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Erfolgreiche Brettspiele erscheinen immer häufiger auch als digitale Variante. Doch der umgekehrte Fall ist ebenfalls keine Seltenheit mehr: Video- und Computerspiele schaffen den Sprung aus dem Bildschirm an den heimischen Brettspieltisch. Und dabei kommt mehr heraus als nur Monopoly mit Pokémonfiguren! Wie sehen Videospielmechanismen in Brettspielen aus?

Dass viele Brettspiele längst im Zeitalter der Digitalisierung angekommen sind, ist unbestritten. Nicht nur Klassiker wie Carcassonne, Zug um Zug oder Pandemie machen auch auf den Bildschirmen von Rechnern, Tablets oder Smartphones Spaß und lassen sich sowohl alleine als auch über das Internet mit anderen Spielern erleben. So erschließen die digitalen Ableger der Brettspiele mitunter sogar neue Zielgruppen aus allen Altersklassen.

Aber das ist nur die eine Seite der Medaille, analoge Brettspiele sind kein Totholz, im Gegenteil: Quer durch alle Genres von Video- oder Computerspielen gibt es Brettspielumsetzungen von digitalen Spielen. Aufbauspiele wie Sid Meier’s Civilization oder Cities: Skylines, Adventure-Games wie The Witcher, Shooter wie DOOM oder Fallout, Appspiele wie Plague Inc., Strategiespiele wie XCOM, erzählgetriebene, ernste Spiele wie This War of Mine, und so weiter. Die Liste ist lang.

Wie aber funktioniert das Ganze? Welche Mechanismen sind in Brettspielen anders als in digitalen Spielen? Wie ersetzt man die Künstliche Intelligenz eines Computers im Brettspiel?

Die Umsetzungsmöglichkeiten sind vielfältig, vielleicht sind Brett- und Computerspiele am Ende gar nicht so unterschiedlich? Wohingegen sich manch eine Mechanik wie Teile zusammenpuzzeln und in beiden Welten recht ähnlich umsetzen lässt, müssen manchmal kreativere Ideen her. Wir haben uns angeschaut, welche aus Computerspielen bekannten Spielmechaniken sich auch in ähnlicher Art im Brettspiel wiederfinden lassen.

Das Element des Zufalls

Ein zentrales Element von Spielen insgesamt ist der Zufall. So viel Spaß planvolles Taktieren auch macht, für den Wiederspielwert und den Chancenausgleich vieler Spiele eignet sich der Faktor Glück ganz hervorragend. Welcher Gegner erscheint? Wie verheerend ist mein Schwerthieb? Zufallsauswahlen, die ein Computer für den Spieler trifft, werden in Brettspiele auf verschiedene Arten umgesetzt, etwa mit den guten, alten Würfeln, wie zum Beispiel im Dungeon-Crawler Massive Darkness von Asmodee. Gewinne ich den Kampf oder nicht? Ich würfle und schaue mir an, ob das Ergebnis ausreicht.

Ein anderer Mechanismus für den Zufall sind Kartenstapel. Gut mischen und man weiß nicht genau, was man als nächstes ziehen wird. Das erzeugt Zufallsbegegnungen, legt verfügbare Aktionen für die Runde fest, lässt Mitspieler, Gegner oder nicht spielbare Charaktere „spawnen“ (auf dem Spielfeld erscheinen) oder legt sogar den Schwierigkeitsgrad der Spielpartie fest. Bei SubTerra vom Schwerkraft Verlag, und anderen kooperativen Spielen, werden je nach gewünschtem Schwierigkeitsgrad der Partie mehr oder weniger „schlechte Karten“ mit Gefahren oder Monstern gemischt. Die Wahrscheinlichkeit in Probleme zu kommen wird dadurch größer. Kartenstapel und deren zufällige Aktionsabhandlung bieten somit eine gute Möglichkeit den Spielern das Gefühl zu geben „gegen das Spiel“ anzutreten.

Interaktives Welterkunden

Schau dich im Raum um, kombiniere Hamster mit Mikrowelle … Zeilen, die man so nur aus Point-and-Click-Computerspielen kennt? Nicht ausschließlich. Auch Brettspiele können den Spielern die Möglichkeit geben, die Welt zu erkunden und Entscheidungen zu treffen. Es gibt die Möglichkeit zum Führen eines Inventars mit Gegenständen oder zum Erkunden von Räumen. Das analoge Prinzip ist lediglich etwas anders in der Handhabung.

