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Ist das Horror-Rollenspiel Mythos World mehr als die schaurige Version von Dungeon World? Teilzeithelden hat das Rollenspielsystem, dessen deutsche Version bei System Matters erscheint, für einen Ersteindruck unter die Lupe genommen – und dabei mehr als nur glitschige Tentakel und Horror-Klischees entdeckt.

Mythos World weist bereits mit seinem Titel darauf hin und offenbar mit der ersten Kapitelüberschrift, dass es sich um ein Horror-Rollenspiel handelt. Wie auch beim Brettspiel Mythos Tales dient das Wort „Mythos“ als Chiffre für die Verortung im Cthulhu-Mythos. Vom Schriftsteller H. P. Lovecraft (1890-1937) noch bruchstückhaft erdacht und von zahlreichen weiteren Autor*innen weitergeführt, steht dieser Mythos für die Konfrontation fragiler Menschen mit einem erdrückend machtvollen Grauen, das zumeist kosmischen und damit zutiefst fremdartigen Ursprungs ist.

Auch wenn sich daraus in den meisten Fällen eine Unbezwingbarkeit der Gegenspieler ergibt, gibt es viele Rollenspielsysteme, in denen die Spielfiguren sich diesen Schrecken stellen und dabei zumindest kleine Erfolge erreichen können. Call of Cthulhu, in seiner deutschen Ausgabe Cthulhu genannt, ist das älteste dieser Systeme, aber in jüngerer Zeit erfreuen sich Ableger oder Alternativen wie Achtung! Cthulhu, FHTAGN oder Apocthulhu wachsender Beliebtheit. An dieser Stelle reiht sich nun Mythos World ein, das auf den Powered-by-the-Apocalypse-Regeln (PbtA) basiert und in seiner deutschen Ausgabe von System Matters verlegt wird.

Die Spielwelt

Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, den Cthulhu-Mythos mit den 1920er-Jahren zu assoziieren. Zwar weist Mythos World darauf hin, dass auch andere Dekaden für das Spiel verwendet werden können, nimmt als Normalfall aber die sogenannten Wilden oder Goldenen Zwanziger an.

Ausdrücklich wird jedoch darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass Mythos World eine exakte historische Simulation sein will. Wie auch bei So tief die schwere See dient der historische Kontext nur als frei gestaltbare Kulisse. Diverse und gleichberechtigte Spielfiguren, egal welcher Identität, können so unausgegrenzt vor dem Hintergrund der 1920er-Jahre, in denen Rassismus und Sexismus weiter als heutzutage verbreitet waren und deutlich schärfer ausgelebt wurden, agieren.

In diesem Zusammenhang wird auch die Person H. P. Lovecraft thematisiert. Dem Spannungsverhältnis, das ein Schriftsteller, der sich wiederholt rassistisch und sexistisch äußerte und dessen fremdenfeindliches Weltbild sich in seinen Geschichten widerspiegelt, der Ideengeber des Cthulhu-Mythos war und somit auch Mythos World beeinflusst, werden zwei Seiten gewidmet.

Wer sich im Cthulhu-Mythos auskennt, trifft auf alte Bekannte. © System Matters

Doch wie bereits erwähnt: Mythos World will kein Horror-Rollenspiel in historisch exakter Simulation sein, sondern regt dazu an, eigene Ideen und Vorstellungen einzubauen. Dass es in diesem Zusammenhang genrebedingt auch an die Grenzen gängiger Moralvorstellungen und Gewaltdarstellungen kommen kann, wird deswegen natürlich nicht ausgeschlossen. Dementsprechend werden aber auch Sicherheitstechniken beschrieben, die dazu dienen sollen, dass der Horror am Spieltisch keine negativen Auswirkungen auf die Spieler*innen hat.

