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Brettspiele sind Unterhaltung. Da haben ernste oder gar deprimierende Thematiken nichts zu suchen. Oder? Lädt nicht andererseits gerade die Interaktivität und das Erleben von Konsequenzen in Brettspielen dazu ein, nicht nur Wohlfühlthematiken zu behandeln? Die Frage polarisiert. Wir haben uns einige Gedanken dazu gemacht. 

Die Nachrichten sind voll von Katastrophenmeldungen. Wir erfahren Leid und müssen mit Krieg, Krankheit, Verlust und Tod umzugehen lernen. Da braucht es definitiv auch manchmal Zerstreuung, eine Insel des Wohlfühlens, um wenigstens für ein paar Stunden von der Welt da draußen und ihren Missständen abzuschalten.

Folgt daraus, dass man sich bei all der Ernsthaftigkeit um einen herum nicht auch noch mit ernsten Thematiken in Brettspielen auseinandersetzen will? Vielleicht aber können Brettspiele sogar genau den eigenen Umgang mit Problemen verbessern oder einen Beitrag leisten, Empathie zu fördern?

Welche Chancen hat das Medium, wenn es darum geht, schwierige Themenkomplexe zu behandeln, ist es mehr oder weniger dazu geeignet als Bücher oder Filme? Und gibt es Tabuthemen, die lieber ausgeklammert werden sollten?

Serious Games: Tod, Verlust und Emotionen

Erzählgetriebene Spiele sind im Trend. Und zum Erzählen gehören viele Aspekte, die angenehmen aber auch die unangenehmen. Zu letzterem hat sich besonders in den letzten Jahren auch ein eigenes Genre von „Serious Games“ gebildet, das sich, wie der Begriff schon vermuten lässt, ernsten Themen widmet. Dort steht also explizit nicht die rein lustige Unterhaltung im Vordergrund, es geht um Gewalt, Krieg oder Zerstörung, aber auch Depression, Armut, Krankheit oder Tod.

So schlüpfen wir in Holding on – Das bewegte Leben des Billy Kerr von Asmodee in die Rolle des Krankenhauspersonals, das sich um einen sterbenden Patienten kümmert, während der ganz normale Alltag bewältigt werden muss. Das ist gleich im doppelten Sinne starker Tobak, weil es einerseits das reale Problem der Überforderung von Pflegekräften erfahren lässt, uns andererseits auch an der Betreuung eines konkreten Einzelfalls vor Augen führt, dass unser Leben eines Tages enden wird.

Auch im ersten und zweiten Teil der Escape Tales vom KOSMOS Verlag und Low Memory sind bereits die Ausgangssituationen alles andere als heiter. In The Awakening versuchen wir als alleinerziehender Vater unsere Tochter aus dem Koma zu befreien. Erzählerisch vermittelt uns das Spiel glaubhaft die Verzweiflung, die uns nach jedem noch so zweifelhaften Strohhalm zu ihrer Rettung greifen lässt. Im Science-Fiction-Setting von Low Memory haben wir es gar mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, unter deren Gedächtnislücken wir als Spieler zu leiden haben. Das bringt nicht nur spielmechanisch interessante Möglichkeiten, sondern lässt uns erfahren, wie es sich anfühlt, wenn wir uns auf unsere Gedächtnisleistung oder unser Urteilsvermögen nicht mehr sicher verlassen können.

In Spielen wie diesen werden tabuisierte Themen wie das Ende des Lebens zum Gegenstand. Die Beschäftigung damit ist nicht angenehm, ist aber eine Chance, sich mit den Seiten des Lebens zu beschäftigen, die dieses durchaus auch bereithalten kann. Erzählgetriebene Spiele haben das Potenzial, uns ein Spiel intensiv erleben zu lassen und fesseln uns regelrecht an den Spieltisch. In erfolgreichen Spieleserien wie Detective, Undo, beide von Pegasus, oder T.I.M.E. Stories von Asmodee werden wir in der Handlung einiger Teile oftmals auch mit den Themen Gewalt, Mord, Alkoholismus, psychischen Erkrankungen, Organhandel, Missbrauch und mehr konfrontiert. Das kann auch schon mal tiefer in die Magengrube schlagen. Ist das nun gut oder schlecht?

