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Schüsse und Schreie hallen über die Nemesis, gefolgt von Geräuschen, die nicht zugeordnet werden können. Danach herrscht plötzlich wieder Stille auf dem Schiff. Wie kann das, was uns angreift, Wunden in unseren Geistern und Körpern hinterlassen, wenn es doch gar nicht existiert? Und wie zum Teufel kann es bekämpft werden?

Der Captain ist verrückt geworden! Alle sind verrückt geworden. Eben noch gingen wir in ungetrübter Freude über das Schiff, checkten die Funktionen und machten uns auf den Weg zum Cockpit, als auf einmal dieses Etwas auftauchte, einfach aus dem Nichts. Ich kann gar nicht beschreiben, was ich gesehen habe. Nichts auf der Welt kann so existieren. Wir schossen und trafen das Mistvieh mitten ins Gesicht doch anstatt eines für eine Untersuchung geeigneten Kadavers lag dort einfach … nichts. Kein Blut, keine Leiche, einfach nichts! Wir gingen weiter, der Captain wirkte fahrig. Einen Raum weiter trafen wir den Mechaniker, der immer wieder sagte, dass die Viecher durch die geschlossenen Türen kommen. Er sah noch nie so angsterfüllt aus.

Dann, wir waren im Kryonatorium angekommen, griff der Captain ihn unvermittelt an, brach ihm den Arm und schlug wie im Wahn auf etwas ein, das nur er sah. Jetzt war nur noch ein Gedanke wichtig: Flucht! Nichts wir rein ins Cockpit, so schnell mich meine Beine trugen, die Tür verrammeln, Schreie und Schüsse hinter mir zurücklassen und in den Bordcomputer einloggen. Nur ein Scan des gesamten Schiffs konnte Aufschluss über die Geschehnisse hier an Bord geben. Aber was war das? Keine Aufzeichnungen der KI? Wie kann das sein, bei diesem Krieg hier auf dem Schiff? Trotz mehrmaliger Wiederholung des Scans ergab er nichts. Keine fremdartigen Wesen, keine Aliens, nur wir. Dann ein Geräusch an meinem Ohr, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es kann nicht hier drin sein, die Türen waren geschlossen und ich hätte es auf dem Bildschirm sehen müssen. Und doch ist es hier, direkt hinter mir. Oder bin ich jetzt auch verrückt?

Nemesis Hirngespenster ist nach Karnomorphs die zweite deutsche Erweiterung des semi-kooperativen Weltraumhorrorspiels Nemesis.

Die bisherigen Aliens, Xenos oder Karnomorphs genannt, werden ersetzt durch die Hirngespenster. Diese haben zwar eine physische Form auf dem Spielfeld, existieren in Wirklichkeit aber nur in unseren Köpfen und sind bis auf wenige Ausnahmen nicht wirklich „anwesend“. Sie spielen mit unseren Ängsten, bewegen sich durch geschlossene Türen und hinterlassen keine Kadaver, wenn wir sie töten. Langsam aber sicher werden wir immer wahnsinniger, bis wir nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Selbstverletzungen sind ebenso an der Tagesordnung wie Halluzinationen oder Angriffe auf Teammitglieder.

Schaffen wir es, die letzten Reste geistiger Gesundheit zu bewahren und zu entkommen? Oder wird am Ende die KI das Säuberungs-Programm starten, um das Schiff zu retten?           

Die Erweiterung des semi-kooperativen Spiels Nemesis.

Spielablauf

Die Regeln dieser Erweiterung gleichen denen des Grundspiels, abgesehen von ein paar Änderungen, sowohl im Aufbau als auch in den Mechaniken.

Die neuen Mechaniken des Wahnsinns machen das Spiel spannender.

Beispielsweise ist nicht alles, was sich an Gegnern auf diesem Schiff bewegt, wirklich da. Der Großteil findet in den Köpfen der Charaktere statt, Halluzinationen sind allgegenwärtig und bilden den Kern des Spiels. Anstelle von Larven und Schleim gibt es nun die Geisteszustandskarten, welche auf den Charakterbögen platziert werden und den Grad des Wahnsinns anzeigen. Die Aliens, die im Laufe der Partie ins Spiel kommen, orientieren sich an diesen Karten und dem darauf angezeigten Wahnsinnsgrad.

