerven. Jede Mission, jeden Kartenwechsel werden wir von den immergleichen, langweiligen, deutlich zu langen Ladebildschirmen gequält. Das hätte man noch rechtfertigen können, würde das Spiel ansonsten flüssig laufen, aber ständige FPS-Einbrüche oder Abstürze sprechen da eine andere Sprache. Klar, das Spiel sieht gut aus, aber nicht so gut, dass es auf einem soliden Gamingrechner bei mittleren Einstellungen plötzliche Frameeinbrüche dieser Art rechtfertigen würde.

Die Effekte in Anthem sind sehenswert, aber für die Performance Gift.
Die Effekte in Anthem sind sehenswert, aber für die Performance Gift.

Seine großen Stärken hat das Spiel im Gameplay. Und deren Potenzial ist so gewaltig, dass sogar ein Storyfanatiker wie ich beinahe über die Unzulänglichkeiten der Inszenierung hätte hinwegsehen können. Die Javelins zu steuern, macht schlichtweg Laune. Die Flugmechanismen funktionieren hervorragend. Ich muss immer die Temperatur meiner Düsen im Auge halten, durch Sturzflüge kann ich diese abkühlen, alternativ kann ich auch in tiefes Wasser eintauchen und daraus übergangslos wieder in den Düsenflug übergehen. Im Kampf bleiben wir mobil, denn wir fliegen, schweben und springen durch die Gegend, ohne dass das Spiel dabei unfair oder unzugänglich wird. Die Waffen, gerade die Spezialwaffen, haben coole und unterscheidbare Effekte, die ordentlich Bums haben.

Zu wenig von allem

Jedes der vier Modelle steuert sich etwas anders. Der Storm ist hier vermutlich der Hervorstechendste. Wir dürfen mit ihm über dem Geschehen schweben und abgesehen von unseren normalen Waffen mächtige Elementarkräfte zu Combos verketten, die gewaltigen Schaden anrichten. Dass wir außerdem einen starken, regenerativen Schild haben, sorgt dafür, dass wir nicht in die altbekannte Rolle der Glaskanone rutschen. Der Interceptor und der Colossus sind eher körperlich. Anstatt ätherisch über dem Geschehen zu schweben, fliegen wir mit Schubdüsen durch die Welt, aber während ersterer ein schneller, agiler Nahkämpfer ist, gibt sich letzterer als interessante Mischung aus Tank und Ein-Mann-Artillerie. Der Ranger stellt hierbei den Offensiv-Defensiv-Allrounder dar. Ein Manko, das sowohl Waffen als auch Javelins angeht: Es hätten mehr sein dürfen.

Und das zieht sich durch das gesamte Spiel. Nach knapp 15 Stunden ist die Hauptkampagne vorbei: Es hätten mehr sein dürfen. Ein Paar weitestgehend repetitive Missionen gibt’s immerhin noch zu erledigen: Es hätten mehr sein dürfen. Aber hey, fürs Endgame gibt es immerhin drei verschiedene Dungeons: Es hätten mehr sein dürfen. Wir verdienen trotz horrender Ingame-Shop-Preise nur wenige Goldmünzen pro Einsatz, um uns zum Kauf der Echtgeld-Währung zu verleiten: Es hätten mehr sein dürfen. Es gibt kaum Ausrüstungsslots mit Relevanz: Es hätten mehr sein dürfen. Das Spiel leidet unter unnötigen Frameeinbrüchen: Es hätten weniger sein dürfen. Der Umfang und die Gesamtaufmachung legen ein unfertiges Spiel nahe, und das ist wirklich, wirklich enttäuschend.

Die harten Fakten:

  • Entwicklerstudio: BioWare
  • Publisher: Electronic Arts
  • Plattform: PC, Playstation 4, Xbox One
  • Mindestanforderungen: Windows 10, Intel Core i5 3570 oder AMD FX-6350, 8 GB RAM, NVIDIA GTX 760, AMD Radeon 7970/R9280X
  • Genre: Action-Rollenspiel
  • Releasedatum: 22. Februar 2019
  • Spielstunden: 20 Stunden
  • Spieleranzahl: Bis zu vier
  • Altersfreigabe: USK 16
  • Preis: 59,99 EUR
  • Bezugsquelle: Amazon

 

Fazit

Trotz aller Fehler, bleibt Anthem ein teilweise atemberaubend schönes Spiel.

Diese Rezension liest sich zugegebenermaßen vernichtend, deshalb möchte ich einen fairen Abschluss finden. Ist das Spiel wirklich schlecht? Kurzum: Nein. Anthem ist kein schlechtes Spiel. Anthem macht sogar gewaltig Spaß, wenn ich mit einem Colossus inmitten einer Gegnerhorde lande und meine Gatling-Gun warmlaufen lasse oder mit dem flinken Ranger durch feindliches Flakfeuer manövriere. Dann fühle ich mich kurze Zeit, als wäre Iron Man in James Camerons Avatar gelandet und ich dürfte am Steuer sitzen. Aber die vielen, vielen kleinen und mittleren Unzulänglichkeiten des Spiels hinterlassen einen schalen Beigeschmack.

Keiner dieser Fehler wäre für sich genommen dramatisch, aber in der Summe fühle ich mich als Fan und im Endeffekt auch Kunde um ein potenziell grandioses Spiel gebracht. Ich kann daher keine eindeutige Kaufempfehlung aussprechen. Wer an Lootshootern und mobilem Fliegen Spaß hat, wer etwas Geduld aufbringen kann, bis das Spiel beim Kunden fertig „gereift“ ist, für den ist Anthem etwas. Denn, ich werde nicht müde das zu betonen, mit besserer Performance und mehr Inhalt, gerade im Endgame, wäre Anthem ein großartiger MMO-Shooter. Die Fehler in Story und Inszenierung hingegen lassen nur die vage Hoffnung zu, dass BioWare ein großes Story-DLC nachreicht, das dem Studio gerecht wird.

mit Tendenz nach unten

 

Artikelbild: Electronic Arts, Screenshots: BioWare, Bearbeitet von Verena Bach
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

4 Kommentare

  1. Ich würde gerne widersprechen. Aber geht einfach nicht. Hab den spaß meines lebens mit einem Spiel, das maximal ne 4+ verdient hat. Das stimmt mich Glücklich und traurig zugleich. Ich hoffe, sie bekommen das ganze noch gedreht. Was mich zugegeben etwas… ansickt ist dieses „Games as a Service“ geschwafel, dass im Kern ne gute sache ist, aber bisher nie darüber hinausging, die Spieler zu Beta testern zu machen, die nen fertig releasetes Spiel zum Vollpreis kaufen müssen…

    • PS: Ich hätte es nicht gespielt, hätte ich nicht origin access premium, da ist das verschmerzbar wenn 100 im Jahr bezahlt und dafür spiele im Wert von bisher 300 Euro gezockt hat. Hätte ich anthem so gekaut hätte ich mich geärgert.

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