Viel zu lesen: Erzählorientierte Spiele
Viel zu lesen: Erzählorientierte Spiele

Nicht nur WAS eines Themas, auch das WIE ist zu berücksichtigen

Die Frage, ob ein Spiel „zu“ ernst ist, ist nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten, die Art der Darstellung ist ebenso wichtig. Wird den Spielern die Möglichkeit zur kritischen Distanz gegeben? Oder eine Problematik zur Diskussion gestellt? Ist dies vielleicht sogar explizit gewünscht?

Das Abenteuerbuchspiel Der Herr der Träume von Asmodee behandelt in der rollenspielartigen Reise lebendig gewordener Plüschtiere Themen moralischer Natur, etwa zu Einsamkeit, Verlust oder dem Gefühl belogen zu werden. Am Ende jedes gespielten Kapitels gibt es passend zur gespielten Story dann eine Box mit Fragestellungen dazu, die besprochen werden können. Hier wird explizit dazu aufgefordert, ein Thema nach dem Spiel nicht „gut sein zu lassen“, sondern zum Anlass zu nehmen, in der Gruppe darüber zu sprechen. Nicht nur für Eltern mit Kindern ein sehr guter Ansatz, der zum gegenseitigen Austausch und Dazulernen anregt.

Auch lernt man dabei etwas über seine Mitspieler. Und das ist nicht unwichtig: Beim Vorschlag ein bestimmtes Spiel mit einer Gruppe zu spielen, sollte berücksichtigt werden, dass jeder Spieler individuelle Vorlieben oder auch Triggerpunkte hat. Es ist nicht jedes Thema für jeden geeignet oder angenehm, angesprochen werden sollte das vor dem Spiel allemal. Nicht zuletzt deswegen haben auch einige Brettspiele auf ihren Spielepackungen eine Triggerwarnung mit Hinweis etwa auf „verstörende“ Inhalte gedruckt.

Tabuthemen müssen nicht unbedingt absolut sein, sie können aber individuell sein.

Beispiel für eine Triggerwarnung auf der Rückseite einer Spielpackung
Beispiel für eine Triggerwarnung auf der Rückseite einer Spielpackung

Historischer Kontext in Spielen

Wie wichtig die Art der Darstellung in einem Spiel ist, zeigen auch Brettspiele mit historischem Bezug sehr gut. Ist eine historische Begebenheit nur der Aufhänger für ein mechanisch verlaufendes Brettspiel oder hat es den Anspruch, uns vergangene Geschichte selbst erleben zu lassen?

Im Strategiespiel The Manhattan Project müssen die Spieler eine Atombombe bauen und damit die meisten Siegpunkte sammeln. Dies spielt sich als klassisches Worker-Placement-Spiel, bei dem man sich kaum mit dem Thema selbst auseinandersetzt. Dennoch müssen sich die Spieler hier die Frage stellen, ob sie in der Lage sind, Zerstörung, Schrecken und Opfer von atomaren Kriegen auszublenden und das Spielziel ähnlich abstrakt behandeln wie den Königsmord im Schach.

Man kann durchaus auch kritisch anmerken, dass dem Spieler leider nicht viel Möglichkeit zur kritischen Distanz gegeben wird. Die Spielmechanik und nicht die moralische Tragweite der Entscheidung zum atomaren Wettrüsten steht im Vordergrund. Eine verpasste Chance? Hierüber lässt sich geteilter Meinung sein.

Ebenfalls dem Gleichgewicht des Schreckens und dem Kalten Krieg widmet sich 13 Tage von Frosted Games. Die Spieler erleben die Kubakrise von 1962, in der die Welt tagelang am Rande des dritten Weltkriegs schwebte, am eigenen Leibe in den Rollen des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy und seines russischen Pendants Nikita Chruschtschow. Ausgangspunkt der Krise war die Stationierung von russischen Atomraketen auf Kuba, die innerhalb weniger Minuten große US-Metropolen hätten erreichen können und die USA unter Zugzwang setzten.