Sind wir noch relativ bei Sinnen, sind die Gegner weniger gefährlich, als wenn wir am Rand des Wahnsinns stehen. Panikkarten und Ereignisse können unseren Geisteszustand allerdings beeinflussen und zu unvorhersehbaren Problemen führen. Beispielsweise können Panikattacken zu Angriffen auf sich selbst oder andere Charaktere führen und machen das Spiel unberechenbar.

Da es sich bei den Hirngespenstern um eine komplett neue und eigenständige Rasse handelt, haben die verschiedenen Stadien dieser Wesen natürlich auch andere Namen und verhalten sich anders als die bisherigen Xenos. Sie sind gefährlicher und tauchen immer wieder auf, ohne dass wir sie je wirklich töten können.          

An die Stelle der Kriecher treten beispielsweise die Schleicher. Jäger heißen nun Flüsterer und an Stelle der Brutbestie tritt der Verfolger. Diese semi-liebenswerten Kreaturen haben zudem noch eine besondere Gabe: Sie verschwinden, sobald sie außerhalb unserer Sichtweite sind und geistern als Alpträume in unseren Köpfen umher. Und auch als Äquivalent zur Königin hat sich Kwapiński eine weitere „schöne“ Sache ausgedacht: den unsterblichen Sinnesräuber. Im Gegensatz zu allen anderen Aliens ist dieser Gegner körperlich anwesend und zudem verdammt gefährlich. Er kann durch nichts auf dem Schiff getötet oder verletzt werden. Selbst die Nutzung der Luftschleusensteuerung oder Feuer überlebt das Biest ohne einen Kratzer. Der einzige Weg, ihn zu vernichten, liegt in der Zerstörung seiner Verstecke. Und diese müssen wir erstmal finden, denn sie sind irgendwo auf dem Schiff willkürlich verteilt.

Wenn alle Verstecke zerstört sind, stirbt auch der Sinnesräuber, vorher nicht.
Wenn alle Verstecke zerstört sind, stirbt auch der Sinnesräuber, vorher nicht.

Diese Neuerungen mögen zwar durchaus den Anschein erwecken, wir hätten mehr Kontrolle über die Geschehnisse und könnten gezielter Gefahren ausweichen als zuvor, doch der Schein trügt. Ja, wir wissen im Vorfeld immer, was für ein Gegner bei welchem Teammitglied potenziell erscheinen kann, aber dieses Wissen kann uns nicht vor Angriffen oder dem Sinnesräuber schützen oder Züge planbarer machen. Denn: Waren wir eben noch bei guter geistiger Gesundheit, kann ein Ereignis, ein falscher Schritt oder der Zug eines anderen Charakters uns an den Rand des Wahnsinns treiben und uns Dinge tun und sehen lassen, die wir nie hätten vorhersehen und auf die wir nicht angemessen reagieren können.

Ausstattung

Die komplette Ausstattung von Hirngespenster ist – wie von Nemesis nicht anders zu erwarten – hochwertig und besticht mit wunderschönen und detailreichen Artworks.

Neue Ereignis-, Kampf- und Übersichtskarten lösen die bisherigen ab und für die Panik-Mechanik kommen ganz neue Karten hinzu.

Die neuen Karten ersetzen die des Grundspiels.
Die neuen Karten ersetzen die des Grundspiels.

Die Miniaturen sind ebenfalls hochwertig und detailliert ausgearbeitet und geben dem Schrecken ein Gesicht.

Die Hirngespenster existieren nur in unseren Köpfen, oder etwa nicht?

Des Weiteren gibt es zusätzliche Marker, welche die des Grundspiels ersetzen oder dessen Vorrat stellenweise erweitern. Zum Beispiel kommen nun Panikmarker in den Xeno-Beutel, um darzustellen, welcher Charakter wann willkürlich in Panik verfallen könnte.

Die neuen Marker sind gewohnt hochwertig und ersetzen die des Grundspiels.

Das Regelheft

Das Regelheft ist gut strukturiert und gibt leicht verständlich alle Änderungen im Aufbau und den Regeln wieder. Nach einer kurzen Einführung, die erneut für die richtige Atmosphäre und Stimmung am Tisch sorgt, werden erst die Neuerungen aufgezeigt und im Anschluss alle Regeländerungen erklärt. Durch Beispiele und Bilder werden kniffligere Passagen anschaulich nähergebracht.

