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Chinesische Generäl*innen versammeln sich, um gegen mongolische Streitkräfte anzutreten. In einem spannenden Worker-Placement-Spiel mit historisch angehauchtem Setting gilt es, viele wichtige Entscheidungen zu treffen und sich dabei als ehrenhaft vor dem Kaiser zu beweisen. Wer wird der*die größte General*in von allen in The Great Wall?

Eines der monumentalsten Bauwerke der Welt ist unter vielen Namen bekannt: Chángchéng, die lange Mauer, die Chinesische Mauer oder The Great Wall. Über Jahrhunderte hinweg erbauten die chinesischen Dynastien tausende Kilometer steinerner Grenzsicherungen. Im Brettspiel The Great Wall von Awaken Realms wurde die Geschichte der Mauer leicht verändert: Man machte sich das Bild des Bollwerks gegen die mongolischen Horden zunutze, um ein an die Historie angelegtes semi-kooperatives Worker-Placement-Spiel herauszubringen.

The Great Wall ist grundsätzlich für drei bis vier Spieler*innen gedacht, kann aber auch zu zweit oder solo gespielt werden. Mit einer Erweiterung können fünf Personen am Spiel teilnehmen.

Spielablauf

In The Great Wall übernehmen die Spielenden die Rolle von verschiedenen Generäl*innen, die über Jahre hinweg China gegen die anstürmenden mongolischen Truppen verteidigen. Wer die meiste Ehre am Ende des Spiels hat, gewinnt. Jedes Jahr wird in die vier Jahreszeiten eingeteilt, wobei das Spiel im Herbst des ersten Jahres beginnt. Warum, findet man später heraus. Vor dem Spielen muss The Great Wall erst einmal aufgebaut werden.

Aufbau

Nachdem der große und beeindruckende Spielplan auf dem Tisch platziert wurde, legt man die Ressourcen (Holz, Stein, Gold und Chi) und Marker (Wundmarker, Schandmarker und Ehrenplättchen) in greifbare Nähe. Die vier Ressourcen werden später für Einheiten, Einkäufe, Bauvorhaben und Sonderfähigkeiten genutzt. Mit den Wundmarkern markiert man angeschlagene Horden. Pro Spieler*in gibt es zehn Schandmarker, die zum einen die Ehre (Siegpunkte) senken, wenn man sie zum Ende des Spiels noch hat, und zum anderen das Spiel beenden, wenn der Vorrat aufgebraucht ist.

Es wird ein Zeitmarker platziert, der nach jedem Winter auf der Zeitleiste vorrückt – die Horden werden jedes Jahr zahlreicher und brutaler. Außerdem werden Artefakte ausgelegt, die zusätzliche Möglichkeiten zum Erhalt von Ehre bieten. Nachdem man einen Clan gewählt und sich den dazugehörigen Sichtschirm, die Befehlskarten und die eigenen Meeple (Schreiber, Lanzenträger, Bogenschützen, Reiter) genommen hat, erhält man einen Ehrenmarker (für die Siegpunkte) und den enorm wichtigen Teemarker. Die Schreiber sind die Figuren, mit denen man Orte aktiviert und der Teemarker legt die Handlungsreihenfolge im Spiel fest – die Wichtigkeit dieser „Teereihenfolge“ ist nicht zu unterschätzen.

Mauerabschnitte und Barrikaden werden aufgestellt, damit man sie schnell zur Hand hat, wenn die Horden anstürmen. Apropos Horden: Für sie wird ein Nachziehstapel erstellt und die erste Angriffswelle rollt bereits, sodass von den drei Hordenfeldern jedes Mauerabschnittes bereits die erste Reihe belegt wurde. Zum Glück darf man in der ersten Runde die leicht zerstörbaren Barrikaden errichten, um den ersten Ansturm zu überleben. Während Mauerteile nicht wieder eingerissen werden können, sind Barrikaden nach jedem Winter unter der Last der Angriffe zerbrochen und müssen erneut gebaut werden.

Die Taktikkarten werden gemischt und ebenfalls auf dem Spielplan platziert, dann können alle Personen zwei Generäl*innen und Berater*innen ziehen. Taktikkarten geben besondere Boni wie Ressourcen oder Ehre und werden meist nach dem Sieg über eine der Horden gespielt. Generäl*innen haben besondere Fähigkeiten, die allesamt in der richtigen Kombination nahezu unfair sind – in der Gesamtheit gleicht sich das dann aus. So generiert Yu Yunwen Unmengen an Chi, wenn er Einheiten rekrutiert, und Yang Miaozhen kann durch rekrutierte Pferde sehr günstig eine ganze Armee von Lanzenträgern auf die Beine stellen.