Die storygetriebene Reihe Adventure Games vom Kosmos Verlag entführt die Spieler an verschiedene Orte, etwa ein dunkles Verlies, an denen sie durch Erkundung und Interaktion vorankommen müssen. Das alles funktioniert mithilfe des sogenannten Abenteuerbuches: Gegenstände, mehrere Arten von Kombinationen und Punkten in den Räumen, die untersucht werden können, sind jeweils einer Zahl zugeordnet, die eine entsprechende Stelle im besagten Abenteuerbuch haben. Auf diese Art und Weise können die Spieler außerdem Entscheidungen treffen und je nach Auswahl beim entsprechenden Absatz die Konsequenzen nachlesen.

In den Adventure Games von Kosmos lassen sich Gegenstände aufsammeln und miteinander oder der Spielwelt kombinieren.

Auch diverse Spiele mit Escape-the-Room-Mechanik, etwa Unlock! oder 50 Clues erinnern mit einer solchen Mischung aus Gegenstandskarten und Kombinatorik-Puzzles sehr an Point-and-Click-Adventures. Bei Chronicles of Crime lassen sich die gefundenen Gegenstände weiter untersuchen oder Personen zeigen.

Gegen das Spiel spielen

Apropos gegen das Spiel: Der Trend zu kooperativen Brettspielen ist allgegenwärtig; alle zusammen gegen den oder die Gegner. Moment mal, Gegner? Bei Computerspielen übernimmt eine mehr oder weniger fähige Künstliche Intelligenz die Rolle des Gegners oder der Gegner und bestimmt dessen Handlungen. Wie wird dies in analoger Unterhaltung umgesetzt? Dort müssen wir als Spieler aktiv werden und regelmäßig nicht nur unsere eigenen Züge setzen, sondern ebenso für das „Spiel spielen“.

Etwa in Horrified von Ravensburger, wo beliebte Monster-Kreaturen wie Dracula oder Frankenstein mit einem kooperativen Brettspiel gewürdigt werden – im Stil alter Filme aus den 1930er bis 1950er Jahren. Nach dem Zug eines Spielers muss dieser noch eine weitere Phase, die „Monsterphase“, spielen. Eine zufällige Karte wird von einem Stapel gezogen und abgehandelt, womit sich Monster näher zu den Spielern und Dorfbewohnern hinbewegen oder sogar mit der Stärke von Würfelwürfen angreifen.
Die Künstliche Intelligenz der Gegner im Dungeon-Crawler-Giganten Gloomhaven wird hingegen ganz ohne Würfel über Kartendecks gesteuert, die Angriff, Fähigkeiten und Beweglichkeit der Monster enthalten.

Alles im Gleichgewicht (?) – Es ist nicht einfach als Bürgermeister von Cities: Skylines

Aber nicht immer gibt es einen „realen“ Gegner, wie Monster oder Krieger, oftmals liegt die Herausforderung darin die Balance des Spiels zu erhalten. So auch im kooperativen Spiel Cities: Skylines vom Kosmos Verlag, entwickelt nach dem erfolgreichen PC-Aufbauspiel. Die Spieler müssen gemeinsam unbebaute Flächen puzzleartig besetzen, das spielt sich jedoch schwieriger als es sich anhört. Denn jedes errichtete Gebäude sorgt für Wechselwirkungen. Erhöhen wir die Energie und nehmen dafür die höhere Umweltbelastung in Kauf?

Manchmal liegt die Herausforderung also nicht allein am Glücksfaktor oder der Übermacht eines Monstergegners, sondern an unseren Spielentscheidungen und der Abwägung aller Wechselwirkungen.

Highscore-Jagden und Kräftemessen

Wer ist der Beste? Nicht immer will man sich der Herausforderung gemeinsam stellen, manchmal hat man Lust auf ein Kräftemessen mit anderen Spielern! Die Jagd nach den meisten Punkten ist nicht nur das bekannte Gewinnprinzip, nachdem die Highscoretabellen alter Videospielautomaten funktionieren, eine ganze Menge an Brettspielen kürt den Sieger

In Video Game High School müssen wir anderen Spielern zuvorkommen, um viele Punkte zu verdienen.

nach der höchsten Anzahl gesammelter Siegpunkte. Und die Jagd nach dem ultimativen Highscore funktioniert sogar als Solospiel, etwa in Feuer frei! – einer netten Kartenspielversion vom Arcade-Klassiker Space Invaders.