Auf der letzten Seite gibt es zudem eine kurze Regelzusammenfassung. Auf dieser werden zusätzlich ein paar Charakterziele aus dem Grundspiel auf diese Erweiterung zugeschnitten erklärt.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Awaken Realms, Asmodee
  • Autor*in(nen): Adam Kwapiński
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: ab 60 Minuten
  • Spieler*innen-Anzahl: (1) (2) 3 4 5
  • Alter: 14+
  • Preis: ca. 60 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Fazit

Nemesis Hirngespenster ist eine hervorragende Erweiterung, welche dem Grundspiel in nichts nachsteht. Von Beginn an ist es spannend, die neuen Mechaniken bringen frischen Wind hinein und steigern den Wiederspielwert um ein Vielfaches. Das Material ist wie gewohnt hochwertig und die Miniaturen hervorragend detailreich ausgearbeitet. Es trägt wieder einen Großteil zur Atmosphäre bei und sichert weiterhin unglaubliche Erlebnisse auf diesem Raumschiff.

Das Wissen, dass die Aliens dieses Mal nur in unseren Köpfen existieren und dennoch sehr gefährlich sind, bringt eine andere Art von Horror mit ein. Im Vergleich zu den Xenos aus dem Grundspiel sind die Hirngespenster in der Erscheinungsweise zwar vorhersehbarer, allerdings auch gefährlicher, weil wir sie nicht töten und aus dem Spiel entfernen können. Sie verschwinden lediglich aus unserer Sicht und tauchen an anderer Stelle wieder auf. Eine gewisse Portion Unbehagen schwingt beim Spielen genauso mit, wie die makabre Vorfreude auf weitere gefährliche Ereignisse, die wir noch nicht kennen. Warum nicht mal eine Panikattacke provozieren und schauen, was passiert?

Die Mechaniken sind auf das Nicht-Existente und das Spiel mit dem Wahnsinn sehr gut abgestimmt und lassen uns immer wieder in Ehrfurcht zurück, wie gut so etwas auf einem Spielbrett darzustellen ist.

Im Gegensatz zu Karnomorphs, wo Teamarbeit das Stichwort und gepflegter Modus Operandi war, um überhaupt gegen die Übermacht an Kreaturen anzukommen, schwingt in Hirngespenster immer wieder das Misstrauen gegenüber den Mitmenschen sowie der Gedanke mit, allein viel besser dran zu sein.

Diese Erweiterung ist in vielen Punkten ganz anders als die vorherige und bringt dennoch oder genau deswegen sehr viel Freude und Spielspaß.

Sie spielt mit unseren Nerven, bringt Neues mit Altem zusammen, ohne dass es eine große Vorbereitung benötigt. Die Regeländerungen sind einfacher zu verinnerlichen als in Karnomorphs, dabei verliert das Spiel aber nicht an Spannung, Gefährlichkeit oder Schwierigkeit. Im Gegenteil, es wiegt einen in Sicherheit und eskaliert dann unvorhergesehen.

Jede Runde schreibt eine eigene Geschichte der Angst und Verzweiflung und wird so dem Gesamtwerk mehr als gerecht. Sie stellt uns vor ganz andere Herausforderungen und ist in unseren Augen ein Muss für jeden Nemesis-Fan.

Doch eine Sache hat sich leider auch hier nicht geändert: Es ist viel Geld für wenig Material.

Aber trotzdem gibt es von uns fünf von fünf Alieneiern, die wir uns definitiv nicht einbilden. Oder etwa doch?

Diese drei Boxen sind bisher auf Deutsch auf dem Markt. Welches ist euer Liebling?

 

  • Abwechslungsreiche, neue Mechaniken
  • Ziele wirken erfüllbarer
  • Neue Aliens mit anderem Verhalten
 

  • Hoher Preis für wenig Material

 

Artikelbilder: © Awaken Realms, © Asmodee
Layout und Satz: Verena Bach
Lektorat: Giovanna Pirillo
Fotografien: Mareike Rathmann
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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