Das Spiel spielen

Jede Runde dauert ein Jahr mit seinen vier Jahreszeiten. Im Frühling rücken neue Horden auf die Mauer zu, im Sommer werden erste Vorbereitungen für den Kampf getroffen. Die Haupthandlungsphase ist der Herbst. In dieser Jahreszeit platziert man die eigenen Schreiber, generiert Ressourcen und setzt Aufseher ein. Auch die Streitkräfte werden im Herbst mobilisiert und die Horden so gut es geht ausgedünnt, ehe sie im Winter gegen die Verteidigungsanlagen branden, die bis dahin hoffentlich errichtet werden konnten.

Die erste Runde beginnt direkt im Herbst: Die Spielenden wählen verdeckt einen ihrer Befehle aus. Diese Befehle sind für alle gleich und haben Synergie-Effekte. So kann man mit dem Befehl „Arbeitet härter!“ alle Schreiber auf beliebige Orte stellen und erhält für jede Angriffsbefehl-Karte, die andere Spieler*innen auslegen, eine erweiterte Aktivierung an einem Ort. Es gibt zwei Arten von Orten: reguläre und besondere. Reguläre Orte werden nur aktiviert, wenn alle roten Felder mit Schreibern belegt sind, während besondere Orte aktiviert werden, sobald ein Schreiber auf dem grünen Feld steht. Mit der erweiterten Aktivierung kann man die Begrenzung für einen regulären Orte umgehen.

Gesetzte Schreiber erhält man erst wieder, wenn der entsprechende Ort aktiviert wurde – so kann im ungünstigsten Fall also einiges an Arbeitskraft verloren gehen. Zusätzlich gilt es als unehrenhaft, gewisse Orte nur allein zu besetzen – man erhält also einen Schandmarker, wenn man eine Ressource komplett belebt oder als einzige*r in der Kaserne Einheiten rekrutiert. Hier wird der semi-kooperative Charakter des Spiels sehr deutlich.

Sind alle Befehle gewählt, dreht man sie um und bestimmt in Teereihenfolge, an welcher Position man seinen Befehl ausgeführt sehen möchte. Die Befehle werden der Reihe nach abgehandelt. Am Beispiel von „Arbeitet härter!“ setzt die aktive Person zwei Schreiber auf beliebige Orte. Daraufhin dürfen die anderen – natürlich in Teereihenfolge – je zwei Schreiber auf unterschiedliche Orte stellen. Im dritten Schritt kann der*die Spieler*in, der*die an der Reihe ist, eventuell erweiterte Aktivierungen durchführen.

Nun werden die Orte aktiviert – die Reihenfolge der Aktivierung bestimmt der* die Spieler*in, die den Befehl gespielt hat, innerhalb jedes Ortes gilt aber die Teereihenfolge. So kann man taktisch anderen Ressourcen vorenthalten, die sie bräuchten, um etwas zu kaufen, oder Berater*innen werden einem vor der Nase weggekauft, weil man sich in der Teereihenfolge nicht hochgekämpft hat. Das Spiel verläuft in dieser Phase teils kleinschrittig, aber niemals langweilig. Wenn Mitspielende am Zug sind, muss man immer mit aufpassen, eigene Schreiber setzen, Ressourcen erhalten, Aufseher einsetzen oder Einheiten rekrutieren. Vielleicht baut man Verteidigungsanlagen, es aktivieren sich Spezialfähigkeiten oder man erhält Ehre – das Spiel ist durchgehend spannend.

Wann immer man Horden mit Lanzenträgern oder Reitern angreift, erhält man kleine Belohnungen in Form von Ehre oder Ressourcen – Bogenschützen gehen leer aus. Horden sind besiegt, wenn alle Schwachstellen mit Wundmarkern oder Einheiten belegt sind. Die Person mit den meisten Einheiten auf der Hordenkarte erhält diese. Damit kann man entweder am Ende der Partie noch einmal Ehre erhalten, oder man baut mit ihnen Schande ab, indem erhaltene Schandmarker auf die umgedrehten Karten gelegt werden.

Nachdem alle ihre Befehle abgehandelt haben und eventuell einige Horden besiegt wurden, greifen die verbliebenen Streitkräfte an. Unter dem Beschuss der chinesischen Bogenschützen versuchen sie, die Verteidigungsanlagen zu überwinden. Gelingt ihnen ein Durchbruch, verliert man Einheiten und erhält gegebenenfalls Schandmarker, die am Ende des Spiels die eigene Ehre senken.