Auch wenn die historische Realität geschehen ist, gibt 13 Tage dem Spieler doch die Möglichkeit, die Geschichte interaktiv zu erleben und stellt ihm die Frage: „Was hätte ich in dieser Situation getan?“ mit all ihren Unzulänglichkeiten. Es zeigt, wie komplex die friedliche Beilegung eines Konfliktes sein kann, Diplomatie ist nicht einfach.

Die Auseinandersetzung geschieht hier auf eine intensivere Art und Weise als im vorher genannten Spiel, da das Thema den absoluten Kern des Spiels bildet und nicht nur den Aufhänger für ein Strategiespiel.

13 Tage von Frosted Games
13 Tage von Frosted Games

Daher bietet die interaktive, spielerische Auseinandersetzung in Brettspielen einerseits die Chance, Geschichte nicht nur trocken als „ist doch eh alles Vergangenheit“ zu erleben.

Daher ist die spannende Frage weniger, welche Themen man aus Brettspielen komplett ausklammert, sondern eher, ob es gelingt, den Spielern schwierige Themen aus einer neuen Perspektive aufzubereiten.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Unser Blickwinkel auf das Spielgeschehen ist gerade in Brettspielen besonders interessant, da wir dort selber agieren, statt nur passiv einem Detektiv oder Ermittler über die Schulter zu schauen. Dies eröffnet uns ganz neue Perspektiven. Ein und die gleiche Situation aus einer anderen Sichtweise zu erleben, bewirkt eine gewaltige Veränderung der Einschätzung einer Situation.

Demzufolge ist bei der Frage, wie ernst Brettspiele sein dürfen, nicht nur das Thema entscheidend, sondern auch die Betrachtung der Rolle, die dort der Spieler einnimmt.

Nehmen wir beispielsweise das Thema Krieg. Der Klassiker Risiko simuliert kriegerische Auseinandersetzungen um die Vormachtstellung auf der Welt. Es wird erobert und zurückerobert mit Fokus auf die taktischen Erwägungen. Man trifft seine Entscheidungen „von oben herab“ in der Rolle des Kriegsherren, der nicht selbst in der Schlacht kämpft, sondern die Truppen delegiert.

Anders die Brettspielumsetzung des Videospiels This War of Mine von Asmodee. Auch hier herrscht Krieg. Wir als Spieler sind jedoch ganz und gar nicht in der Rolle von Befehlshabern, sondern „unten“, wir versetzen uns in die Rolle der leidtragenden Bevölkerung als eine Gruppe von Zivilisten, die versucht in der bitteren Realität von Tod und Zerstörung zu überleben. Das ist schwer genug. Wir kämpfen gegen Hunger, Kälte und Verletzungen und spüren in vielen kleinen Situationen die Ohnmacht unserer Position.

This War of Mine Brettspiel
This War of Mine Brettspiel

Denn der Drang zum Überleben zwingt oftmals zum Überwinden von moralischen Grundsätzen, das führt uns This War of Mine hart, wenn auch realistisch vor Augen. Stößt man beim nächtlichen Plündern einer fremden Speisekammer auf Lebensmittel, wird uns die Entscheidung überlassen: Stehlen oder nicht stehlen? Dies geschieht oftmals auch mit Kommentar über die mögliche Handlung: „Sollen wir das Essen nehmen? Aber dann wird jemand anderes verhungern?“ Hier stecken die Spieler direkt in der Situation drin und erleben die Gefühle von Traurigkeit oder dem schlechten Gewissen selbst. Und für alle Menschen, für die Krieg glücklicherweise doch weit weg ist, wirft es gesamtgesellschaftliche Fragen auf: „Helfe ich jemand Anderem oder zunächst mir selbst?“

Somit ist längst nicht nur das Thema des Spiels entscheidend für die Art des Spielerlebnisses, sondern auch der Grad der Intensität, mit dem dieses Thema an die Spieler herangetragen wird. Eher abstrakt? Eher konzentriert auf Taktik oder mit den moralischen Zwickmühlen im Fokus?