Insgesamt ist die Beschreibung der 1920er-Jahre nützlich, bleibt aber bei Allgemeinplätzen. Ebenso belässt es die Beschreibung essentieller Mythos-Wesen beim Grundsätzlichen. Dies alles geschieht sehr nüchtern und wirkt wenig atmosphärisch. Etwas mehr Leben kommt erst durch die beispielhaften Settings am Ende des Buchs in die Spielwelt. Aber dies ist vermutlich auch so gewollt, wenn man die zuvor beschriebene, an wenigen Prinzipien ausgerichtete, interaktiv gestaltbare Spielwelt bedenkt.

Die Regeln

Wer schon einmal ein PbtA-System wie Dungeon World oder So tief die schwere See gespielt hat, wird sich leicht in Mythos World zurechtfinden. Es gibt eine Reihe von Grundspielzügen, die mit je zwei sechsseitigen Würfeln abgehandelt werden. Hinzu kommen Spielzüge für die Berufe, die von den Spieler*innen bei der Figurenerschaffung gewählt werden können. Das Ergebnis wird um einen Attributswert modifiziert und dadurch das Ergebnis ermittelt.

Wer den Spielzug „Nach etwas suchen“ einsetzt, wirft also zwei sechsseitige Würfel und modifiziert das Ergebnis um den Intelligenz-Wert der Spielfigur. Diese Werte bewegen sich in der Regel von -2 bis +2. Ist das Ergebnis insgesamt höher als 10, dann wird etwas Nützliches gefunden, bei einem Ergebnis von 7-9 wird zwar ebenfalls ein Gegenstand oder Hinweis gefunden, aber es geschieht auch etwas Ungeplantes. Ist das Ergebnis 6 oder niedriger, kann die Spielleitung frei entscheiden, was geschieht, wobei es für jeden Spielzug Vorschläge gibt.

Die Besonderheit ist, wie auch bei anderen PbtA-Systemen, dass die Spielleitung nicht selbst würfelt, sondern erzählerisch auf die Würfelergebnisse der Spieler*innen reagiert. So entwickelt sich die Geschichte mitunter sehr unvorhergesehen, was von der Spielleitung ein hohes Maß an Improvisation erfordert. Mythos World schlägt deswegen vor, bei der Spielvorbereitung lediglich grundlegende Gefahren festzulegen, diese aber auch konsequent einzusetzen. Wenn die Gefahr also ein Kult ist, den die Bergleute einer kleinen Minenstadt zelebrieren, sollte dies auch immer wieder präsentiert werden, wenn auch in schrittweiser Enthüllung und Eskalation.

Ein speziell für Mythos World erwähnenswerter Punkt ist, dass ein Fehlschlag beim Grundspielzug „Der Angst stellen“ eine Geistesstörung für die Spielfigur zur Folge haben kann. Dies ist auch in anderen Horror-Rollenspielen üblich, ungewöhnlich ist jedoch, dass ein einzelner Fehlschlag dies auslösen kann.

Dementsprechend wird im Buch darauf hingewiesen, dass die Spielleitung in diesem Punkt besonderes Fingerspitzengefühl walten lassen soll. Schließlich hat dies nicht nur immense Auswirkungen auf die Entwicklung der Spielfigur, sondern kann auch als Trivialisierung von Geistesstörungen gesehen werden. Mythos World widmet aber auch diesem Punkt einen eigenen Abschnitt, weist auf die Problematik des Themas hin und gibt Tipps zur Darstellung am Spieltisch.

Charaktererschaffung

Dass es für jeden Beruf eigene Spielzüge gibt, wurde bereits erwähnt. Auch wenn die aufgelisteten Berufe sehr bodenständig sind, finden sich in diesen Berufsspielzügen sehr viele fantasiereiche Einfälle. Antiquar*innen können ihr Geschäft nach nützlichen Dingen durchstöbern, Archäolog*innen im passenden Moment durch ergänzendes Wissen glänzen, Sportler*innen durch ihre ruhmreiche Vergangenheit imponieren und vieles mehr.

17 Berufe stehen zur Auswahl. © System Matters

In diesem Punkt sind die insgesamt siebzehn Berufe allesamt sehr interessant und einzigartig gestaltet. Sie alle bieten spannende Entwicklungsmöglichkeiten und regen bereits durch wenige Stichpunkte die Fantasie an.