Die kurzen Phasen des Frühlings und Sommers geben die Möglichkeit, Befehle zu erneuern oder Schande mit Chi loszuwerden, während die Horden sich wieder bereitmachen. Der nächste Winter kommt schneller als man denkt. Das Spiel endet entweder, wenn das letzte Jahr beendet ist, der Vorrat an Schandmarkern aufgebraucht wurde oder alle Mauern auf die höchste Stufe aufgewertet wurden.

Andere Spielmodi

Für das Spiel zu zweit bekommt man einen NPC-Clan an die Hand: den Schilfclan. Dieser hat nur drei Schreiber, die nach besonderen Regeln hin- und hergeschoben werden können, und eine eigene Befehlskarte. Außerdem wird ein Mauerabschnitt geschlossen.

Schilfclan, Solo-General und Koop-Karten.

Im Solo-Modus kämpft man gegen General Qin Jiushao, der einem festgelegten Handlungsmuster folgt, und muss mehr Ehre als dieser erhalten.

Der Koop-Modus ersetzt die Artefakte durch kaiserliche Aufträge, die erfüllt werden müssen. Ansonsten wartet ein großer Berg Schande auf alle Generäl*innen. Es gibt besondere Koop-Taktiken und -Generäl*innen, die aber mit den Standardkarten zusammengemischt werden sollen. Zusätzlich werden am Ende des Winters Ereignisse gezogen, die allesamt einschneidende Auswirkungen auf das Spielgeschehen haben – zum Beispiel können die Kosten für Reiter erheblich steigen.

Ausstattung

Beim ersten Öffnen der Box wird man regelrecht von der Fülle an Material erschlagen. Im Test war die Standard-Box mit Holz-Meeple, von denen einige Macken haben. Auch die mitgelieferten Aufkleber lösen sich leider sehr schnell wieder.

Die zahlreichen Karten und Tokens sowie die Ressourcen und Wundmarker sind in einem übersichtlichen Tray perfekt organisiert. Man muss während des Spiels ständig an dieses Tray herankommen, was ein bisschen viel Herumgereiche ist. Die Ressourcen haben eine ausgezeichnete Haptik, lediglich das Gold ist im Vergleich zum blauen und leuchtenden Chi eher stumpf und unscheinbar, was schade ist.

Ein Blick in die Box.

Wunderschön illustriert sind nicht nur die Karten, sondern auch der Spielplan – wenngleich er auch seltsam gefaltet ist. Auf einer Seite ist das Spielfeld für Partien mit bis zu drei Personen, auf der anderen das bis fünf – eine Personenzahl, die es nur mit einer Erweiterung zu erreichen gibt. Auch für andere Erweiterungen finden sich Markierungen auf dem Plan. Die meisten Karten werden an den Rand des Spielplans gelegt, was besser hätte gelöst werden können, aber wahrscheinlich der Größe der Spielfläche geschuldet ist. Denn man braucht viel Platz, um The Great Wall zu spielen.

Die Barrikaden und Mauerteile muss man vor Spielbeginn zusammenbauen. Die Mauern sind einfach großartig, passen aber leider nicht mehr in die Schachtel zurück, es sei denn, man baut sie jedes Mal nach dem Spielen umständlich auseinander. Die Barrikaden hingegen zerlegen sich meist schon während des Spiels selbst.

Einmal falsch angefasst und der Spielplan nimmt Schaden.

Auf den ersten Blick ist die Box umfangreich ausgestattet, gut strukturiert aufgebaut und gerade die Mauern tragen sehr zum Ambiente des Spiels bei. Man sollte aber vorsichtig damit umgehen, denn der Spielplan nimmt schnell Schaden.

Insgesamt ist das Spielmaterial qualitativ gut und ein richtiger Hingucker.

Die Anleitung

An dieser Stelle müssen noch ein paar Anmerkungen zur Anleitung gemacht werden. Diese ist nicht nur schlecht strukturiert, sondern auch nicht einheitlich formuliert. Die wenigen Bilder helfen teils kaum, den Inhalt zu verstehen. So werden die Spielbestandteile zwar aufgelistet und benannt, aber von den Karten ist ausschließlich die Vorderseite abgebildet. Eine deutliche Beschreibung, wie man Koop-Karten von anderen Karten unterscheidet, gibt es gar nicht, sondern man muss sich selbst erschließen, dass das Symbol mit dem Handschlag diese Bedeutung hat.