Das hat ein Nachspiel: Die Folgen unseres Tuns

Apropos Zwickmühle: Brettspiele lassen uns die Schwierigkeit von Entscheidungen am eigenen Leib spüren. Oftmals gibt es gar keine richtige Entscheidung, sondern nur eine, die wir von einem gewissen Standpunkt aus als bestmögliche Entscheidung einschätzen. Und wir können uns auch irren. In den Verhandlungen mit einem Geiselnehmer fordert Der Unterhändler von Frosted Games eine schwerwiegende Entscheidung nach der nächsten von uns. Der Grat zwischen sanftem Unterdrucksetzen, um die gefangenen Geiseln zu befreien, und Provokation ist schmal. Und führt uns vor Augen, dass ein kleiner Fehler genügt, damit ein Menschenleben endet. 

Auch Legacy-Spiele, bei denen man in einer Partie auf vorigen Partien aufbaut, zeigen uns, dass die Zukunft buchstäblich auf der Vergangenheit aufgebaut ist. So ist im Verhandlungsspiel The King’s Dilemma von HeidelBÄR Games der Name Programm. Entscheidungen über ein ganzes Volk zu treffen, klingt nach berauschender Macht, kann sich aber anfühlen wie eine Ansammlung von Zwickmühlen. Und dazu kommt, dass man seine Entscheidungen nicht alleine trifft, sondern Kompromisse mit anderen Mitspielern trifft und auch mal überstimmt wird. In Pandemic Legacy von Asmodee sehen wir uns sogar mit dem Verlust unserer Spielcharaktere konfrontiert, die das Spiel dann für alle weiteren Partien verlassen müssen.

Winter der Toten Brettspiel
Winter der Toten Brettspiel

Im postapokalyptischen Zombiespiel Winter der Toten oder dem Science-Fiction-Titel Gen7 mit dem Ziel einen fernen Planeten zu erreichen (beide Spiele von Asmodee), legen die Spieler sogar die Handlung als solche fest, so dass sich kein Durchlauf wie der letzte spielt, wenn die Entscheidungen in den verschiedenen Situationen unterschiedlich ausfallen.

Die Chancen von ernsten Spielen

Interaktive Medien wie Spiele lassen uns selbst handeln, statt nur zuzusehen. Wir haben unser Schicksal in der Hand. Genau darin liegt die einmalige Chance der Interaktivität. Spiele bieten die Möglichkeit, uns auszuprobieren, indem wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen zwar nicht real, aber durchaus emotional zu spüren bekommen. Denn die Emotionen, die wir durchleben, fühlen sich oftmals sehr echt an und bieten eine breite Palette nicht nur schöner Empfindungen.

Sei es die Frustration und das Bereuen, wenn man die Konsequenzen einer falschen Entscheidung spürt: „Hätte ich mich in der Situation doch anders entschieden!“, oder das Mitfiebern und Mitleidempfinden mit den fiktiven Charakteren, die einem ans Herz wachsen. Auf diese Art und Weise können Brettspiele mit ernsthaftem Hintergrund aufgeschlossenen Spielern auch ohne erhobenen Zeigefinger eine neue Sichtweise eröffnen. Ob das gelingt oder nicht, hängt vom Einzelfall ab, das Potenzial ist aber vorhanden.

Die Frage, ob man sich aber auf so eine intensive Erfahrung einlassen möchte und Spiele als einen geeigneten Rahmen dafür betrachtet, muss am Ende jeder Spieler selbst beantworten.

Titelbild: © Frosted Games, © Asmodee
Fotografien: © Thekla Barck

Layout und Satz: Roger Lewin
Lektorat: Katrin Holst

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