Fantasie ist ein gutes Stichwort. Wie bei PbtA-Systemen üblich, ist die regelseitige Charaktererschaffung mit der Wahl des Berufes und dem Verteilen der fünf Attributswerte schon so gut wie erledigt. Der Rest ist die individuelle Ausgestaltung der Spielfigur und das Knüpfen von Beziehungen mit den anderen Spielfiguren. Wen verbindet eine gemeinsame, vielleicht sogar dunkle, Vergangenheit? Wer steht sich, vielleicht insgeheim, rivalisierend gegenüber? Bei der Erschaffung der Spielfiguren kann das kommende Abenteuer also bereits beeinflusst werden.

Ebenfalls erlauben die PbtA-Systeme durch ihr schlankes Regelwerk ein zügiges Losspielen. Auch Mythos World kann für spontane One-Shots verwendet werden, es entsteht jedoch der Eindruck, dass das System erst mit einigen Spielabenden sein volles Potential entfaltet, wenn die fortgeschrittenen Berufsspielzüge zur Geltung kommen.

Erscheinungsbild

Von außen betrachtet, könnte Mythos World auch die Luxus-Edition eines anderen Rollenspiels sein. Der silber-schwarz geprägte Einband spricht nicht nur das Auge an, sondern liegt auch gut in der Hand. Der vollfarbige Inhalt steht dem in nichts nach und ist ansprechend gestaltet. Die teils wie nachlinierte und nachkolorierte alte Fotografien aussehenden Illustrationen mögen nicht jeden Geschmack treffen, passen aber sehr gut zu den tatsächlichen Schwarzweißfotografien aus den 1920er-Jahren, die den Band bebildern.

Die harten Fakten:

  • Verlag: System Matters
  • Autor*in: Russell Brown
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: Deutsch
  • Format: Hardcover / PDF
  • Seitenanzahl: 348
  • ISBN: 978-3-96378-067-7
  • Preis: 39,95 EUR (Hardcover) / 24,99 EUR (PDF)
  • Bezugsquelle: Fachhandel, System Matters

 

Fazit

Mythos World ist ein Horror-Rollenspiel mit ergänzenden Erzählspiel-Elementen, das bereits beim Lesen die Fantasie anregt. Die Spielwelt an sich wirkt zwar nur wenig bedrohlich und schauderhaft, aber die Ideen, wie und mit welchen Spielzügen die Spielfiguren die Geschichte beeinflussen können, sind durchweg spannend gestaltet.

Trotz des schlanken Regelwerks ist Mythos World nichts für Einsteiger*innen. Zumindest die Spielleitung sollte über Rollenspielerfahrung verfügen. Dies liegt zum einen an der ständigen Notwendigkeit zu improvisieren, zum anderen aber auch an den vielen verschiedenen Faktoren, die vorab in der Planung zu berücksichtigen sind.

Wie grausam der Schrecken sein darf, wie klischeehaft der Horror ist und wie rückständig die Spielwelt, ist vorab zu klären. Es ist Mythos World hoch anzurechnen, dass es diese Diskussionen anregt und zu den jeweiligen Ergebnissen passende Antworten parat hat. Eine solche Form der Spielvorbereitung verlangt jedoch auch einiges an Diskurs- und Kompromissbereitschaft von der Spielrunde.

Insgesamt ist Mythos World nicht nur für PbtA-Fans interessant, die kosmisches Grauen an den Spieltisch bringen wollen, sondern auch für erfahrene Horror-Rollenspieler*innen, die sich schlanke Regeln und Erzählspiel-Elemente wünschen. Für den moderaten Preis erhält man einen umfassenden Band, der nicht nur schön gestaltet ist, sondern auch Stoff für unzählige Spielstunden beinhaltet.

  • Vielseitiges Horror-Rollenspiel
  • Leicht zugängliche Regeln
  • Fantasievolle Möglichkeiten der Charakterentwicklung
 

  • Notwendigkeit zur Improvisation trotz intensiver Planung

Artikelbild: System Matters
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Susanne Stark
Dieses Produkt wurde privat finanziert.

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