Häufig steuert die Aussicht auf zu gewinnende Punkte in digitalen wie analogen Spielen die Aktionen der Mitspieler. So auch in Video Game High School von Plaid Hat Games, bei dem wir es buchstäblich mit einem Brettspiel über das Erlernen von Videospiel-Skills zu tun haben! Mega meta!

Neben viel liebevoller Pixeloptik gibt es auch hier den Faktor Highscore: Bestimmte Felder werden mit jedem Zug, in dem sie von keinem Spieler benutzt wurden, wertvoller – bis einem Spieler die verlockenden Bonuspunkte zu hoch werden und er zuschlägt.

Level up! Spielen als kontinuierlicher Verbesserungsprozess

Sich selbst und andere herauszufordern kann man immer auch als Teil einer Entwicklung betrachten.

Sowohl bei Brett- als auch Computerspielen ist die eigene Entwicklung, beziehungsweise die des gespielten Charakters, oftmals ein Antrieb für das Spielen an sich. Zugegeben, eine Computersteuerung nimmt das leidige Hinzurechnen von Erfahrungspunkten und Errechnen neuer Werte und Verbesserungen dankenswerter Weise zu großen Teilen, ab, dennoch macht das Aufleveln auch analog viel Spaß.

Beispiele hierfür sind nicht nur zahlreiche Pen&Paper-Rollenspiele, sondern auch viele strategische Abenteuerspiele, wie die Reihe Zombicide von Asmodee, in der man nicht nur die Charakterwerte, sondern auch die Ausstattung mit Waffen, Rüstungen und Gegenständen im fortschreitenden Spielverlauf verbessern kann. Auch in Munchkin von Pegasus kann der Spieler im Laufe der Partie Level aufsteigen und diese auch zur besseren Übersichtlichkeit in separat erhältlichen Level-Countern nachhalten.

Den Spielstand sichern

Lust zum Zocken? Konsole an, Spielstand vom letzten Mal laden, los geht’s! Lust auf ein Brettspiel? Packung auf, Spielstand vom letzten Mal herstellen, los geht’s! Wirklich? Ja, wirklich! Immer mehr Brettspiele sind so komplex und zeitintensiv, dass ein Abend nicht ausreicht, um das Ende zu erreichen. Während man bei Computerspielen abspeichern kann, um bei der nächsten Sitzung wieder dort weiterzumachen, wo man aufgehört hat, ist das bei Brettspielen nicht ganz so einfach. Das Spiel aufgebaut liegen lassen bis zum nächsten Mal? Nicht immer eine Möglichkeit. Aber es gibt Abhilfe: Einige Spiele lassen sich so in der Packung verstauen, dass man die Teile bei der nächsten Partie wieder hervorholen kann, ohne etwas durcheinandergebracht oder verloren zu haben.

In T.I.M.E. Stories sind Spielunterbrechungen kein Problem.

Ein Beispiel dafür ist T.I.M.E. Stories von Asmodee. Ein Szenario kann länger dauern, daher lassen sich alle notwendigen Informationen zum Zeitpunkt der Unterbrechung „abspeichern“. Welcher Charakter hatte welche Gegenstände im Inventar? Wieviel Zeit hatte die Truppe noch? Welche Orte wurden noch nicht entdeckt? Es gibt verschiedene Felder im Inlay der Verpackung und eine Erläuterung zum Wiederhervorholen des Spielmaterials. A King’s Dilemma, 7th Continent oder Tainted Grail sind weitere Beispiele für dieses Prinzip.

Spielgestaltung

Auch wenn es sich nicht unbedingt um einen Mechanismus für die Spielumsetzung handelt, aber auch die Optik eines Spieles erinnert oftmals an Computergrafiken. Nicht nur bei den Ablegern von Videospielen selbst, etwa bei der semi-kooperativen Brettspielvariante von Asmodees Fallout, in der der berühmte „Vault-Look“ entscheidend wichtig für den Wiedererkennungswert ist und somit für das ganze Feeling des Spiels verantwortlich zeichnet.

Witzig und nostalgisch gestaltet: Die 8Bit Box

Und erinnern die knuffigen Männchen und isometrischen Häuser in Imperial Settlers nicht sehr an Aufbauspiele à la Die Siedler – den Klassiker für den PC?