Man kämpft sich durch eine Textmasse, die sich in verschiedenen Abschnitten widerspricht und muss beispielsweise im Bereich für den Koop-Modus lesen, um zu begreifen, welche Karten für ein Standardspiel gebraucht werden. Hier besteht massiver Verbesserungsbedarf – besonders, da das Problem bereits in der englischen Vorlage bekannt war.

Im Test hat es drei Spielsitzungen gedauert, bis alle Fehlerchen des Ablaufs ausgemerzt waren. Leider gibt es auch keine hilfreichen Cheat Sheets – lediglich die Innenseiten der Sichtschirme sind mit einigen Hinweisen bedruckt. Davon wiederum ist eine Angabe fehlerhaft und einen Spielablauf sucht man darauf auch vergebens. So liegt die Anleitung stetig am Tisch und es wird ohne Unterlass geblättert. Wenn die Anleitung als Sinnbild für die unüberwindbare Chinesische Mauer erstellt werden sollte, ist dies natürlich einwandfrei gelungen.

Die harten Fakten:

  • Verlag: Awaken Realms / Asmodee
  • Autor*in(nen): Kamil Cieśla, Robert Plesowicz, Łukasz Włodarczyk
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • Sprache: Deutsch
  • Spieldauer: 2-4 Stunden
  • Spieler*innen-Anzahl: 1 2 3 4
  • Alter: 14+
  • Preis: 62,99 EUR
  • Bezugsquelle: Fachhandel, Amazon, idealo

 

Bonus/Downloadcontent

Es gibt einige Erweiterungen für The Great Wall. Die Stretch Goals des Crowdfundings wurden in einer Box zusammengefasst. Damit kommt ein neuer Clan und somit die Möglichkeit auf fünf Spieler*innen hinzu. Außerdem gibt es Szenarien und neue Spielelemente (Ratte, Dschingis Khan). In der Erweiterung Uralte Geister nehmen die namensgebenden Wesen Einfluss auf das Spielgeschehen und in der Schwarzpulver-Erweiterung kommen Türme und Belagerungswaffen zum Einsatz.

Fazit

The Great Wall ist ein spannendes Worker-Placement-Spiel mit dem Potenzial, ein Dauerbrenner auf dem heimischen Spieltisch zu werden. Dafür muss man sich aber zuerst durch eine sehr schlechte Anleitung kämpfen. Im Verlauf einiger Sitzungen nähert man sich dem Spiel an und kann dann unglaublich viel Spaß damit haben.

Man kann mit einer Spielzeit von ungefähr einer Stunde pro Spieler*in rechnen, vielleicht etwas mehr. Die Altersangabe für The Great Wall könnte man als mutig bezeichnen, denn das Expert*innenspiel verlangt ein hohes Maß an Vorausplanung und beim Spiel gegeneinander auch eine Menge Frusttoleranz. Denn immer wieder torpediert man die Pläne der anderen gezielt, legt die Reihenfolgen zu deren Nachteil fest oder lässt die Schreiber lange auf ihren Einsatz warten.

Trotzdem muss man kooperieren, um nicht von den Horden überrannt zu werden und sich allzu schnell Schandmarker einzufangen, die dann in der Endwertung die mühsam erhaltene Ehre wieder reduzieren. Nicht zuletzt diese Mechanik macht das Spiel permanent spannend und fesselt die Aufmerksamkeit auf dem wunderschönen Spielplan.

Durch die zufällige Auswahl der Generäl*innen muss man sich für jedes Spiel auf neue Fähigkeiten einlassen und sinnvolle Kombinationen mit Berater*innen finden. So verändert sich die Spielweise jedes Mal und man kann das Spiel immer neu entdecken. Wem das nicht reicht, der*die kann im sehr herausfordernden kooperativen Modus oder sogar allein das Spiel ganz anders entdecken. Am besten funktioniert es aber mit drei bis vier Spieler*innen.

Mit knapp 63 EUR ist The Great Wall kein günstiges Spiel, aber mit dem Willen, die Anleitung zu überwinden, kann man sich danach auf ein langlebiges und begeisterndes Strategiespiel freuen – falls der Spielplan heile bleibt.

  • Tolles Design
  • Komplexes und herausforderndes Spiel
  • Hoher Wiederspielwert
 

  • Sehr schlechte Anleitung
  • Fragiler Spielplan

 

Artikelbilder: © Awaken Realms
Layout und Satz: Melanie Maria Mazur
Lektorat: Jessica Albert
Fotografien: Norbert Schlüter
Dieses Produkt wurde kostenlos zur Verfügung gestellt.

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