Manch ein Brettspiel nimmt direkt mit auf eine Videospiel-Zeitreise in die 80er Jahre, als Spielkonsolen anfingen populär zu werden. So ein Fall ist die 8Bit Box von Iello, die in ihrer ganzen Aufmachung an eine alte Spielekonsole erinnern soll. Angefangen bei Papp-Controllern zur Steuerung der Figuren über die „Module“, die das Spielmaterial verschiedener Spiele beinhalten (wie einen analogen Pac-Man-Ableger!), bis hin zu aufgedrucktem Anschaltknopf und Anschlussbuchsen.

Die Grenzen verschwimmen

Es werden längst nicht nur digitale Spiele in Brettspiele konvertiert, sondern auch digitale Programme, etwa zur besseren Lebensführung. Beispielsweise Fortune City, eine App, mit der man seine persönlichen, finanziellen Ausgaben auf eine spaßige statt trockene Weise nachhalten kann – das Prinzip der Gamification macht die eigene Finanzbuchhaltung zu einem Städteaufbauspiel. Dazu ist bei Big Fun Games ein gleichnamiges Brettspiel erschienen.

Andere Spiele ahmen kein Videospiel direkt nach, kokettieren aber ganz bewusst mit dem

Von der Finanz-App zum Brettspiel: Fortune City

Genre und der Herausforderung, digitale Spielerfahrungen analog zu transportieren. Dies tut etwa Adrenaline von Czech Games Edition, das sich ganz bewusst an passionierte Gamer richtet. Das farbenfrohe Brettspiel simuliert das hektische „Geballer“ von Ego-Shootern und spart dabei nicht mit Szenebegriffen wie „Headshot“, „Power-Up“, „Multikill“ und vielen anderen. Auch The Battle at Kemble’s Cascade von Z-Man Games orientiert sich in Spielziel und Gestaltung am Vermächtnis von Videospielen und deren Eigenheiten, etwa am genretypischen Sidescroll-Leveldesign. Und natürlich gibt es auch Bossfights!

Und bei manchen Brettspielen sind digital und analog überhaupt nicht mehr voneinander zu trennen. Einige sind ohne dazugehörige App gar nicht zu spielen. Auch wenn die Frage im Raum steht, wie viele Jahre der Service einer App oder Webseite erhalten bleiben wird und ob man seine Hybridbrettspiele auch in zwanzig Jahren noch spielen können wird, sind die Möglichkeiten dennoch faszinierend.

Nicht ohne meine App: Die notwendige Unterstützung zum XCOM Brettspiel

Die Brettspielumsetung vom kooperativen Strategiespiel XCOM, erschienen bei Asmodee, benötigt eine Companion-App. Sie beinhaltet nicht nur Regeln und Tutorial, sondern steuert Schwierigkeitsgrad und reagiert auf Spielereignisse in Echtzeit, etwa wenn sich die Spieler zu lange Zeit lassen. Das schafft durchaus Atmosphäre, einerseits durch zusätzliche visuelle und bewegliche Elemente und einen stimmungsvollen Soundtrack, andererseits auch durch den Zeitdruck.

Andere Brettspiele bieten den Einsatz der App nur optional an, wie das ebenfalls kooperative Rising 5 von Portal Games, in dessen Spielverlauf die Spieler immer wieder Codes entschlüsseln müssen. Die App nimmt uns das Entschlüsseln ab und hilft bei der Lösung. Allerdings kann diese Rolle auch ein Spieler ohne Smartphone-Hilfe übernehmen, dieser kann jedoch dadurch selbst nicht mehr aktiv am Abenteuer teilnehmen.

Hauptsache spielen

Kreativität kennt keine Grenzen, das gilt auch für Spiele. Wenn sich Designwelten miteinander vermischen, kann etwas Wunderbares dabei herauskommen. Nicht immer sind die Mechaniken eines Videospiels 1:1 in ein analoges Brettspiel zu übertragen, aber gerade diese Herausforderung, den Geist einer digitalen Spielwelt einzufangen und mit gedruckten Karten, Meeples und frischen Ideen neues Leben einzuhauchen, macht es für Spielautoren und natürlich auch für uns Spieler so interessant.

Die Frage „Gamer oder Brettspieler?“ beantworten wir mit einem entschlossenen: „Beides!“

Artikelbilder: © Thekla Barck
Layout und Satz: Annika Lewin
Lektorat: Sabrina Plote

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